Eckhart Nickel schildert in seinem vergnüglich zu lesenden Roman „Hysteria“ die Suche nach der Wahrheit unter der Vielfalt verrückter Wahrnehmungen
„Ein Blick auf seine Solararmbanduhr zeigte vier Uhr an und er bemerkte irritiert, dass der Batteriestand gegen null ging. Er versäumte bewusst, der Betriebsanleitung zu folgen und die Uhr im Freien immer über der Manschette zu tragen, weil er es immer noch für unwürdig hielt, seine Armbanduhr wie ein lächerlicher Sonnenanbeter dem Licht entgegenzudrehen. Indem er es absichtlich nicht tat, rebellierte er insgeheim auch gegen alle anderen Vorschriften des „Spurenlosen Lebens“. Der Katalog an Dingen, die zu tun oder zu lassen waren, wuchs in letzter Zeit wirklich über jegliches Maß hinaus, fand Bergheim. Es hatte in seiner Jugend ganz harmlos mit der Abfalltrennung begonnen, war aber spätestens seit der letzten Neuerung, dem Verbot des Fleischverzehrs an allen Wochentagen, die kein oder nur ein N in ihrer Buchstabenfolge führen, um so die Treibhausgase halbwegs unter Kontrolle zu bringen, endgültig ins Alberne gedriftet.“
Es ist eine Öko-Dystopie, die Eckhart Nickel in seinem Roman „Hysteria“ genussvoll und mit Ironie gewürzt serviert. Der 1966 geborene, studierte Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker, veröffentlichte vor diesem Romandebüt als Journalist u.a. in Tempo, Süddeutscher Zeitung und F.A.Z. sowie in der von ihm und Christian Kracht gegründeten Literaturzeitschrift Der Freund. Entsprechend weit ist der literarische wie popkulturelle Bezugsrahmen dieses Romans.
Doch man muss nicht zwangsläufig E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud oder die vielen anderen literarischen Leuchttürme, die in „Hysteria“ auftauchen, gelesen haben. Man kann auch mit Musik die Sphären dieser Zukunftswelt durchdringen, wahlweise mit Kraftwerk oder Jean Michel Jarre. Oder ganz einfach den teuren Tee Pariser Provenienz mit dem anspielungsreichen Namen schlürfend über die Abwandlung eines Musikvideos lachen. Der Roman bietet vielfältige Entdeckungen, nicht nur die, daß mit den Himbeeren auf dem Markt etwas nicht stimmt.
Diese führen allerdings als Stein des Anstoßes sofort hinein in Nickels Science-Fiction einer Öko-Diktatur, die jeden jederzeit beobachtet und belauscht. Die Einhaltung des richtigen Verhaltens, zu dem der Verzicht auf Alkohol, Nikotin, Tee und Kaffee zählt, wird zudem von Abhängigkeitsfahndern streng überwacht.
Nickel schildert das Orwell‘sche Setting jedoch subtiler als sein Vorgänger und erzeugt ein sich allmählich steigerndes Grauen, vor allem bei Bergheim, dem Held und Rebellen des Romans. Grauen befällt trotz allem Vergnügen an den ironischen Seitenhieben auch den Leser.
Bergheim, Absolvent eines Kulinaristik-Studiums, fühlt sich beim Anblick der ungewöhnlichen Himbeeren herausgefordert, das Phänomen aufzuklären. Seine Recherche führt ihn ins Kulinarische Institut, der führenden Forschungsstätte in Zeiten von Klimawandel, Veganismus und „Spurenlosen Lebens“. Dort trifft er nicht nur seine große Liebe Charlotte und Studienfreund Ansgar, ‑die Beziehungen werden in ausgiebigen Rückblicken im wahrsten Sinn des Wortes betrachtet‑, sondern er verirrt sich in den Fluren des futuristischen Baus. An einem „Ort, an dem er nicht sein sollte“ findet er einen Gegenstand, der nicht für ihn gedacht ist, und erlebt Außergewöhnliches.
Bergheim besitzt seit jeher eine hypersensible Wahrnehmung. Er sieht und spürt Dinge, die andere nicht bemerken. Mehr noch, seine Sensationen, die Nickel akribisch schildert, erscheinen Bergheim bisweilen selbst übertrieben. Er zweifelt, ob es sich um Realität handelt? Sind es Wunschträume? Fantasiert er dies alles einfach nur herbei?
Die Verlässlichkeit der Wahrnehmung begegnet als Kernthema des Romans bereits in dem von Ernst Jünger stammenden Eingangszitat. „Es ist ein wunderlicher Vorgang, wie die Phantasie gleich einem Fieber, dessen Keime von weit her getrieben werden, von unserem Leben Besitz ergreift und immer tiefer und gründlicher sich in ihm einnistet. Endlich erscheint nur die Einbildung uns noch als das Wirkliche, und das Alltägliche als ein Traum, in dem wir uns mit Unlust bewegen, wie ein Schauspieler, den seine Rolle verwirrt.“
Auch Bergheim stellt sich diese Frage immer wieder. Ist alles nur ein Traum? Schlimmstenfalls kein natürlicher, sondern ein durch künstliche Substanzen erzeugter?
Vor dieser Angst vor Manipulation erscheinen auch seine Beobachtungen in besonderem Licht, seien es die „bösartigen Fruchtzellen“ der Himbeeren, das faulig, graue Fleisch eines Rinds, die unnatürliche Form und Farbe eines Marienkäfers. Die detailliert beschriebenen Wahrnehmungen, deren Ursache nicht genau bestimmt werden können, erzeugen eine unheimliche Stimmung. Wie Bergheim will man wissen, was dahintersteckt. Das dies schwierig zu werden droht, zeigt sich spätestens in der Atmosphäre des Instituts.
Auf die bedrohliche Macht des Ökostaates deuten Hinweise schon zuvor. Da trägt die Tageszeitung den Namen „Der Betrachter“, „runenartige Schriftzüge“ zieren das Logo der landwirtschaftlichen Kooperative, „marschartige Schrittgeräusche“ donnern durch den Wald.
Neben der Bedrohung durch ein totalitäres System steht die noch viel größere Bedrohung durch den Umgang mit der Natur. Die Bemühungen die fortschreitende Zerstörung aufzuhalten, beschleunigen nur den Untergang. Die Institutsmitarbeiter „Schutt“ und „Asche“ bürgen dafür mit ihren Namen.
Schließlich glaubt Bergheim, der „wie durch ein Vergrößerungsglas“ seine Umgebung betrachtet, die falsche Natur der wiedergefundenen Charlotte zu erkennen. „Mit einem Wort, er hielt den Atem an, weil er es nicht fassen konnte, wie eine Frau sich selbst so ähnlich bleiben konnte, obwohl so viele Jahre vergangen waren.“ Jetzt ist es doch von Vorteil, wenn der Leser sich an Hofmanns Figur der Olimpia in „Der Sandmann“ erinnert. Doch der Beweis bleibt aus, die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende ist nur eines sicher, auch die Manipulation kann manipuliert werden.
Eckhart Nickels „Hysteria“ ist ein hochinteressanter Roman, der den Leser amüsiert vor der Zukunft grauen lässt.
Hallo,
eine sehr schöne Rezension – ich freue ich immer, wenn außer mir noch jemand das Buch sehr gut findet, bisher habe ich sehr viele Gegenstimmen gehört. „Der den Leser amüsiert vor der Zukunft grauen lässt” bringt es perfekt auf den Punkt!
LG,
Mikka
Danke für Deinen Kommentar, Mikka. Nickel hat sich viele hübsche, verrückte Dinge für den Roman ausgedacht, um unsere aktuellen, realen Verrückheiten aufs Korn zu nehmen. Das gefällt mir. Und Dir. Und wie ich gestern Abend bei meiner Lektüre der Feuilletons gesehen habe, noch ein paar Anderen. Stand Hysteria nicht auch auf Platz 1 der SWR-Bestenliste?
Aber Du denkst sicher an andere Rezensionen. In unserem Literaturkreis stand der Roman auch auf dem Programm, zwei Drittel haben ihn zu Ende gebracht und einem Drittel hat er gut gefallen. Das entspricht wohl eher den Einschätzungen auf den Blogs.
Ich habe diesen Roman mit Genuss gelesen. Mir gefällt sein Stil sehr gut und er ragt heraus von all den Büchern, die wir hier als Rezensionsexemplare zugeschickt bekommen.
Dass dein Blog mit Catcha Code geschützt ist, lässt ja grinsen 😉
Mit Gruß vom Meer
The Fab Four of Cley
??♂️?
Danke für die Anmerkung, Klausbernd. Nun, unter den Exemplaren, die ich mir aussuche, gibt es einige, die es durchaus mit Hysteria aufnehmen können.
Nichtsdestotrotz freut mich Deine Begeisterung über den Roman und natürlich auch über den Captcha. Du weißt ja, wo es mehr davon gibt! 😉