Mythos Kilimandscharo

Koloniales Wettklettern

Mit ih­rem im Wa­gen­bach-Ver­lag er­schie­ne­nen Buch „Ki­li­man­dscha­ro“ le­gen die bei­den Au­toren, der Ger­ma­nist und His­to­ri­ker Chris­tof Ha­mann und der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Alex­an­der Ho­nold die „deut­sche Ge­schich­te ei­nes afri­ka­ni­schen Ber­ges“ vor.

In zehn Ka­pi­teln stel­len sie die ver­schie­de­nen Aspek­te der Fas­zi­na­ti­on her­aus, die die­ser Berg von der An­ti­ke bis in die heu­ti­ge Zeit aus­übt. Wie der Berg als Mi­kro­kos­mos ver­schie­dens­te Be­dürf­nis­se ver­eint, Na­tur- und Selbst­er­fah­rung, die Sehn­sucht nach dem Ide­al und die Ab­kehr von der Zi­vi­li­sa­ti­on zeigt das An­fangs­ka­pi­tel. Der sym­bo­li­sche Ge­halt my­thi­scher Berg­phan­ta­sien, sei es nun der Olymp oder der Par­nass, der ei­ne Sitz der Göt­ter, der an­de­re Hain der Mu­sen, wer­den eben­so wie Dan­tes Läu­te­rungs­berg be­rück­sich­tigt. Die im 18. Jahr­hun­dert sich aus­bil­den­de Sti­li­sie­rung der Al­pen zum „Hoch­ge­bir­ge der Emp­find­sam­keit“ zei­gen die Au­toren an­hand der Spu­ren von Al­brecht von Hal­ler und Jean-Jac­ques Rous­se­au. Als wei­te­re Pio­nie­re der Ent­de­cker­lust blei­ben selbst­ver­ständ­lich auch Fran­ces­co Pe­trar­ca und Alex­an­der von Hum­boldt nicht ungenannt.

Das zwei­te Ka­pi­tel führt in die Vor­ge­schich­te des „Schnee­ber­ges“ ein. My­then, aber auch geo­gra­phi­sche Be­ob­ach­tun­gen, die in der an­ti­ken Über­lie­fe­rung von He­ro­dot bis Pto­le­mai­os von Alex­an­dria fass­bar sind, wer­den ein­an­der ge­gen­über­ge­stellt und durch an­ek­do­ten­haft an­mu­ten­de Be­rich­te an­ti­ker Ex­pe­di­ti­ons­trupps ergänzt.

Wel­che Rol­le das Pres­ti­ge ei­nes Erstent­de­ckers ge­ra­de wäh­rend des „Run of Af­ri­ca“ ein­nimmt zeigt das drit­te Ka­pi­tel. Geo­gra­phie wur­de zwar we­ni­ger als Wis­sen­schaft denn als Feuil­le­ton­the­ma wahr­ge­nom­men, den­noch war das In­ter­es­se ge­ra­de am un­ent­deck­ten afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent enorm. Mit Span­nung ver­folg­te das deut­sche Le­se­pu­bli­kum in zahl­rei­chen Pu­bli­ka­tio­nen wie „Die Gar­ten­lau­be“ und  „Westermann’s Mo­nats­hef­te“ den Wett­lauf zu den Quel­len des Ni­gers. Be­lieb­te Lek­tü­re wa­ren auch die Be­rich­te deut­scher und eng­li­scher Mis­sio­na­re, die auf ih­ren We­gen zu den „Un­gläu­bi­gen“ bis in un­be­kann­te Re­gio­nen vor­dran­gen. So be­rich­te­ten die Mis­sio­na­re Jo­han­nes Reb­mann und sein Kol­le­ge Jo­hann Lud­wig Krapf über ih­re Un­ter­neh­mun­gen im Church Mis­sio­na­ry In­tel­li­gen­zer. Sie be­schrie­ben als ers­te neu­zeit­li­che Eu­ro­pä­er ei­nen Schnee­gip­fel in Äqua­tor­nä­he. Doch das trug den Mis­sio­na­ren mehr Spott als An­er­ken­nung ein. Der eng­li­sche Ge­lehr­te Wil­liam De­bo­rough Coo­ley wirft ih­nen über­bor­den­de Phan­ta­sie und Un­pro­fes­sio­na­li­tät vor und ver­wies hä­misch auf die Kurz­sich­tig­keit der bei­den Brillenträger.

Dass nicht nur geo­gra­phi­sche Neu­gier und re­li­giö­ses Sen­dungs­be­wußt­sein, son­dern auch ko­lo­ni­al­po­li­ti­scher Ehr­geiz bei der wei­te­ren Er­for­schung Afri­kas und ins­be­son­de­re des Ki­li­man­dscha­ros ei­ne Rol­le spiel­ten, schil­dern die Au­toren im Fol­gen­den. „Die Be­stei­gung des Schnee­ber­ges bleibt ein wich­ti­ges wis­sen­schaft­li­ches und po­li­ti­sches Ziel“ (S. 66). Als sei die Erst­be­stei­gung des Kilimandscharo–Gipfels Ki­bo ei­ne Un­ter­dis­zi­plin im „Wett­lauf um Afri­ka“. Ne­ben den Deut­schen Carl Claus von der De­cken, Edu­ard Vo­gel und Gus­tav Adolf Fi­scher tra­ten die Bri­ten Jo­seph Thom­son und Har­ry John­s­ton an. Al­le schei­ter­ten. Erst Hans Mey­er und Lud­wig Purtschel­ler er­reich­ten 1889 im drit­ten An­lauf den Gip­fel und mach­ten ihn mit Deut­scher Flag­ge und ei­nem drei­fa­chen Hur­ra zur Kai­ser-Wil­helm-Spit­ze und da­mit zum höchs­ten Berg Deutsch­lands. In Mey­ers Dar­stel­lun­gen zeigt sich die gro­ße Fas­zi­na­ti­on, die der Ki­li­man­dscha­ro aus­üb­te, das schnee­be­deck­te Hoch­ge­bir­ge in Äqua­tor­nä­he, sei­ne sin­gu­lä­re Er­he­bung in der Land­schaft, der wol­ken­ver­han­ge­ne Gip­fel und sei­ne un­ter­schied­li­chen Kli­ma­te und Ve­ge­ta­ti­ons­zo­nen. Wie die ge­schick­te me­dia­le Prä­sen­ta­ti­on den Berg im fer­nen Afri­ka zu ei­nem Sym­bol deut­schen Na­tio­nal­stol­zes wer­den lässt, zei­gen die Au­toren in den nach­fol­gen­den Ka­pi­teln. Sei­en es nun die um­fas­sen­de li­te­ra­ri­sche Re­zep­ti­on, un­ter de­nen Ju­les Ver­nes Fünf Wo­chen im Bal­lon das po­pu­lärs­te Bei­spiel dar­stel­len mag, oder die Aus­wir­kun­gen auf die Wer­ke der Bil­den­den Küns­te. Be­son­ders deut­sche Künst­ler tru­gen da­zu bei, daß ko­lo­ni­al­ro­man­ti­sche Sehn­süch­te noch lan­ge nach En­de der kur­zen deut­schen Ko­lo­nial­pha­se wei­ter­leb­ten. Und das bis heu­te, wie Fern­seh­dra­mo­letts vor der Ku­lis­se des Ki­li­man­dscha­ro beweisen.

Die bei­den Wis­sen­schaft­ler, die sich selbst als Flach­land­au­to­ren be­zeich­nen, und doch mit­un­ter bei ge­mein­sa­men Berg­wan­de­run­gen die Kon­zep­ti­on ih­res Bu­ches dis­ku­tier­ten, bie­ten viel­fäl­ti­ge Aspek­te des be­rühm­tes­ten Ber­ges Ost­afri­kas. Sie ana­ly­sie­ren die ko­lo­nia­le Ge­schich­te des Gip­fels und wer­fen zu­dem ei­nem Blick auf die kul­tu­rel­le Be­deu­tung des Berg­stei­gens und die Mo­ti­ve der Ak­teu­re. Dem Le­ser öff­net sich so die his­to­ri­sche aber auch die li­te­ra­ri­sche Perspektive.

Zahl­rei­che Ab­bil­dun­gen und ein eben­so nütz­lich wie aus­führ­li­cher An­mer­kungs­ap­pa­rat er­gän­zen die­sen Band aus der schön ge­stal­te­ten kul­tur­ge­schicht­li­chen Rei­he des Wagenbach-Verlages.

Zur Rol­le Reb­manns und Krapfs als ers­te eu­ro­päi­sche Schnee­gip­fel-Bo­ten sei fol­gen­de Be­ge­ben­heit er­gän­zend er­zählt. Es war nicht nur der Bri­te Be­ke, wie Ha­mann und Ho­nold be­rich­ten, der die Aus­sa­gen von Reb­mann und Krapf ernst nahm. Die in den neu­ge­grün­de­ten geo­gra­phi­schen Zeit­schrif­ten „Pe­ter­manns Mit­tei­lun­gen“, Glo­bus“, „Zeit­schrift für all­ge­mei­ne Erd­kun­de“ heiß dis­ku­tier­ten Schnee­ber­ge setz­ten die bei­den der­art in den Fo­kus, daß ih­nen zu Be­ginn des Jah­res 1851, wie Jo­chen Eber in sei­ner Bio­gra­phie über Krapf be­rich­tet, ei­ne Au­di­enz bei Fried­rich-Wil­helm IV. ge­währt wur­de. Dort schil­der­ten sie ih­re Ent­de­ckun­gen den preu­ßi­schen Ge­lehr­ten Carl Rit­ter und Alex­an­der von Hum­boldt, wor­auf sich letz­te­rer „wie ein klei­nes Kind über ein neu­es Spiel­zeug“ ge­freut ha­ben soll (Eber, S. 148).

Zen oder die Kunst sich schweigend zu verlieben

Prolog

Um es vor­weg zu sa­gen, die­ser Au­tor be­glei­tet schon seit lan­gem mein Le­se­le­ben. Die Be­kannt­schaft be­gann mit der rö­mi­schen Goe­the-His­to­rie „Faus­ti­nas Küs­se“. Es folg­ten die üb­ri­gen die­ser Tri­lo­gie, „Die Nacht des Don Ju­an“ und „Im Licht der La­gu­ne“. Bis auf we­ni­ge Aus­nah­men ha­be ich auch an­de­re al­te und neue Bü­cher Ort­heils ge­le­sen. So auch nach „Die gro­ße Lie­be“ und „Das Ver­lan­gen nach Lie­be“ den letz­ten Band sei­ner Lie­bes­tri­lo­gie „Lie­bes­nä­he“.

Fast eben­so­lan­ge stellt sich mir die Fra­ge, was mir an sei­nen Bü­chern denn nun so ge­fällt. Si­cher ist es die Lie­be zu Ita­li­en, viel­leicht auch ei­ne ge­wis­se ro­man­ti­sche Me­lan­cho­lie. Bis­her war ich, ab­ge­se­hen von ei­ni­gen Ei­tel­kei­ten des er­wach­se­nen Jo­han­nes in „Die Er­fin­dung des Le­bens“ und von stär­ke­ren Ar­ro­gan­zen in Ort­heils Rom­füh­rer im­mer an­ge­nehm angetan.

Sich schweigend verlieben als Performance

Wer ist die­se Schwim­me­rin“ mit die­sem No­tat läu­tet Hanns-Jo­sef Ort­heil ein, was der Ti­tel sei­nes neu­en Ro­mans „Lie­bes­nä­he“ be­reits vor­weg nimmt.

Be­hut­sam ent­wi­ckelt der Au­tor die An­nä­he­rung zwei­er sich zu­nächst un­be­kann­ter Ein­zel­gän­ger, die an­schei­nend zu­fäl­lig im all­tags­fer­nen Mi­lieu ei­nes ein­sam ge­le­ge­nen Lu­xus­ho­tels ein­an­der be­mer­ken. Der Schrift­stel­ler Jo­han­nes Kirch­ner und die In­stal­la­ti­ons-Künst­le­rin Ju­le Dan­ner ver­mei­den zu­nächst di­rek­te Be­geg­nun­gen und be­vor­zu­gen sich aus der Di­stanz zu ent­de­cken. Klei­ne Bot­schaf­ten, die Ah­nun­gen be­stä­ti­gen, ge­hen tra­di­tio­nell als Zet­tel oder mo­dern als SMS hin und her und füh­ren schließ­lich zum Ge­gen­über. Die­se Be­we­gun­gen auf­ein­an­der zu wer­den äu­ßerst vor­sich­tig aus­ge­führt, ein kunst­vol­ler Balz­tanz, des­sen Cho­reo­gra­fie mal den In­sze­nie­run­gen der Vi­deo­künst­le­rin mal den Ein­fäl­len des Schrift­stel­lers folgt.

Nur ei­nes fin­det nie­mals statt, das ge­spro­che­ne Wort. Die­ses rich­ten bei­de je­weils se­pa­rat an Ka­tha­ri­na, die die klei­ne Buch­hand­lung des Ho­tels führt. Sie be­rät ih­re Kun­den nach de­ren Be­find­lich­keit und führt au­ßer die­ser Li­te­ra­tur­the­ra­pie nur Bü­cher im Sor­ti­ment, die ihr per­sön­lich gut ge­fal­len. Sie un­ter­hält zu Bei­den ei­ne ganz be­son­de­re Be­zie­hung, man könn­te sie als müt­ter­li­che Freun­din be­zeich­nen. Die De­tails der Per­so­nen­kon­stel­la­ti­on of­fen­bart der Au­tor erst nach und nach lang­sam vor­an­schrei­tend wie in ei­ner Zen-Me­di­ta­ti­on. Über­haupt gibt es viel Ja­pa­ni­sches. Li­te­ra­ri­sche In­spi­ra­ti­on bie­tet das Kopf­kis­sen­buch der Sei Shō­na­gon. Ja­pa­ni­sche Trom­meln und Bam­bus­flö­ten, Ki­mo­no, Tu­sche und Tee er­gän­zen das Ambiente.

Als wech­sel­sei­ti­ge Sicht sei­ner bei­den Haupt­per­so­nen kom­po­niert Ort­heil sei­nen Ro­man. Mal kom­men­tiert Jo­han­nes, mal Ju­le ihr auf­ein­an­der Zu­ge­hen. Das so zwei­mal das Glei­che aus dem je­weils an­de­ren Blick­win­kel er­zählt wird, macht den Reiz der Idee aus. Wenn je­doch Er­eig­nis­se wie die be­rühm­te Per­for­mance der Künst­le­rin Ma­ri­na Abra­mo­vić, die als Vor­la­ge für ei­ne Be­geg­nung dient, dem Le­ser  mehr­fach er­klärt wer­den, wirkt dies redundant.

Was ich an diesem Buch sehr mag:

Wie Hanns-Jo­sef Ort­heil ge­naue Wahr­neh­mung und Be­schrei­bung in Sät­ze ver­wan­delt. Er be­herrscht die­se Fä­hig­keit so gut, daß der Le­ser sich so­fort in das Am­bi­en­te sei­ner Ro­ma­ne hin­ein­ver­setzt fühlt. Land­schaf­ten und Räu­me, Na­tur und In­te­ri­eur, Gau­men- und Le­se­freu­den stellt er auf die­se Wei­se zum un­mit­tel­ba­ren Nach­voll­zug dar.

Wie rück­sichts­voll die Per­so­nen mit­ein­an­der um­ge­hen und wie em­pa­thisch Ort­heil Ge­füh­le zu schil­dern vermag.

Wie er die Lust und die In­spi­ra­tons­kraft von ein­sa­men Spa­zier­gän­gen dar­stellt. Be­we­gung be­wegt auch den Geist. Das mit sich Al­lein­sein lässt Raum für Kreativität.

Wie Na­tur und Kunst in ih­ren ver­schie­de­nen For­men mit­ein­an­der in Ein­klang ge­bracht werden.

Was ich an diesem Buch überhaupt nicht mag:

Wie die Wahl des Mi­lieus das Ge­sche­hen weit über das nor­ma­le Le­ben hebt, ein es­ka­pis­ti­scher Wun­der­ort in­mit­ten saf­tig grü­ner Al­men, wo so­gar Toast­brot­schei­ben stun­den­lang frisch ge­rös­tet bleiben.

Wie da­durch das Schloss­ho­tel El­mau, un­ver­kenn­ba­res Vor­bild die­ses Pa­ra­die­ses, als ein Ort ir­di­scher Ver­hei­ßun­gen be­wor­ben wird.

Wie die Rol­len­ebe­nen ge­wahrt wer­den. Die Künst­ler blei­ben welt­fern. Die Ho­tel­an­ge­stell­ten die­nen als gu­te Geis­ter und wer­den von oben her­ab cha­rak­te­ri­siert. Die üb­ri­gen Gäs­te sind läs­ti­ge Ge­räusch­ku­lis­se. Ka­tha­ri­na ver­mit­telt zwi­schen al­len und die jun­ge Emp­fangs­da­me des Ho­tels seufzt der gro­ßen Künst­ler­lie­be in frem­den La­ken nach.

Wie bei man­chen Be­schrei­bun­gen doch des Gu­ten zu viel ge­bo­ten wird. Der star­ke, gel­be Urin­strahl zählt nicht zu den Din­gen, von de­nen ich ger­ne le­sen möchte.

Wie der Le­ser be­lehrt wird über die rich­ti­ge Art Sekt zu trin­ken (Was­ser­glas), au­then­tisch Cam­pa­ri zu ge­nie­ßen (oh­ne Eis, da­für rand­voll), über gu­te Würs­te (ins­be­son­de­re die Milz­wurst), über das rich­ti­ge Früh­stück, rich­ti­ges Spei­sen, den rich­ti­gen Zeit­punkt zu ar­bei­ten und mehr.

Wie der Au­tor sein Buch­kon­zept er­klärt „ei­ne ero­ti­sche und bei­na­he un­er­träg­li­che Span­nung, die auf ei­ner streng ein­ge­hal­te­nen Di­stanz der bei­den Lie­ben­den ba­siert“ (S. 129).

Fazit

We­ni­ger Ei­tel­keit wä­re mir lie­ber ge­we­sen und auch mehr Acht­sam­keit. Da­mit nicht aus blon­dem Haar mit ro­ten Spit­zen am En­de blon­des Haar mit ro­ten An­sät­zen wird, und aus ei­nem hell­grü­nen Ba­de­man­tel in­ner­halb von drei Sei­ten ein dunkelgrüner.

So weit, so gut. Viel­leicht kommt ja noch­mal ein Ro­man wie „He­cke“ oder „Mo­sel­rei­se“ oder et­was Historisches.

Rät­sel­haft bleibt mir zu­letzt noch die Ab­bil­dung auf dem Schutz­um­schlag. Die dun­kel­haa­ri­ge Schö­ne kann we­der die blon­de Ju­le noch die ja­pa­ni­sche Hof­da­me sein.

Wer ist die Dargestellte?

 

 

Noch einen Tag und eine Nacht — Wortschatzbildung mit Fabio Volo

Il giorno in più” — Letteratura gallina di un galletto

Ob die­ses Buch mit dem deut­schen Ti­tel Noch ein Tag und ei­ne Nacht hier auf mei­ner Sei­te ei­nen Platz fin­den wird, ha­be ich mich lan­ge ge­fragt. Es ist zwar kein Ro­man­zo ro­sa, ein ita­lie­ni­scher Heft­chen­ro­man, aber un­be­streit­bar ein Ro­man­zo sentimentale.

Gi­a­co­mo, Tu­ri­ner, Sin­gle um die 30, sieht ei­nes Mor­gens ei­ne Un­be­kann­te in der S‑Bahn. Er ist fas­zi­niert, sie tau­schen Bli­cke und ein Lä­cheln. Zu ei­nem Kon­takt kommt es je­doch nicht. Gi­a­co­mo, der sonst schnell ei­nen Spruch für ei­ne Frau fin­det, ist sich selbst ein Rät­sel. Auch die auf­mun­tern­den Rat­schlä­ge sei­ner Freun­din Sil­via er­mu­ti­gen ihn nicht. So lebt er über Wo­chen für die­ses stum­me Ren­dez­vous am Mor­gen, das nur ei­ni­ge Hal­te­stel­len dau­ert. Ei­nes Ta­ges je­doch spricht Sie ihn an, Mi­che­la. Und bei ei­nem Kaf­fee in der Bar, stellt sich her­aus, daß die­ses ers­te Tref­fen wohl auch das letz­te blei­ben wird. Mi­che­la ver­lässt die Stadt, sie hat ei­ne neue Ar­beits­stel­le in New York gefunden.

Was sich wie der kit­schi­ge und ba­na­le Plot ei­ner Sto­ria d’Amore an­hört, er­zählt Fa­bio Vo­lo auf un­ge­wöhn­li­che Wei­se und durch­aus span­nend. So kam ich rasch ei­ni­ge Sei­ten wei­ter und zu der Er­kennt­nis, daß das Buch mehr zu bie­ten hat. Gi­a­co­mo er­weist sich als Mann, der über sich selbst nach­den­ken und über Ge­füh­le spre­chen kann. Sonst wä­re er auch kaum mit Sil­via be­freun­det, ei­ner eins­ti­gen Af­fä­re, die sich aber bald in ei­ne bes­te Freun­din ver­wan­del­te. Die Bei­den be­ra­ten sich ge­gen­sei­tig in ih­ren Lie­bes­que­re­len, was ne­ben al­lem Wah­ren und All­ge­mei­nem auch amü­san­te Mo­men­te hat. Erns­ter und me­lan­cho­li­scher wir­ken Gi­a­co­mos Er­in­ne­run­gen an die schwie­ri­ge Be­zie­hung sei­ner El­tern, und eben­so die Scham über ei­nen klei­nen Be­trug un­ter Kin­dern. Wir wä­ren nicht in Ita­li­en, gä­be es nicht auch ei­ne Non­na. Von die­ser ge­lieb­ten Groß­mutter, de­ren Bei­ne stär­ke­re prä­ko­gni­ti­ve Fä­hig­kei­ten ha­ben als die Ma­don­na, hat Gi­a­co­mo Ei­ni­ges zu erzählen.

Wie Gi­a­co­mo und Mi­che­la ihr Ren­dez­vous fort­set­zen, sei hier nicht ver­ra­ten. Nur so­viel, wer plant sich in ita­lie­ni­sche Lie­bes­aben­teu­er zu stür­zen, ist am En­de des Bu­ches für al­le Si­tua­tio­nen sprach­lich präpariert.

Ge­dacht als leich­te Lek­tü­re, um mein Ita­lie­nisch auf­zu­po­lie­ren, er­wies sich Fa­bio Vo­los Ro­man­zo als gut les­ba­re Un­ter­hal­tung. Und zu­dem als Lehr­stück in kul­tu­rel­ler Dif­fe­renz, ist mir in mei­nem Le­ben als Frau und in mei­nem Le­ben als Le­se­rin doch sel­ten je­mand be­geg­net, der so ein­fühl­sam sei­ne in­ne­ren Vor­gän­ge schil­dert oh­ne sei­ne viel­fäl­ti­gen Un­zu­läng­lich­kei­ten zu ver­ber­gen. Die Sto­ria d’amore ist nicht glatt und ober­fläch­lich, son­dern wird durch oft skur­ri­le An­sich­ten und Be­ob­ach­tung ge­bro­chen. Manch­mal gibt es gen­re­be­dingt na­tür­lich auch ein we­nig Kitsch und Klischee.

Aber al­len, die ei­ne ge­fühl­vol­le Lie­bes­ge­schich­te aus männ­li­cher Sicht le­sen wol­len, sei die­ser Ro­man emp­foh­len. Al­len Ita­lie­nischa­ma­teu­ren sowieso.

Wer hin­ein­schnup­pern möch­te, le­se das ers­te Ka­pi­tel. Wer kei­ne Lust zu le­sen hat, war­te auf den Film, der in Ita­li­en im De­zem­ber ins Ki­no kommt. Der Au­tor spielt üb­ri­gens die Hauptrolle.

Survival of the Fittest?

Von verödeten Biotopen und vereinsamten Frauen — Judith Schalansky in „Der Hals der Giraffe

Gar kei­ne Staats­form wä­re das Al­ler­bes­te. Es wür­de sich al­les schon von al­lei­ne organisieren.“

Die Bio­lo­gie­leh­re­rin In­ge Loh­mark, 55, ver­hei­ra­tet, ein Kind, klas­si­fi­ziert ih­re Um­ge­bung mit ei­nem durch Dar­win ge­schul­ten Blick. Sie ist die for­schen­de Be­ob­ach­te­rin, ihr be­vor­zug­tes Are­al das Bio­top Schu­le. Die­ses liegt in Vor­pom­mern, nur noch We­ni­ge, die kaum Nach­wuchs er­zeu­gen, woh­nen dort. Die Schu­le schrumpft und wird dem­nächst schließen.

Wie in ei­nem al­ten Na­tur­kun­de­buch hat Ju­dith Schal­an­sky ih­ren Ro­man ge­stal­tet. Die Ka­pi­tel Na­tur­haus­hal­te, Ver­er­bungs­vor­gän­ge und Ent­wick­lungs­leh­re, wer­den durch Ko­lum­nen­ti­tel dif­fe­ren­ziert. Da­zwi­schen fin­den sich Zeich­nun­gen der Au­torin, die Sche­ma­ta, Tie­re und viel Bio­lo­gie zeigen.

All’ das er­in­nert an die Schul­zeit. Auch die ver­schie­de­nen Ty­pen von Schü­lern und Leh­rern die Schal­an­sky via Loh­mark so ge­nüss­lich se­ziert als lä­gen sie auf den Plätt­chen ei­nes Mi­kro­skops, sind nicht un­ver­traut. Man ge­nießt die ers­ten Sei­ten vol­ler sar­kas­ti­scher Bon­mots in der Er­leich­te­rung die­se Pha­se sei­nes Le­bens nun end­gül­tig hin­ter sich zu ha­ben. Doch wir be­fin­den uns nicht in ei­ner Schul­sa­ti­re. Im­mer stär­ker of­fen­bart In­ge Loh­mark ih­re Ein­sam­keit. Ihr dar­win­scher Zy­nis­mus ist nur ein Mit­tel zur Di­stanz. Sie will Ab­stand schaf­fen, Ab­stand zu den Men­schen, vor al­lem aber zu sich selbst. Nur hin und wie­der lässt sie in ih­ren Re­flek­tio­nen den ein­zig wah­ren Grund auf­schei­nen. Es ist die Sehn­sucht nach ih­rer Toch­ter Clau­dia. Die­se lebt in Ame­ri­ka und mel­det sich höchs­tens noch in kur­zen Mails. Selbst von ih­rer Hoch­zeit er­fährt In­ge Loh­mark nur auf die­se un­per­sön­li­che Wei­se. Sie lei­det un­ter dem Ver­lust ih­rer Toch­ter und kann die Ur­sa­che kaum er­ken­nen. Liegt es an ih­rem Mann Wolf­gang? Der züch­tet zwar jetzt Strau­ße, die düm­mer als Schü­ler sind, war je­doch einst auch ab­ge­hau­en, ei­ne Frau und Kin­der zu­rück­las­send. Oder liegt es an ih­rem ei­ge­nen Re­pro­duk­ti­ons­geiz? Hät­te sie mehr Kin­der be­kom­men, wä­re ihr viel­leicht ei­nes geblieben.

In­ge Loh­marks Schick­sal spie­gelt sich in dem ih­rer ver­hass­ten Kol­le­gin Schwan­ne­ke. Die­se be­klagt ih­re Kin­der­lo­sig­keit oh­ne zu ah­nen, daß die Bio­lo­gie­leh­re­rin ih­re Trau­er teilt. Die ei­ne kann kei­ne Kin­der be­kom­men, die an­de­re hat zwei ver­lo­ren, ein ge­bo­re­nes und ein un­ge­bo­re­nes. Doch Loh­mark lässt kei­ne Ge­füh­le zu. We­der die po­si­ti­ven, wenn sie zu ei­ner Schü­le­rin ei­ne be­son­de­re Zu­nei­gung ver­spürt, noch die ne­ga­ti­ven, wenn sie ge­gen das Mob­bing ei­nes Mäd­chens nicht ein­schrei­ten will. Sie ver­traut auf die Selbst­re­gu­lie­rungs­kräf­te der Natur.

Dass auch die Na­tur, ins­be­son­de­re ih­re ent­wi­ckel­te Form der Le­be­we­sen, das Recht auf Schutz und Für­sor­ge hat, er­kennt sie nicht. Oder erst ganz zum Schluss, in der Er­in­ne­rung an ein längst zu­rück­lie­gen­des Ereignis.

Ju­dith Schal­an­sky schil­dert in ih­rem Ro­man sehr ein­fühl­sam, was die Un­fä­hig­keit Ge­füh­le zu zei­gen an­rich­ten kann, mit dem an­de­ren und mit ei­nem selbst. Auch die Psy­che un­ter­liegt dem Kreis­lauf der Natur.

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Zur The­ma­tik der ver­las­se­nen El­tern sei auf das Buch und die Web­site von An­ge­li­ka Kindt verwiesen.

Von Einem, der auszog das Pilgern zu fürchten

Fluch und Trost der Gospa erfährt Thomas Glavinic in „Unterwegs im Namen des Herrn“ 

Wer nach Med­jug­or­je fährt und auf kei­nen der Ber­ge geht, der STOLPERT IM LEBEN- UND FALLT.“ (S. 77)

Be­geis­tert vom Selbst­be­spie­ge­lungs­sar­kas­mus auf den Li­te­ra­tur­be­trieb, den Gla­vi­nic in sei­nem 2007 er­schie­ne­nen Ro­man „Das bin doch ich“ bot, griff ich zu sei­nem neu­en Buch. Schon der Ti­tel „Un­ter­wegs im Na­men des Herrn“ ver­spricht ei­ne ähn­lich amü­san­te An­nä­he­rung ans Pil­ger­mi­lieu. Denn, um es ehr­lich zu sa­gen, die­ses post­mo­der­ne Pil­gern, das mit dem Ha­pe-Hype sei­nen Hö­he­punkt aber lei­der nicht End­punkt er­reicht hat, ist fad. Die Pil­ger­bü­cher sind Le­gi­on, wir brau­chen ein An­ti­dot, wie Jean-Do­mi­ni­que Bau­bys Schil­de­run­gen des Sou­ve­nir­wahns in Lour­des oder den Film der ös­ter­rei­chi­schen Re­gis­seu­rin Jes­si­ca Haus­ner.

Gla­vi­nic fin­det Lour­des zu teu­er, wes­halb er sich be­glei­tet von Freund und Fo­to­graf In­go nach Med­jug­or­je auf­macht. Die Bei­den pil­gern nicht per pe­des, son­dern wer­den in ei­ner from­men Bus­la­dung nach Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na ver­frach­tet. Ein Bus vol­ler Pil­ger, die sich die vier­zehn­stün­di­ge Fahrt mit Be­ten und Fas­ten, mit Hei­li­gen­le­gen­den und Er­we­ckungs­ge­schich­ten zu ver­kür­zen su­chen, kann zur Tor­tur wer­den. Beim un­gläu­bi­gen Tho­mas und dem um nichts fröm­me­ren In­go löst sie ei­ne un­still­ba­re Sehn­sucht nach Schlaf, nach Auf­putsch- und Be­täu­bungs­mit­teln aus. Und doch, schon im ers­ten Ab­schnitt der Rei­se fällt die­ser Be­richt nicht ganz so bis­sig bö­se aus, wie es die Le­se­rin er­war­tet. Spä­tes­tens nach der An­kunft in Med­jug­or­je wird klar, daß es nicht nur dar­um ge­hen wird, die Ab­sur­di­tä­ten des Pil­ger­pa­ra­die­ses auf­zu­de­cken. Gla­vi­nic, der auf­ge­klär­te Athe­ist, schei­tert an den Ver­teu­fe­lun­gen der An­na­lin­da An­ti­lo­pa, Non­ne. Dar­auf hät­te er ge­fasst sein kön­nen. Er re­agiert mit Ab­scheu und An­gi­na, er­liegt fast ei­ner An­na­lin­da Hy­po­chon­dria. Oder war es gar ein Fluch? Uns Le­ser bringt er so um wei­te­re Ein­bli­cke in ört­li­che Kul­te und Ri­tua­le. Den­noch schil­dert der Ge­plag­te flott und un­ter­halt­sam sei­ne Er­fah­run­gen. Gla­vi­nic gibt Tipps wie man in Pil­ger­her­ber­gen ge­gen die nächt­li­che Aus­gangs­sper­re re­vol­tiert und glänzt mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Apo­the­ker­wis­sen. Et­li­che Xa­n­or und an­de­re Pil­len wei­ter, mit Nied­rig- und Hoch­pro­zen­ti­gem run­ter­ge­spült, ist es dann mit der halb­her­zi­gen Pil­ge­rei vor­bei. Schrift­stel­ler und Fo­to­graf ver­las­sen den Ort des gläu­bi­gen Irr­sinns, um sich vom ver­rück­ten Va­ter zum nächs­ten Flug brin­gen zu lassen.

Nur ein Nacht­quar­tier fehlt und die­ses fin­den sie schließ­lich bei ei­nem Mann, des­sen Art und An­we­sen nach du­bio­sen Ge­schäf­ten riecht. Es folgt ei­ne durch­ge­knall­te Nacht, an­stren­gend für den kran­ken Au­tor wie für die Le­se­rin. Aber­wit­zi­gen Trost spen­den ein­zig die Zet­tel­bot­schaf­ten aus Med­jug­or­je. Sind Krank­heit und Cha­os tat­säch­lich der Fluch der Gos­pa, den der Kap­pen­mann den un­gläu­bi­gen Pil­gern prophezeite?

Schließ­lich bringt ein tur­bu­len­ter Rück­flug die bei­den Blues Brot­hers zum Aus­gangs­punkt ih­rer Mis­si­on und an das En­de ei­nes eben­so tur­bu­len­ten Fastan­ti­pil­ger­bu­ches. Der Gos­pa­se­gen ist auf­ge­braucht und ei­ner Sa­che kön­nen wir ganz si­cher sein. Bei Gla­vi­nic klin­gelt kein Glöck­chen, nirgends.

Ei­ne Le­se­pro­be und zwei Vi­de­os fin­den sich beim Han­ser-Ver­lag.

Das Kuscheltier des Philosophen

Sibylle Lewitscharoffs Trostgestalt mit Löwenmähne

Am lin­ken Ohr des Lö­wen zeig­te sich ein klei­ner Ma­kel im Fell, of­fen­bar ei­ne Ver­let­zung, die Blu­men­berg bis­her noch gar nicht auf­ge­fal­len war.“ (S. 148)

Er „war da­zu da, sein, Blu­men­bergs, Ver­trau­en in die Welt, zu­min­dest bei Nacht, zu fes­ti­gen.“ (S. 126)

Wer auf Ar­ti­go, ei­ner kunst­his­to­ri­schen Da­ten­bank, die Stich­wor­te Lö­we und Hie­ro­ny­mus ein­gibt, er­hält ei­ne Viel­zahl bild­künst­le­ri­scher In­ter­pre­ta­tio­nen die­ses Su­jets. Ei­ne li­te­ra­ri­sche legt Si­byl­le Le­witschar­off in ih­rem Ro­man „Blu­men­berg“ vor. Und nicht nur das. Hans Blu­men­berg (1920–1996), der als Phi­lo­soph an der Uni­ver­si­tät Müns­ter lehr­te, wird von ihr zum Hei­li­gen sti­li­siert. Zu ei­nem agnos­ti­schen Hei­li­gen wohl­ge­merkt, der nicht an Bi­bel­tex­ten, son­dern an sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken feilt. Dann ei­nes Nachts im pro­fes­so­ra­len Gehä­us, vul­go Ar­beits­zim­mer, ma­te­ria­li­siert sich ein Lö­we, oder bes­ser, er er­scheint. Das Ma­te­ri­el­le bleibt frag­lich, bis zum Schluss. Denn au­ßer ihm nimmt kein an­de­rer das Tier war, kein an­de­rer nor­ma­ler Mensch, ei­ne Non­ne aus­ge­nom­men, was dem li­te­ra­ri­schen Blu­men­berg und dem Le­ser zu Den­ken ge­ben soll­te. Oder bes­ser zu Glauben?

Die Ge­schich­te die­ser Er­schei­nung ist ge­konnt und ver­gnüg­lich er­zählt. Im ers­ten Teil des Ro­mans ha­be ich sie auch ger­ne ge­le­sen. Da­zu trug die Rät­se­lei um die Viel­zahl der li­te­ra­ri­schen und kunst­his­to­ri­schen Zi­ta­te bei, die Fa­bu­lier­kunst und der sub­ti­le Witz der Au­torin. Be­son­ders die Schil­de­rung des Stu­den­ten­mi­lieus der Acht­zi­ger und die vier stu­den­ti­schen Ex­em­pel la­den ein zur Nost­al­gie. Ja, so war’s. Streb­sam, ver­klemm­te Stu­den­ten­jün­ger, fe­mi­nis­ti­sches WG-Tee­trin­ken, Knei­pen­bar­den und Glücks­su­cher. Auf den grü­nen Zweig schafft es nur ei­ner, doch auch der beißt wie die an­de­ren drei viel zu früh ins Gras.

Le­witschar­offs Blu­men­berg hin­ge­gen, des­sen rea­les Vor­bild üb­ri­gens et­li­che Mi­nia­tu­ren zum Lö­wen an und für sich ver­fasst hat, phi­lo­so­phiert aus­führ­lich über sei­nen Lö­wen. Fünf ent­spre­chend durch­num­me­rier­te Leo­ka­pi­tel er­schei­nen im Ro­man. Blu­men­berg, der in Rea­li­tät doch eher der ei­ge­nen Phi­lo­so­phie als dem christ­li­chen Glau­ben zu­ge­neigt war, in­ter­pre­tiert die Er­schei­nung als Aus­zeich­nung von OBen.

Das fin­de ich trotz al­ler dich­te­ri­schen Frei­heit frag­lich. Mir per­sön­lich wür­de es we­nig ge­fal­len, wenn ein Ro­man mich er­we­cken wür­de oder gar da­zu ver­don­nern als from­me Non­ne Klos­ter­he­cken zu stut­zen. Aus die­sem Grund fiel mei­ne an­fäng­li­che Be­geis­te­rung zum Er­de hin et­was ab. Klar, es gibt noch je­de Men­ge Zi­ta­ten­schät­ze zu ent­de­cken. Von Pla­ton bis Heid­eg­ger, al­te und mo­der­ne Dich­ter, auch zeit­ge­nös­si­sche Schrift­stel­ler­kol­le­gen wie Mo­se­bach und Gen­a­zi­no blit­zen um die Ecke. Dies al­les häuft sich zu ei­ner sehr ge­lehr­sa­men Sa­che um am En­de den Weg al­ler Gläu­bi­gen zu ge­hen. In ei­ner Höh­le, ge­stal­tet von Pla­ton, Dan­te und Be­ckett, la­gern die Ver­stor­be­nen des Ro­mans, un­ter ih­nen der Phi­lo­soph mit sei­nem Be­glei­ter. In die­sem War­te­zim­mer nach OBen voll­zieht sich schließ­lich ei­ne mys­ti­sche Trans­for­ma­ti­on, die al­len eso­te­risch Auf­ge­schlos­se­nen viel Freu­de ma­chen mag.

Ob auch „Blu­men­berg, Sohn ei­ner Jü­din,…, ka­tho­lisch ge­tauf­ter Agnos­ti­ker, der in der Zeit der Not, als kei­ne Uni­ver­si­tät ihn auf­nahm, ei­ni­ge Se­mes­ter am Frank­fur­ter Je­sui­ten­kol­leg,…, hat­te stu­die­ren dür­fen und nie aus der Kir­che aus­ge­tre­ten war“ (S. 87) sei da­hin gestellt.

Vor­sorg­lich ent­schul­digt sich die Au­torin in ih­rem Nach­wort beim Ver­stor­be­nen. Das bringt mir das Buch wie­der nä­her. Auch nimmt sie sich nie voll­kom­men ernst. Und den Lö­wen, Blu­men­bergs Trost- und Heils­brin­ger schon gar nicht. Der war viel­leicht doch nur ein über­gro­ßes Ku­schel­tier, in Trost­an­ge­le­gen­hei­ten so­mit bes­tens versiert.

Si­byl­le Le­witschar­off er­hält für ih­ren Ro­man den dies­jäh­ri­gen Wil­helm-Raa­be-Li­te­ra­tur­preis.

Zu­dem war sie auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses vertreten.

Banater Elegie

Reiseimpressionen einer Landschaft ‑Esther Kinskys neuer Roman „Banatsko

Da­bei gibt es hier nichts zu ge­win­nen. Nichts als die Lee­re, das War­ten. Al­le hier war­ten auf ir­gend­et­was, seit Jahr­hun­der­ten. Auf die Lie­be, auf den Tod, auf ein­an­der, auf den Krieg, auf das nächs­te Hoch­was­ser, auf die Fäh­re. Hier ist ein War­te­land.“ (S. 190)

Die 1956 in Bad Hon­nef ge­bo­re­ne, heu­te in Ber­lin und Batt­onya le­ben­de Au­torin Es­ther Kin­sky er­hielt 2006 das Grenz­gän­ger-Sti­pen­di­um der Ro­bert-Bosch-Stif­tung. Ei­ne Poe­tin be­reis­te das Ba­nat, die von Krieg und Ver­lust ge­präg­te Grenz­re­gi­on zwi­schen Ru­mä­ni­en, Ser­bi­en und Un­garn. Ein Er­geb­nis die­ser Re­cher­che ist ihr für den Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ter Ro­man „Ba­nats­ko”. Sie be­schreibt dar­in ih­re Rei­se­in­drü­cke, dies sind vor al­lem ih­re Be­geg­nun­gen mit der Land­schaft, für de­ren Zu­stand und de­ren Wan­del sie poe­tisch schö­ne Sät­ze er­schafft. Auch Men­schen trifft sie. Ei­ne ar­me, sprö­de und zu­rück­ge­las­se­ne Land­be­völ­ke­rung, die sonst nichts mehr hat au­ßer der Land­schaft und dem Wer­den und Ver­ge­hen der Jahreszeiten.

Kin­sky evo­ziert bei al­ler Schön­heit ih­rer Na­tur­bil­der kei­ne Idyl­le. Im ers­ten Teil ih­rer aus un­ver­ständ­li­chen Grün­den als Ro­man be­ti­tel­ten Im­pres­sio­nen wei­sen stets prä­sen­te Gren­zen und zer­fal­len­de Bahn­hö­fe auf schwer über­wind­ba­re Tris­tesse. Spä­tes­tens ab dem phan­ta­sie­voll mor­bi­den Ka­pi­tel „Der Ap­fel­baum“ wird der Tod zum Prot­ago­nis­ten. Er scheint all­ge­gen­wär­tig. Auf je­der Sei­te be­geg­net er dem Le­ser in an­de­rer Ge­stalt, über­fah­re­ne Hun­de, Kat­zen, ver­stor­be­ne Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge, ver­fau­len­de Fi­sche, schwar­ze Krä­hen. Ei­ni­ge Bin­nen­er­zäh­lun­gen wid­met Kin­sky voll­kom­men die­sem The­ma. Da ist der al­te Mann, der sich zum Ster­ben in sei­nen Ap­fel­baum zu­rück­zieht. Sein Kör­per ver­wit­tert im Win­ter­wet­ter bis im Früh­jahr nur noch die Stoff­strei­fen in den Äs­ten hän­gen. Oder der gro­ße Fisch, der wie vom Him­mel ge­fal­len auf der Stra­ße stirbt und des­sen schön schil­lern­de Schup­pen bin­nen Mi­nu­ten ih­ren Glanz ver­lie­ren. Die Na­tur ent­sorgt den Rest des Ka­da­vers. Kin­sky schil­dert dies mi­nu­ti­ös in ei­ner Art poe­ti­schem Zeit­raf­fer. Üb­rig bleibt von dem einst schö­nen Tier nur der zer­zaus­te Fisch­schwanz im Straßengraben.

Was von den Men­schen die­ses Land­stri­ches üb­rig­ge­blie­ben ist, fin­det sich auf den Fried­hö­fen, je­der Ort hat ei­nen und fast auch je­des Ka­pi­tel des Ro­mans, Stra­ßen­fried­hö­fe mit ver­blass­ten Por­träts der To­ten auf den Me­tall­kreu­zen. Die, die noch le­ben, tun dies in zer­zaus­ten Um­stän­den, morsch und mit letz­ter Kraft, sich der Sterb­lich­keit bewusst.

Das Aus­ster­ben ei­ner Land­schaft und ih­rer Be­woh­nern formt die Dich­te­rin zu ei­nem ein­zi­gen Me­men­to Mo­ri, to­te Tie­re in Stra­ßen­grä­ben, Fried­hö­fe, un­zu­gäng­lich um­zäunt, Grab­schmuck aus Plas­tik, al­te Men­schen, die sich mit der Kar­tof­fel­ern­te ab­mü­hen, jun­ge Men­schen oh­ne Per­spek­ti­ve. Die ein­zi­ge Er­lö­sung bie­ten das Ak­kor­de­on­spiel und der Al­ko­hol. Ar­ran­giert ha­ben sich nur die Ro­ma, „die Zi­geu­ner“, die Müll­fürs­ten, die mit ih­ren pfer­de­be­spann­ten Sarg­wä­gen die Über­res­te ein­sam­meln. Wie mö­gen sich wohl die Be­woh­ner der be­reis­ten Or­te füh­len, wenn sie je die­se Dar­stel­lung ih­rer Hei­mat und ih­res Le­bens lesen?

Kin­skys mor­bi­de Ele­gie be­schreibt ein Um­her­schwei­fen. Sie reist mal hier mal dort­hin, kehrt im­mer wie­der nach Batt­onya zu­rück. Kaum gibt es In­ter­ak­ti­on zwi­schen den Men­schen, dann doch ein Ka­pi­tel, in dem ge­spro­chen wird. Weil mir die poe­ti­sche Spra­che so gut ge­fal­len hat, ha­be ich das Buch ger­ne ge­le­sen. Aber die Me­lan­cho­lie brei­tet sich auch über den Le­ser aus. Ein Heft vol­ler phan­tas­ti­scher Sät­ze, Wort­schöp­fun­gen vol­ler Poe­sie, aber auch Fried­hofs­li­te­ra­tur, die ich nur in klei­nen Do­sen ge­nie­ßen kann.

Paul Auster — Unsichtbar

Eine Geschichte der Verführungen

In sei­nem neu­en Ro­man „Un­sicht­bar” schil­dert Paul Aus­ter ei­ne Ge­schich­te der Ver­füh­rung. Wie meist, so be­inhal­tet auch die­se Ge­heim­nis­se und Er­war­tun­gen, die nicht im­mer ein­ge­löst wer­den. Es gibt Op­fer und Tä­ter und ei­ne Schuld, wel­che die Gren­zen zwi­schen den Rol­len in der Un­ein­deu­tig­keit belässt.

Zu Be­ginn des ers­ten Ka­pi­tels scheint es noch klar. Der eher scheue Li­te­ra­tur­stu­dent Adam Wal­ker er­zählt von dem un­glaub­li­chen An­ge­bot Her­aus­ge­ber ei­ner neu­en Li­te­ra­tur­zeit­schrift zu wer­den. Idee und Geld zu die­sem Pro­jekt stam­men von Born, ei­nem eu­ro­päi­schen Gast­pro­fes­sor, den er zu­fäl­lig auf ei­ner Par­ty ken­nen ge­lernt hat­te.  Doch be­reits kur­ze Zeit spä­ter weiß Adam nicht mehr, ob der do­mi­nan­te Geld­ge­ber ihn nicht le­dig­lich als Op­fer ei­nes per­fi­den Psy­cho­spie­les aus­er­ko­ren hat. Wer ist die­ser Born? Et­wa der „Be­sit­zer ei­ner süd­ame­ri­ka­ni­schen Kaf­fee­plan­ta­ge, der nach zu vie­len Jah­ren im Dschun­gel wahn­sin­nig ge­wor­den“ ist, wie Adam ver­mu­tet? Aus­ter cha­rak­te­ri­siert ihn oh­ne Zwei­fel als mo­der­nen Me­phis­to, der auf sei­ne Mit­men­schen ab­sto­ßend und an­zie­hend zu­gleich wirkt. „Er war geist­reich, ex­zen­trisch und un­be­re­chen­bar, aber wer be­haup­te­te, der Krieg sei die reins­te Ab­rech­nung der mensch­li­chen See­le, ver­bannt sich aus dem Reich des Gu­ten.“ (S. 19)

Die un­gu­ten Vor­ah­nun­gen Wal­kers be­stä­ti­gen sich wäh­rend ei­ner Abend­ein­la­dung. Dort trifft der Stu­dent auch Borns Ge­lieb­te Mar­got wie­der, ei­ne Fran­zö­sin, die laut Born um den jun­gen Mann be­sorgt sei. Noch mehr, sie fän­de den gut­aus­se­hen­den Jun­gen so an­zie­hend, daß Born sie ihm, der Ro­man spielt im New York der spä­ten Sech­zi­ger­jah­re, ge­ne­rös zum Nach­tisch an­bie­tet. Wal­ker fühlt sich ver­un­si­chert. Bei der An­kunft in Borns Woh­nung hat­te er die­sen bei ei­nem hef­ti­gen Wut­aus­bruch er­lebt. Born ent­puppt sich als Mann, der an sei­ner Wut Freu­de hat.

Im zwei­ten Ka­pi­tel er­fährt der Le­ser durch den neu­en Ich-Er­zäh­ler Jim, ei­nen Col­lege­freund Wal­kers, daß das ers­te Ka­pi­tel Teil ei­nes Ro­mans sei. Adam bit­tet den er­folg­rei­chen Schrift­stel­ler sein Ma­nu­skript zu le­sen. Auf­ge­teilt ist die­ser au­to­bio­gra­phi­sche Ro­man in vier Ka­pi­tel, Früh­ling, Som­mer, Herbst und Win­ter des Jah­res 1967. Der Schrift­stel­ler wird Beicht­va­ter und Schreib­be­ra­ter zu­gleich. Er er­fährt von Wal­kers Krank­heit, sei­nem Kind­heits­trau­ma und ei­nem Ge­schwis­ter­ge­heim­nis. Din­ge, die bis­lang nicht nur für ihn im Ver­bor­ge­nen lagen.

Un­sicht­bar, so lau­tet der Ti­tel des Ro­mans, der zu­gleich sein Mot­to ist. Schein und Wirk­lich­keit, Ober­flä­che und In­ne­res, das Of­fen­sicht­li­che und das Ver­bor­ge­ne, al­les Wort­paa­re, de­ren je­weils zwei­ter Teil un­sicht­bar bleibt. Wie Paul Aus­ter die­se Dop­pel­bö­dig­keit von Per­so­nen, aber auch von Er­eig­nis­sen, Or­ten und Din­gen in die­ser Ge­schich­te durch­spielt, fin­de ich gran­di­os. Wal­ker er­scheint zu­nächst als ehr­gei­zi­ger Stu­dent, der von Born ver­führt und kor­rum­piert, schließ­lich durch die Mord­ge­schich­te so­gar be­droht und in sei­ner Kar­rie­re be­hin­dert wird. Durch sei­ne au­to­bio­gra­phi­schen Of­fen­ba­run­gen er­fährt der Le­ser je­doch, daß er kei­nes­falls so tu­gend­haft ist, wie er zu Be­ginn er­scheint. Das be­trifft nicht nur sei­ne pu­ber­tä­ren Er­kun­dun­gen mit sei­ner Schwes­ter und den spä­te­ren In­zest. Es be­trifft auch sein Ver­hal­ten in Pa­ris, sei­nen nai­ven Ra­che­plan, der Born kei­nes­wegs ei­ner ge­rech­ten Stra­fe zu­füh­ren wür­de. Falls die­ser über­haupt be­straft wer­den muss. Denn wir wer­den nie wis­sen, was wirk­lich ge­schah, ob Born tat­säch­lich ein Mör­der ist. Das ist si­cher das pla­ka­tivs­te Bei­spiel für ei­nen an­schei­nend kla­ren Vor­gang mit mög­li­cher­wei­se ver­bor­ge­nen Details.

Wer lügt, wer sagt die Wahr­heit? Wie­viel Wah­res steckt in all un­se­ren Er­in­ne­run­gen? For­men wir sie nicht stän­dig um, for­mu­lie­ren sie neu, ma­chen aus ver­meint­li­chen Fak­ten un­se­ren ei­ge­nen, in­di­vi­du­el­len Roman?

Un­sicht­bar, ge­heim­nis­voll, im Dun­keln so be­lässt Aus­ter vor al­lem das En­de sei­nes Bu­ches. In der Schluss­sze­ne schil­dert er die Flucht ei­ner Frau auf ei­ner In­sel. Schon von wei­tem hört sie ein Ge­räusch, das sie nicht zu deu­ten weiß. Erst als sie un­mit­tel­bar da­vor steht, er­kennt sie Ar­bei­ter, die Stei­ne aus dem har­ten Fels schla­gen. Die Ur­sa­che des Ge­räuschs ist sicht­bar ge­wor­den. Die Fron die­ser Men­schen wird auf­ge­deckt. Das Er­geb­nis ziert zahl­lo­se Plät­ze der so­ge­nann­ten Zi­vi­li­sa­ti­on. Doch was will der Au­tor da­mit sa­gen? Ein Apell an das so­zia­le Ge­wis­sen? Oder ent­larvt Aus­ter mit der Il­lu­si­on des ver­meint­li­chen Idylls wie­der­rum ei­ne wei­te­re Fa­cet­te Borns?

Hilf­reich für die Be­ant­wor­tung dürf­ten die li­te­ra­ri­schen Spu­ren sein, die Aus­ter ge­legt hat. Sie füh­ren von der rät­sel­rei­chen Kas­san­dra­va­ri­an­te des Ly­ko­phron, über die Kriegs­ge­sän­ge Ber­tran de Borns und des­sen Be­stra­fung in der Di­vina Com­me­dia zu Mil­tons Ver­füh­rung des Adam bis zu Sa­mu­el Be­ckett. Die Wahr­heit je­doch bleibt unsichtbar.

 

Li­te­ra­tur in der Literatur:

Ly­ko­phron, Alex­an­dra (ca. 190 v. Chr.)

Ber­tran de Born, Sir­ven­tes (1181)

Dan­te Ali­ghie­ri, Di­vina Com­me­dia (1307)

John Mil­ton, Pa­ra­di­se Lost (1667)

Sa­mu­el Be­ckett, Krapp’s Last Tape (1958)

Wie man schreibt, daß man träumt, daß man schreibt

Jan Peter Bremer sucht in „Der amerikanische Investor“ nach dem perfekten ersten Satz

Ein Au­tor sitzt am Schreib­tisch und ima­gi­niert den ers­ten Satz. Auf den war­tet er schon lan­ge ver­geb­lich. Ein ty­pi­scher Fall von Schreib­hem­mung, so scheint es, die sich we­der durch den treu­en Blick ei­nes Hun­des noch durch Ab­len­kung durch­bre­chen lässt. Der ers­te Satz, des­sen ein­falls­rei­che Wort­ge­wandt­heit zum Mo­ti­va­tor für die rest­li­chen Sät­ze und Sei­ten des Ro­mans wer­den soll, kommt dem Dich­ter nicht in den Sinn. Viel­leicht weil der Sinn die­ses Er­zäh­lers, der wie Bre­mer nicht nur Bü­cher schreibt, son­dern mit Frau, Kin­dern und Hund in ei­ner Ber­li­ner Woh­nung lebt, von pri­va­ten Pro­ble­men be­setzt ist. Am dring­lichs­ten von dem Pro­blem mit sei­ner Woh­nung, die durch die Sa­nie­rungs­maß­nah­men ei­nes Im­mo­bi­li­en­in­ves­tors we­nigs­tens in Tei­len von Ein­sturz ge­fähr­det ist. Dies ist die wich­tigs­te Sa­che, um die sich der Krea­ti­ve auf Drän­gen sei­ner Frau zu küm­mern hat. Be­su­che bei der Mie­ter­be­ra­tung, Ge­sprä­che mit Ar­bei­tern und Haus­meis­tern, Er­wä­gung ei­nes Um­zu­ges, Aus­kund­schaf­ten even­tu­el­ler Wohn­op­tio­nen, dies al­les führt zu kei­nem Ziel. Es führt al­ler­dings zu der Idee, die­sem In­ves­tor ei­nen un­miss­ver­ständ­li­chen, al­les klä­ren­den Brief zu schrei­ben. Der Er­zäh­ler sitzt al­so wie­der mit sei­nem Hund am Schreib­tisch und war­tet auf den gu­ten ers­ten Satz.

Dies ist in al­ler Kür­ze der Plot des Ro­mans und er ist nicht son­der­lich auf­re­gend, wenn man nicht eben­falls in Ber­lin von ei­nem Miet­hai be­droht wird. In­ter­es­sant ist aber die Mach­art der Ge­schich­te. Die Su­che nach dem ers­ten Satz führt zu Re­flek­tio­nen, die nach kunst­vol­len Vol­ten stets zu ih­rem Aus­gangs­punkt zu­rück­keh­ren. Zu Hund und Herrn am Schreib­tisch und dem gro­ßen „Was wä­re wenn“. Was wä­re zum Bei­spiel, wenn der In­ves­tor, der der Le­se­rin als welt­fer­ner Be­woh­ner sei­nes Pri­vat­jets dar­ge­stellt wird und ihr als ro­ter Plas­tik­kopf im ro­ten Plas­tik­flie­ger vom Co­ver ent­ge­gen leuch­tet, dem Er­zäh­ler höchst­selbst  ei­nen Brief schrei­ben wür­de? Der In­ves­tor ent­wi­ckelt sich zur Be­dro­hung, die die Kin­der ver­führt und das Fa­mi­li­en­glück ge­fähr­det. Aber die­ses oder eher das Ehe­glück scheint so­wie­so so ei­ne Sa­che zu sein. Jan Pe­ter Bre­mer lässt sei­nen Schrift­stel­ler viel über des­sen Le­bens­um­stän­de grü­beln. Ge­schieht dies in zu­nächst sehr un­ter­halt­sa­mer Ma­nier, so dreht er sich da­bei doch auch im Kreis. Zum Glück dau­ert die­se Do­ku­men­ta­ti­on des Pro­kras­ti­nie­rens nur voll­kom­men aus­rei­chen­de 156 Seiten.

Für ei­nen Aus­zug aus die­sem im Ber­lin Ver­lag er­schie­ne­nen Ro­man er­hielt Bre­mer den Al­fred-Dö­b­lin-Preis 2011. In ei­nem Aspek­te-In­ter­view, das von der er­staun­li­chen Par­al­le­li­tät des wah­ren Le­bens zu die­sem Bu­ches zeugt, er­zählt der Schrift­stel­ler von sei­nem Woh­nen in Berlin.

Geschichten aus der Wirklichkeit

Unsere Geschichte beginnt” — neue Shortstories von Tobias Wolff

Wer noch nie ein in­tri­gan­tes Be­ru­fungs­ver­fah­ren er­lebt hat, wer noch nie voll Be­trof­fen­heit und Hilf­lo­sig­keit nach­bar­schaft­li­chen Ge­walt­tä­tig­kei­ten zu­hö­ren muss­te und wer sich noch nie von ei­nem Hund bes­ser ver­stan­den fühl­te als von ei­nem Mensch, der grei­fe zu den neu­en Short Sto­ries von To­bi­as Wolff.

Der Ti­tel „Un­se­re Ge­schich­te be­ginnt“ hat­te in mir ganz an­de­re Er­war­tun­gen er­weckt, die scho­nungs­lo­se Dar­stel­lung har­ter Rea­li­tät riss mich je­doch schnell dar­aus her­aus. Auf we­ni­gen Sei­ten er­zählt Wolff eher All­täg­li­ches als Groß­ar­ti­ges. Sei­ne Prot­ago­nis­ten er­le­ben vie­les, was we­der leicht zu er­tra­gen noch zu er­zäh­len ist. Man möch­te das Buch aus der Hand le­gen und doch bleibt man dran. Man­che Din­ge sind sehr bru­tal. Au­ßer­dem scheint Wolff un­ter ei­nem aus­ge­präg­ten Hun­de­trau­ma zu lei­den. In ei­ni­gen Ge­schich­ten wer­den die ar­men Krea­tu­ren miss­han­delt, in an­de­ren lie­ben die Ehe­frau­en ih­re Hun­de mehr als ih­re Män­ner und die Hun­de lie­ben die Ehe­frau­en mehr als de­ren Män­ner dies tun soll­ten. Un­ter­schied­li­che The­men fin­den sich in sei­nen Sto­ries, die Re­inte­gra­ti­on von Kriegs­heim­keh­rern, Mi­gra­ti­on, Bil­dungs­be­nach­tei­li­gung, aber auch Nächs­ten­lie­be und un­er­füll­te Lie­be. Schuld­fra­gen wer­den dis­ku­tiert, doch die Un­ter­schei­dung zwi­schen Op­fer und Tä­ter ist nie ein­deu­tig. Wolff lässt uns an den Ge­dan­ken sei­ner Per­so­nen teil­ha­ben, wäh­rend wir ei­nem kur­zen Aus­schnitt ih­res Le­bens fol­gen. Auf­fäl­lig sind häu­fig wie­der­keh­ren­de Mo­ti­ve wie der Tod des Va­ters und die ver­spä­tet ein­set­zen­de Trau­er. Man­che wir­ken al­ler­dings im wie­der­hol­ten Ge­brauch wie Ver­satz­stü­cke, so taucht mehr­mals ein Mut­ter­mal am Frau­en­hals auf, eben­so Per­so­nen mit platt­fü­ßi­gem Gang. Man­che Wort­wahl fin­de ich schwie­rig, denn was soll ich mir un­ter fip­si­gen Slip­pern, ei­nem ver­fitz­ten Busch­knäu­el oder ei­ner ga­ke­li­gen Bund­nes­sel vorstellen?

Den­noch, der kla­re und tem­po­rei­che Er­zähl­stil zieht den Le­ser so­fort in das Ge­sche­hen hin­ein. An­spie­lun­gen er­gän­zen das Un­ge­sag­te und re­gen zum Wei­ter­den­ken an, so daß es nie­mals lang­wei­lig wird. Span­nung trägt die Ge­schich­ten bis zum Schluss, wo den Le­ser meist ein über­ra­schen­des En­de er­war­tet. Wolff voll­zieht er­neu­te Vol­ten, lässt vie­les of­fen und manch­mal die Le­se­rin rat­los zu­rück. Schil­dert uns der Er­zäh­ler in „Ne­ben­an“ ei­ne Sui­zid­phan­ta­sie, ist er im Dro­gen­rausch, gläu­big, ver­rückt oder al­les zusammen?

Der Ber­lin-Ver­lag hat die­sen Band mit neu­en und äl­te­ren Er­zäh­lun­gen des ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers To­bi­as Wolff in der Über­set­zung von Frank Hei­bert vor­ge­legt. Die An­ga­ben der Ent­ste­hungs­da­ten der ein­zel­nen Er­zäh­lun­gen feh­len lei­der. Eben­so hat es die auf der Ver­lags­sei­te an­ge­kün­dig­te Ein­füh­rung Ja­kob Ar­jounis lei­der nicht bis in das Buch geschafft.

To­bi­as Wolff un­ter­rich­tet seit 1997 an der Stan­ford Uni­ver­si­ty Crea­ti­ve Wri­ting. Ne­ben sei­nen Short Sto­ries sind die Ro­ma­ne „This Boy’s Life“ und „Al­te Schu­le“ ei­nem grö­ße­ren Pu­bli­kum bekannt.