Ein Brite in Japan

Chris Broad erzählt in „Abroad in Japan“ von seinen „Erfahrungen bei der Erkundung einer Kultur und seiner unablässigen Selbstdemütigung“

Bis zu die­sem Au­gen­blick hat­te mich mein Stolz dar­auf, für das JET-Pro­gramm aus­ge­wählt wor­den zu sein, zu der Vor­stel­lung ver­führt, ich wä­re et­was Be­son­de­res. Doch als ich nun in der Lob­by des Keio Pla­za Ho­tels stand als ei­nes von tau­send frem­den Ge­sich­tern, däm­mer­te mir, dass ich nur ein win­zi­ges Räd­chen in ei­ner wohl­ge­öl­ten Ma­schi­ne­rie war.“

Der Au­tor die­ses Ja­pan­buchs, Chris Broad, kam 2012 erst­mal in das Land. Aus­ge­wählt vom „Ja­pan Ex­ch­an­ge and Tea­ching Pro­gramm“ soll­te er ja­pa­ni­sche Leh­rer beim Eng­lisch-Un­ter­richt un­ter­stüt­zen. Mitt­ler­wei­le lebt er im­mer noch in Ja­pan und dreht Do­ku­men­tar­fil­me. Be­rühmt wur­de er, ins­be­son­de­re in sei­ner neu­en Hei­mat, durch sei­ne You­Tubes über sei­ne Er­leb­nis­se in dem an­fangs für ihn so frem­den Land. In „Ab­road in Ja­pan“ lie­gen die­se nun in li­te­ra­ri­scher Form vor.

All‘ das wuss­te ich nicht, als ich zu dem Buch griff. Der Ti­tel weck­te in mir Er­in­ne­run­gen an die Rei­se­be­rich­te von Mark Twa­in und Bill Bry­son. Der Ver­gleich liegt na­he, nicht nur, was den Ti­tel an­geht. In iro­ni­schem Ton, der sich selbst als Ziel des Spotts kaum aus­spart, schil­dert Broad sei­ne Be­geg­nun­gen mit der ja­pa­ni­schen Kul­tur. Wir be­glei­ten ihn bei sei­nem Be­mü­hen, mit die­ser ver­traut zu wer­den, über zehn Jah­ren hinweg.

Den größ­ten Teil neh­men sei­ne drei Jah­re als Leh­rer an der Saka­ta Se­ni­or High in der Prä­fek­tur Ya­ma­ga­ta ein. Es folgt sein Weg in die Selbst­stän­dig­keit. Zu­nächst dreht Broad Vi­de­os für ei­ne Tou­ris­mus­agen­tur, dann Do­ku­men­tar­fil­me über den Wie­der­auf­bau nach der Fu­ku­shi­ma-Ka­ta­stro­phe. Zwi­schen­durch ver­öf­fent­licht er im­mer wie­der You­Tubes, so über die Scho­ko-Pom­mes von McDonald’s oder über den Test­flug ei­ner nord­ko­rea­ni­schen Interkontinentalrakete.

Die Lek­tü­re ist un­ter­halt­sam wie in­for­ma­tiv, amü­sant und den­noch fein­füh­lig, denn Board ge­lingt es, die Aben­teu­er in der Fer­ne mit Ein­sich­ten in sich selbst zu ver­bin­den. Selbst­iro­nie prägt sei­nen Blick, er stellt sich nicht über das zu­wei­len ver­stö­ren­de Un­be­kann­te, son­dern dar­auf ein. Ei­ne die­ser Her­aus­for­de­run­gen ist die Sprach­bar­rie­re auf bei­den Sei­ten. Chris spricht kein Ja­pa­nisch, die meis­ten Eng­lisch-Leh­rer, de­nen er be­geg­net, kaum Eng­lisch. „So an­ge­nehm die meis­ten mei­ner Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auch wa­ren, of­fen­bar ge­hör­te es nicht zur Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zung ei­nes Eng­lisch­leh­rers in Ja­pan, auch Eng­lisch zu spre­chen.(…) Mir wur­de klar, dass mei­ne üb­li­che spöt­ti­sche, sar­kas­ti­sche Sprach­per­sön­lich­keit, an­ge­füllt mit Me­ta­phern und bri­ti­schem Non­sens-Slang, hier un­an­ge­bracht war. Um kom­mu­ni­zie­ren zu kön­nen, muss­te ich mein Vo­ka­bu­lar dras­tisch ver­ein­fa­chen – was da­zu führ­te, dass ich noch lang­wei­li­ger wirk­te, als ich oh­ne­hin schon bin.“

Als Leh­rer un­ter­rich­tet Chris auch au­ßer­halb der Schu­le und ge­langt so an ei­nen Sprach­kurs, des­sen Mit­glie­der sei­ne ers­ten pri­va­ten Kon­tak­te wer­den. „Der Hö­he­punkt des ei­kai­wa je­den Mo­nats wa­ren die Haus­par­tys, die Na­o­ko oder ei­ne der an­de­ren äl­te­ren Da­men der Grup­pe ver­an­stal­te­ten. Wir tra­fen uns al­le und brach­ten selbst ge­ba­cke­nen Ku­chen und Snacks mit, die wir dann ge­nüss­lich ver­speis­ten. Das war nicht nur ei­ne deut­lich bes­se­re Ku­lis­se als die ste­ri­le Stadt­hal­le, son­dern die Ein­la­dung in die Woh­nung der Kurs­teil­neh­me­rin­nen gab mir auch das Ge­fühl, in die ört­li­che Ge­mein­schaft in­te­griert zu sein. Mit ei­nem Mal war ich nicht mehr der geis­ter­haf­te Frem­de, der al­lein durch die Stra­ßen zog, son­dern eher ein Teil der Gemeinschaft.“

Ei­ner der Teil­neh­mer wird ihn spä­ter beim Ja­pa­nisch-Ler­nen un­ter­stüt­zen. Denn ob­gleich Chris sich in sei­nem ers­ten schnee­rei­chen ja­pa­ni­schen Win­ter un­zäh­li­ge Kan­ji-Zei­chen ein­prägt und im All­tag stets von der Spra­che um­ge­ben ist, fällt es ihm schwer, sie an­zu­wen­den. Das mag auch an der Ge­sprächs­kul­tur der Ja­pa­ner lie­gen. „Das ja­pa­ni­sche Sprich­wort »Es ist bes­ser, vie­le Din­ge un­aus­ge­spro­chen zu las­sen« fasst das chin­mo­ku wun­der­bar zu­sam­men. In Ja­pan ist Schwei­gen al­les an­de­re als un­an­ge­nehm, son­dern viel­mehr Teil des täg­li­chen Umgangs.“

Ge­prägt von Hier­ar­chie und so­zia­ler Kon­trol­le zei­gen sich vie­le dem Frem­den ge­gen­über zu­rück­hal­tend. Sein aus­tra­li­scher Kol­le­ge Roy und al­ko­ho­li­sche Ge­trän­ke wir­ken je­doch als Brü­cken­bau­er. So ent­wi­ckeln sich in ei­ner Knei­pe beim Fei­er­abend-Bier die ers­ten Un­ter­hal­tun­gen und bei der gro­ßen Fei­er am Jah­res­en­de spre­chen ihn plötz­lich die Kol­le­gen frei­mü­tig an. „Im Lau­fe der Jah­re ha­ben wir durch je­de Men­ge Spio­na­ge­fil­me ge­lernt, dass der si­chers­te Weg, um je­man­dem die Wahr­heit zu ent­lo­cken, ei­ne Sprit­ze mit Thio­pen­tal ist – und schon of­fen­bart der Be­trof­fe­ne sei­ne tiefs­ten, dun­kels­ten Ge­heim­nis­se. In Ja­pan braucht man da­zu nur zwei Glä­ser Bier.“ 

Ne­ben die­sen lehr­rei­chen In­for­ma­tio­nen über Ja­pan, zu de­nen zählt, daß ein Arzt­be­such meist mit dem Kon­sum ei­ner In­fu­si­on ein­her­geht, lie­fert Broad auch Amü­san­tes. Sei­en es die Kon­fron­ta­ti­on mit Köst­lich­kei­ten aus dem Bauch des Tin­ten­fischs, die Vor­zü­ge ei­nes Kei-Car und der Trick ein eben­sol­ches ge­schickt und oh­ne Schau­fe­lei aus ei­ner Schnee­we­he zu ma­nö­vrie­ren. Na­tür­lich fin­det sich auch Er­wart­ba­res, wie die „Stra­ßen­schuh-Ver­bots­kul­tur“ oder das auf Gar­tem­pe­ra­tur ge­brach­te Was­ser ei­nes On­sen. Und wer nicht mehr la­chen mag, kann sich ge­nüss­lich über die En­ge ei­ner Schlaf­kap­sel gruseln.

Da un­ser Ja­pan-Bumm­ler in den Jah­ren al­le 47 Prä­fek­tu­ren be­reist, kom­men­tiert und ge­filmt hat, ha­ben auch Flo­ra und Fau­na ih­ren Auf­tritt. So be­geg­net Broad wie einst Bill Bry­son ei­nem Bä­ren so­wie ei­ner un­gleich grö­ße­ren An­zahl von mehr oder we­ni­ger be­rühm­ten Kat­zen. Der Biss in ei­ne der schöns­ten und teu­ers­ten Erd­bee­ren Ja­pans und so­mit zu­gleich der Welt mag als Ent­schä­di­gung für die­se Bes­ti­en in­ter­pre­tiert wer­den. Ge­nau­so wie Broads Be­mü­hun­gen um In­te­gra­ti­on in das Land der auf­ge­hen­den Son­ne ih­ren Lohn in der Freund­schaft zu ei­nem Ja­pa­ner finden.

Chris Broad, Abroad in Japan. Meine Abenteuer im Land der aufgehenden Sonne, übers. v. Jörn Pinnow, Kiepenheuer&Witsch 2025

Gastrosoph in süßen Gefilden

Hanns-Josef Ortheil bereist „Die Insel der Dolci“ niemals ohne Notration

Nie soll die­se Ver­sor­gung en­den, das Sü­ße ist in al­len For­ma­ten und For­ma­tio­nen prä­sent, es ist da­für ge­sorgt, dass es ei­nen den gan­zen Tag be­glei­tet und je­der­zeit zur Hand ist. (…)
Gu­te Si­zi­lia­ner ha­ben, wenn sie un­ter­wegs sind, im­mer so ei­ne Do­se bei sich (…)
Ver­sorgt man sich mit die­sen De­li­ka­tes­sen, kann man sich je­weils vor Ort ei­ne ei­ge­ne Dol­ci-Ver­pfle­gung zu­sam­men­stel­len. Man braucht da­zu nur et­was tro­cke­nes und gut halt­ba­res Ge­bäck, das sich dann leicht mit den Kon­fi­tü­ren, Mar­me­la­den und Ge­lees ver­bin­den lässt. (…)
So wird der Dol­ci-Es­ser zu sei­nem ei­ge­nen Kom­po­si­teur und Ar­ran­geur, der sich sei­ne Dol­ci aus vor­han­den Grund­sub­stan­zen (tro­cke­nes, ein­fa­ches Gebäck/ kon­zen­trier­te Frucht­zu­ta­ten) im ei­ge­nen Dol­ci-La­bo­ra­to­rio in ganz un­ter­schied­li­chen Ge­schmacks­va­len­zen selbst zusammenstellt.“

Wä­re Hanns-Jo­sef Ort­heil ei­ne Fi­gur in Eck­hart Ni­ckels Ro­man „Hys­te­ria“, so hät­te er sein Ku­li­na­ris­tik-Stu­di­um mit Sum­ma ab­sol­viert. Es feh­le das cum lau­de, mag man­cher ein­wen­den, und auf Ort­heils zahl­rei­che Ver­öf­fent­li­chun­gen auf die­sem Ge­biet ver­wei­sen, dar­un­ter nicht nur die Rei­se­bü­cher „Pa­ris, links der Sei­ne“ oder „Rom, ei­ne Ek­sta­se“. Es­sen und Trin­ken, oder bes­ser das im Ortheil’schen Sin­ne stil­vol­le Ge­nie­ßen ge­hört zu fast al­len sei­nen Bü­chern, auch zu den fiktiven.

So nimmt es nicht Wun­der, daß die si­zi­lia­ni­schen Sü­ßig­kei­ten nicht nur in die­sem Rei­se­be­richt im Vor­der­grund ste­hen, sie bil­den auch den Dreh- und An­gel­punkt in Ort­heils Si­zi­li­en­ro­man „Das Kind, das nicht frag­te“. Wäh­rend die­ser „Gas­tro­soph in sü­ßen Ge­fil­den“ weiterlesen

Auf zu den Erbseninseln

Doris Brockmann entdeckt das kleinste Archipel Europas, die Erbseninseln

erbseninseln

 

Die In­sel Græs­holm macht ih­rem Na­men we­nig Eh­re. Wo einst sat­tes Gras­grün leuch­te­te, be­lei­digt nun ge­sät­tig­tes Creme­weiß den Blick des Na­tur­freun­des. Schuld sind die Vö­gel! Die ge­fie­der­ten Nichts­nut­ze! Ei­gent­lich könn­ten sie von Nut­zen sein. Aus ih­ren sä­mi­gen Ex­kre­men­ten lie­ße sich 1‑a-Gua­no ge­win­nen, zur Freu­de der Land­wir­te und der Spreng­stoff­her­stel­ler. Die ei­nen hät­ten pri­ma Dün­ger, die an­de­ren pri­ma Sal­pe­ter zum Bom­ben­bau­en. Aber nein. Die Vö­gel wol­len un­ter sich bleiben,…“

 

 

Wol­len wir den nächs­ten Ur­laub nicht mal auf ei­ner In­sel verbringen?

Wenn sie für ei­nen Spa­zier­gang groß ge­nug ist, wenn sie Kü­che und Kul­tur hat, war­um nicht? Wo liegt sie denn?

In Dä­ne­mark.

Oh je, da wa­ren wir doch oft ge­nug. Den Wein muss man ein­schmug­geln und die „Auf zu den Erb­sen­in­seln“ weiterlesen

Reisehandbuch für Nichtreisende

Pierre Bayard verteidigt den fernen Blick

Bayard, OrteWie man über Bü­cher spricht, die man nicht ge­le­sen hat“, die­ses Es­say des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers und Psy­cho­ana­ly­ti­kers Pierre Ba­yard hat mich vor kur­zem sehr be­ein­druckt. Be­geis­tert von sei­nen Theo­rien zum Le­sen er­war­te­te ich neue geist­rei­che Aus­füh­run­gen zum The­ma „Wie man über Or­te spricht, an de­nen man nicht ge­we­sen ist“.

Nicht nur äu­ßer­lich gleicht das im Kunst­mann-Ver­lag er­schie­ne­ne neue Buch sei­nem Vor­gän­ger. Das schlich­te beige Co­ver ziert ein gal­li­scher Hahn, der dies­mal nicht auf ei­nem Sta­pel Bü­cher son­dern auf ei­nem Glo­bus Po­si­ti­on be­zo­gen hat. Auch der Auf­bau des Es­says wur­de über­nom­men. Von Ar­ten des Nicht­le­sen über Ge­sprächs­si­tua­tio­nen bis zu Emp­foh­le­nen Hal­tun­gen äu­ßert sich Ba­yard zu Or­ten, die man nicht kennt (UB), die man über­flo­gen hat (ÜO), die man vom Hö­ren­sa­gen kennt (EO) und die man ver­ges­sen hat (VO). Dar­aus er­ge­ben sich ent­spre­chen­de Ka­te­go­rien, die man ähn­lich aus dem Vor­gän­ger­buch kennt. Die Fol­ge­ka­pi­tel tra­gen den glei­chen Ti­tel wie im ers­ten Es­say, tei­len sich aber dem Su­jet ent­spre­chend in ver­schie­de­ne Un­ter­punk­te. Die Wahl „Rei­se­hand­buch für Nicht­rei­sen­de“ weiterlesen

Vom Ende der Welt nach Arkadien

In „Wohin mit mir“ erinnert Sigrid Damm an ihre Entdeckung des Südens

dammIm ho­hen Nor­den füh­le ich mich so­fort auf mein gan­zes Le­ben be­ru­higt, bin mit­ten im Le­ben, mit­ten in die­ser Un­end­lich­keit, hier aber, in Rom, emp­fin­de ich mich am äu­ßers­ten Rand ei­ner be­gra­be­nen Zeit.“

Wo­hin mit mir“, die­ser Ti­tel er­in­nert an frau­en­be­weg­te Selbst­fin­dungs­li­te­ra­tur der Acht­zi­ger Jah­re, der­ar­ti­ges klingt in die­sem rö­mi­schen Rei­se­buch durch­aus an. Die aus der DDR stam­men­de Au­torin Sig­rid Damm wur­de mit Bü­chern über his­to­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten der deut­schen Li­te­ra­tur be­kannt, vor al­lem mit ih­rem 1998 er­schie­nen Ti­tel „Chris­tia­ne und Goe­the“.

Die Fer­tig­stel­lung die­ses Wer­kes liegt 1999 ge­ra­de ein Jahr hin­ter ihr und sie plant be­reits ein neu­es Pro­jekt. In ih­rer neu­en Wahl­hei­mat Nord­schwe­den will sie zu­sam­men mit ih­ren bei­den Söh­nen ein Buch über Lapp­land schrei­ben, da er­hält sie ein Sti­pen­di­um der Ca­sa di Goe­the.

Ein hal­bes Jahr in Rom, grö­ßer könn­te der Ge­gen­satz zu ih­ren jet­zi­gen Le­bens­um­stän­den nicht sein. Er of­fen­bart sich auch in ih­ren Er­war­tun­gen und in den ers­ten „Vom En­de der Welt nach Ar­ka­di­en“ weiterlesen

Von Einem, der auszog das Pilgern zu fürchten

Fluch und Trost der Gospa erfährt Thomas Glavinic in „Unterwegs im Namen des Herrn“ 

Wer nach Med­jug­or­je fährt und auf kei­nen der Ber­ge geht, der STOLPERT IM LEBEN- UND FALLT.“ (S. 77)

Be­geis­tert vom Selbst­be­spie­ge­lungs­sar­kas­mus auf den Li­te­ra­tur­be­trieb, den Gla­vi­nic in sei­nem 2007 er­schie­ne­nen Ro­man „Das bin doch ich“ bot, griff ich zu sei­nem neu­en Buch. Schon der Ti­tel „Un­ter­wegs im Na­men des Herrn“ ver­spricht ei­ne ähn­lich amü­san­te An­nä­he­rung ans Pil­ger­mi­lieu. Denn, um es ehr­lich zu sa­gen, die­ses post­mo­der­ne Pil­gern, das mit dem Ha­pe-Hype sei­nen Hö­he­punkt aber lei­der nicht End­punkt er­reicht hat, ist fad. Die Pil­ger­bü­cher sind Le­gi­on, wir brau­chen ein An­ti­dot, wie Jean-Do­mi­ni­que Bau­bys Schil­de­run­gen des Sou­ve­nir­wahns in Lour­des oder den Film der ös­ter­rei­chi­schen Re­gis­seu­rin Jes­si­ca Haus­ner.

Gla­vi­nic fin­det Lour­des zu teu­er, wes­halb er sich be­glei­tet von Freund und Fo­to­graf In­go nach Med­jug­or­je auf­macht. Die Bei­den pil­gern nicht per pe­des, son­dern wer­den in ei­ner from­men Bus­la­dung nach Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na ver­frach­tet. Ein Bus vol­ler Pil­ger, die sich die vier­zehn­stün­di­ge Fahrt mit Be­ten und Fas­ten, mit Hei­li­gen­le­gen­den und Er­we­ckungs­ge­schich­ten zu ver­kür­zen su­chen, kann zur Tor­tur wer­den. Beim un­gläu­bi­gen Tho­mas und dem um nichts fröm­me­ren In­go löst sie ei­ne un­still­ba­re Sehn­sucht nach Schlaf, nach Auf­putsch- und Be­täu­bungs­mit­teln aus. Und doch, schon im ers­ten Ab­schnitt der Rei­se fällt die­ser Be­richt nicht ganz so bis­sig bö­se aus, wie es die Le­se­rin er­war­tet. Spä­tes­tens nach der An­kunft in Med­jug­or­je wird klar, daß es nicht nur dar­um ge­hen wird, die Ab­sur­di­tä­ten des Pil­ger­pa­ra­die­ses auf­zu­de­cken. Gla­vi­nic, der auf­ge­klär­te Athe­ist, schei­tert an den Ver­teu­fe­lun­gen der An­na­lin­da An­ti­lo­pa, Non­ne. Dar­auf hät­te er ge­fasst sein kön­nen. Er re­agiert mit Ab­scheu und An­gi­na, er­liegt fast ei­ner An­na­lin­da Hy­po­chon­dria. Oder war es gar ein Fluch? Uns Le­ser bringt er so um wei­te­re Ein­bli­cke in ört­li­che Kul­te und Ri­tua­le. Den­noch schil­dert der Ge­plag­te flott und un­ter­halt­sam sei­ne Er­fah­run­gen. Gla­vi­nic gibt Tipps wie man in Pil­ger­her­ber­gen ge­gen die nächt­li­che Aus­gangs­sper­re re­vol­tiert und glänzt mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Apo­the­ker­wis­sen. Et­li­che Xa­n­or und an­de­re Pil­len wei­ter, mit Nied­rig- und Hoch­pro­zen­ti­gem run­ter­ge­spült, ist es dann mit der halb­her­zi­gen Pil­ge­rei vor­bei. Schrift­stel­ler und Fo­to­graf ver­las­sen den Ort des gläu­bi­gen Irr­sinns, um sich vom ver­rück­ten Va­ter zum nächs­ten Flug brin­gen zu lassen.

Nur ein Nacht­quar­tier fehlt und die­ses fin­den sie schließ­lich bei ei­nem Mann, des­sen Art und An­we­sen nach du­bio­sen Ge­schäf­ten riecht. Es folgt ei­ne durch­ge­knall­te Nacht, an­stren­gend für den kran­ken Au­tor wie für die Le­se­rin. Aber­wit­zi­gen Trost spen­den ein­zig die Zet­tel­bot­schaf­ten aus Med­jug­or­je. Sind Krank­heit und Cha­os tat­säch­lich der Fluch der Gos­pa, den der Kap­pen­mann den un­gläu­bi­gen Pil­gern prophezeite?

Schließ­lich bringt ein tur­bu­len­ter Rück­flug die bei­den Blues Brot­hers zum Aus­gangs­punkt ih­rer Mis­si­on und an das En­de ei­nes eben­so tur­bu­len­ten Fastan­ti­pil­ger­bu­ches. Der Gos­pa­se­gen ist auf­ge­braucht und ei­ner Sa­che kön­nen wir ganz si­cher sein. Bei Gla­vi­nic klin­gelt kein Glöck­chen, nirgends.

Ei­ne Le­se­pro­be und zwei Vi­de­os fin­den sich beim Han­ser-Ver­lag.

Wenn der Vater mit dem Sohne

Eine gelungene Moselreise des jungen Hanns-Josef Ortheil

Wä­re es be­reits Früh­ling, wür­de ich am liebs­ten so­fort zu ei­ner klei­nen Mo­sel­wan­de­rung auf­bre­chen. Es wä­re ei­ne Nost­al­gie­fahrt, denn in Trier auf­ge­wach­sen und in ei­nem Mo­sel­städt­chen ge­bo­ren ver­brach­te ich vie­le Jah­re zwi­schen Rö­mern, Wein­ber­gen und Burgen.

Im vor­lie­gen­den Buch mit dem schnör­kel­lo­sen Ti­tel „Die Mo­sel­rei­se“ han­delt es sich um ein Rei­se­ta­ge­buch, wel­ches der jun­ge Hanns-Jo­sef Ort­heil im Jahr 1963 ver­fasst hat. Der Text ent­stand aus Be­schrei­bun­gen, Auf­zeich­nun­gen und Ge­sprächs­no­ti­zen, die der Elf­jäh­ri­gen am En­de der Rei­se zu­sam­men­füg­te. Ort­heil be­schreibt die Ge­ne­se des Tex­tes, der auch als Er­gän­zung sei­nes au­to­bio­gra­phi­schen Ro­mans „Die Er­fin­dung des Le­bens“ ge­le­sen wer­den kann, aus­führ­lich im Vor- und Nachwort.

Die Rei­se be­ginnt mit ei­ner Bahn­fahrt nach Ko­blenz. Sei­ne ver­trau­te Hei­mat­stadt Köln mit dem präch­ti­gen Dom und der ge­lieb­ten Mut­ter lässt der Jun­ge zu­rück und tauscht sie ge­gen „Wenn der Va­ter mit dem Soh­ne“ weiterlesen