Über das Packen von Koffern, das Potential von Staubmäusen und das Sortieren von Büchern

Jens Sparschuh warnt „Im Kasten” vor den Gefahren der Ordnung

Die Welt des Han­nes Fe­lix, der für die op­ti­ma­le Ord­nung al­les Seins lebt, wird vom Cha­os be­droht. Sei­ne Frau Mo­ni­ka ist im Be­griff ihn zu ver­las­sen. Er steht vor ei­nem Scher­ben­hau­fen, doch fällt ihm nichts Bes­se­res ein als ih­re in Ra­ge in den Kof­fer ge­wor­fe­ne Klei­dung säu­ber­lich neu zu sor­tie­ren. Wäh­rend er ein Kof­fer­ver­zeich­nis plant, brät sich Mo­ni­ka noch ein Ei und ist weg. Wie war es nur so­weit ge­kom­men? Nicht nur pri­va­te Kon­flik­te löst Han­nes mit ei­nem Fens­ter­blick auf den ge­re­gel­ten Ver­kehr. Auch be­ruf­li­chen Be­dro­hun­gen schaut er lie­ber nicht ins Au­ge. Die­se er­war­ten ihn täg­lich in ei­ner Fir­ma, die sich um die Ein­la­ge­rung von vor­erst nicht Be­nö­tig­tem küm­mert. Schein­bar ein idea­les Ar­beits­mi­lieu für ei­nen pe­ni­blen Men­schen, doch Han­nes Fe­lix macht mit sei­nem Ord­nungs­wahn die an­de­ren und vor al­lem sich selbst verrückt.

Wenn von Ver­rückt­sein die Re­de ist hat man eher Cha­os als Ord­nung im Sinn. Jens Spar­schuh je­doch lässt sei­nen Han­nes Fe­lix an der Ord­nung zu Grun­de ge­hen. Für die­sen Hans im Glück „Über das Pa­cken von Kof­fern, das Po­ten­ti­al von Staub­mäu­sen und das Sor­tie­ren von Bü­chern“ weiterlesen

Von Affenliebe und Männerängsten

Thomas Lang erzählt in „Jim” von Männerleiden

Hal­ten Sie ei­nen Af­fen im Gar­ten? Wohl kaum. Wenn nicht die Grö­ße Ih­res Gar­ten da­ge­gen spricht, so doch ein­deu­tig je­de deut­sche Klein- und Großgartenverordnung.

Tho­mas Lang hin­ge­gen lässt ge­nau das ge­sche­hen in sei­ner Er­zäh­lung „Jim“. Jim ist ein Orang Utan, von Tier­schüt­zern aus un­wür­di­ger Kä­fig-exis­tenz be­freit darf er bis zum Rück­trans­port in sei­ne Hei­mat im Gar­ten von An­na Opitz verweilen.

De­ren Ehe­mann Frank trägt nicht nur den Na­men ei­nes be­rühm­ten Dich­ters, er möch­te auch selbst ei­ner sein. Wäh­rend sei­ne Frau dem Geld­erwerb nach­geht bleibt er zu Hau­se und war­tet auf die In­spi­ra­ti­on. Sei­ne Be­mü­hun­gen ei­nen Auf­trags­ar­ti­kel fer­tig­zu­stel­len schei­tern je­doch an sei­ner mo­men­ta­nen Le­bens­dis­po­si­ti­on, dem Leid. Bes­ser den Lei­den, denn Opitz lei­det an so vie­lem, an sei­ner nach­las­sen­den Kraft, Schaf­fens­kraft, Kör­per­kraft, An­zie­hungs­kraft, und ganz be­son­ders an dem Schwund sei­ner se­xu­el­len Kraft.

Der Aus­lö­ser die­ser Po­tenz­pro­ble­ma­tik ist ein Phan­tom­schmerz, der sei­ne „Von Af­fen­lie­be und Män­ner­ängs­ten“ weiterlesen

Damenroman

Was übrig bleibt” — Sigrid Combüchen erzählt von Frauen und Damen damals und heute

Was zum Teu­fel soll ein Da­men­ro­man sein und möch­te man et­was Der­ar­ti­ges über­haupt lesen?

Die in Schwe­den auf­ge­wach­se­ne deutsch­stäm­mi­ge Sig­rid Com­bü­chen lässt die­se Be­zeich­nung von ih­rer Er­zäh­le­rin fol­gen­der­ma­ßen erklären.

Ein Da­men­ro­man han­delt na­tür­lich von Klei­dern und Schmuck und Aus­se­hen und Il­lu­sio­nen über die Lie­be und „je­des Mäd­chen soll für ei­nen Tag im Le­ben ei­ne Prin­zes­sin sein dür­fen“.

Ei­ne Sei­te zu­vor wird der dä­ni­sche Li­te­rat Ge­org Bran­des (1842–1927) an­ge­führt, der mit die­sen Spott­be­griff ge­wis­se Frau­en­ro­ma­ne be­leg­te. Wir mö­gen an Ro­sa­mun­de Pilcher den­ken, Herr Bran­des dach­te an Vic­to­ria Be­ne­dicts­son (1850–1888). Doch zu die­sem kli­scheerei­chen tra­di­tio­nell­kon­ser­va­ti­ven Schick­sals­schil­de­run­gen zählt Com­bü­chens Ro­man keineswegs.

In „Was üb­rig bleibt“ schil­dert sie die Ent­wick­lung der jun­gen Hed­da, die für sich, im länd­lich-bür­ger­li­chen Mi­lieu der Drei­ßi­ger­jah­re schwie­rig ge­nug, ei­ne Aus­bil­dung in Stock­holm durch­setzt. Sie nimmt al­ler­dings kein Stu­di­um auf, was „Da­men­ro­man“ weiterlesen

Halbgares Gericht

Viele Fragen bleiben offen in Hermann Kochs „Angerichtet

 Die­ses Buch be­grüßt sei­nen Le­ser mit ei­nem ap­pe­tit­li­chen ro­ten Hum­mer auf blau­em Grund und ver­weist auf den Hand­lungs­ort des Ro­mans. Es ist ein Re­stau­rant der ge­ho­be­nen Klas­se, in dem sich zwei Brü­der mit ih­ren Ehe­frau­en zum Din­ner tref­fen. Der An­lass ist ei­ne drin­gen­de An­ge­le­gen­heit, über die sie re­den müs­sen. Doch zu die­sem Ge­spräch, das letzt­end­lich im Ver­such ste­cken bleibt, kommt es erst ge­gen En­de. Bis da­hin er­fährt der Le­ser über die ver­schie­de­nen Gän­ge ei­nes Me­nüs ver­teilt die wich­tigs­ten Zu­ta­ten der Ge­schich­te. Ser­viert wer­den sie von Paul Loh­mann, dem Ich-Er­zäh­ler, auf­be­rei­tet in sei­nen Rück­blen­den, Ein­sich­ten und Mei­nun­gen. Kom­po­niert hat dies Her­mann Koch durch­aus mit Span­nung und in sar­kas­ti­schem Ton. Die­sen ver­leiht er sei­ner Fi­gur Paul, der „Halb­ga­res Ge­richt“ weiterlesen

Stadtluft macht frei

In „Eine Sache wie die Liebe” erzählt Hans Bender von einer Jugend nach dem Krieg

Nach all” den mo­der­nen Co­ming-of-Age Ge­schich­ten lohnt sich ein Blick zu­rück. Wie fühl­te es sich an in der nach­kriegs­deut­schen Pro­vinz der Fünf­zi­ger­jah­re er­wach­sen zu wer­den? Wel­che For­men der Ab­gren­zung nutz­te ein Ju­gend­li­cher da­mals? Wel­che Er­fah­run­gen macht er mit Lie­be, Se­xua­li­tät und vor al­lem mit sich selbst? Da­von er­zählt Hans Ben­der in sei­nem 1954 er­schie­ne­nen De­büt „Ei­ne Sa­che wie die Lie­be“. Die da­ma­li­ge Kri­tik be­zeich­ne­te den Ro­man als den Lie­bes­ro­man der Nach­kriegs­li­te­ra­tur. Doch er ist viel mehr als nur das.

Lie­be ist ein zeit­lo­ses Phä­no­men, un­ab­hän­gig von Ort und Zeit blei­ben die Auf­wüh­lun­gen, die sie im In­ne­ren der Be­tei­lig­ten aus­lö­sen, im­mer nach­voll­zieh­bar, weil man sie selbst er­lebt hat. Doch könn­te man sie auch so in­ten­siv zu Pa­pier brin­gen wie dies Hans Ben­der ge­lang? In sei­nem schma­len, vor knapp 60 Jah­ren er­schie­nen Ro­man schil­dert er die Ge­schich­te ei­ner ers­ten Lie­be. Dar­an be­tei­ligt sind Ro­bert und Mar­gret. Bei­de le­ben in ei­nem klei­nen Ort in der süd­deut­schen Pro­vinz. Ro­bert als Sohn des Be­sit­zers der Dorf­wirt­schaft schon im­mer. Mar­gret hin­ge­gen hat zu­sam­men mit ih­rer Mut­ter „Stadt­luft macht frei“ weiterlesen

Sex an Drugs and Boring School

Nachts werden wir erwachsen – Ben Brooks neuer Roman über die Bewältigungsstrategien der heutigen Jugend

Ich hö­re, dass Die Ant­wo­ord im Wohn­zim­mer läuft. Die Ant­wo­ord ist Rap aus Süd­afri­ka. Sie sa­gen Sa­chen wie „next-le­vel shit“. In der Be­rufs­be­ra­tung woll­te ich das in mei­nem „Er­war­tun­gen für die Zukunft“-Fragebogen schrei­ben. Tena­ya sag­te, wenn ich das tä­te, wür­de die Be­rufs­be­ra­te­rin den­ken, ich hät­te LSD ge­nom­men, und Mum an­ru­fen. Ich nick­te und schrieb statt­des­sen „Mo­de­ra­tor beim Kinderfernsehn“.

Ist dies nun die bri­ti­sche Ant­wort auf „ Axolotl Road­kill“, oder bes­ser auf „Stro­bo“, oder soll­te man den vier­ten Ro­man des 19-jäh­ri­gen Bri­ten Ben Brooks als Nach­fol­ger von „Der Fän­ger im Rog­gen“ be­trach­ten? Auf Houl­den Caul­field be­zieht sich der Er­zäh­ler Jas­per selbst am En­de des Ro­mans. Doch zu­nächst schil­dert er Ta­ge und vor al­lem Näch­te, „Sex an Drugs and Bor­ing School“ weiterlesen

Ein Buch — Viele Fragen

Roman in Fragen” — ein literarisches Experiment von Padgett Powell


Be­steht die­ses Buch wirk­lich nur aus Fra­gen? Wie liest man das? Ein gan­zes Buch lang? Über 185 Sei­ten? Das soll ein Ro­man sein? Gibt es ei­nen Zu­sam­men­hang? Könn­te es sein, daß ein Li­te­ra­tur­lieb­ha­ber In­ter­es­se dar­an fin­det? Hält er es aus? Wird das nicht langweilig?

Wird ei­nen die ewi­ge Fra­ge­rei zum Nach­den­ken an­re­gen? Oder ist das Gan­ze et­wa ei­ne Wei­ter­ent­wick­lung des Proust­schen Fra­ge­bo­gens? Wuss­ten Sie, daß der ei­gent­lich gar nicht von Proust ist? Will man über­haupt all’ die Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen wis­sen? Und wem möch­te man wel­che Fra­gen stellen?

Sie wis­sen si­cher, daß Fra­gen je­de Men­ge Er­in­ne­run­gen we­cken? Dass man mit ih­nen gan­ze Aben­de in ei­nem Fra­ge- und Ant­wort­spiel ver­brin­gen kann? Wä­re das nicht ei­ne Idee für die nächs­te Run­de mit Freuden?

Su­chen nicht auch Sie im­mer nach ei­ner Ant­wort? Oder las­sen Sie sich ger­ne zum La­chen ver­füh­ren? Ha­ben Sie schon mal auf ei­nem Hau­fen so vie­le lus­ti­ge, ein­fa­che, kom­ple­xe, ab­sur­de, in­ter­es­san­te, ganz und gar pri­va­te und auch noch nie ge­frag­te Fra­gen ge­le­sen? Ja? Nein?

Hät­ten Sie nicht Lust ein sol­ches Buch zu lesen?

Der ame­ri­ka­ni­sche Au­tor Pad­gett Powell hat sich an ei­nem „Ro­man in Fra­gen“ ver­sucht. Über­setzt wur­de die­ses ge­lun­ge­ne li­te­ra­ri­sche Ex­pe­ri­ment von Har­ry Ro­wohlt, der im An­hang ei­ni­ge De­tails für Nicht­ame­ri­ka­ner klärt. Das Buch er­scheint im Bloomsbu­ry Ver­lag, der ein­zel­ne Fra­gen twit­tert.

Die Schatzinsel des Vegetariers

Christian Kracht erzählt vom Imperium der Kokosnuss


„Und hat­te er schon vor lan­gem ent­schie­den sich nicht mehr durch Al­ko­hol be­see­len zu las­sen, so war doch der Er­re­gungs­zu­stand, in den er durch die Ko­kos­milch ver­setzt wur­de, der­ar­tig, daß er selbst im Schlaf wahr­zu­neh­men schien, sein Blut wer­de sukzze­siv durch Ko­kos­milch er­setzt, ja es war ihm, als strö­me durch sei­ne Adern kein ro­ter, tie­ri­scher Le­bens­saft mehr, son­dern der we­sent­lich hoch­ent­wi­ckel­te­re pflanz­li­che Most sei­ner Ide­al­frucht, der ihn der­einst be­fä­hi­gen wer­de, sei­ne Evo­lu­ti­ons­stu­fe zu transzendieren.”

Ist dies nun ein His­to­ri­scher Ro­man, ei­ne Aben­teu­er­ge­schich­te, ei­ne Re­fe­renz an die gro­ßen Li­te­ra­ten des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts oder ei­ne Per­si­fla­ge auf die ak­tu­el­le li­te­ra­ri­sche Ver­wurs­tung des Ve­ge­ta­ris­mus? Es ist von al­lem et­was, aber in de­li­ka­tes­ter Aus­füh­rung. So un­ter­halt­sam zu le­sen, daß man die­ses Buch nicht mehr aus der Hand le­gen möch­te. Mir er­ging es auf je­den Fall so.

Die Ge­schich­te des Au­gust En­gel­hardt, der im frü­hen 20. Jahr­hun­dert nach Aus­stei­ger­er­fah­run­gen auf dem Fest­land, nun in den neu er­wor­be­nen Über­see­ge­bie­ten des Deut­schen Rei­ches sei­ne ei­ge­ne Ko­kos­ko­lo­nie grün­den woll­te, ist his­to­risch be­kannt. Die Fak­ten um die­sen ve­ge­ta­ri­schen Son­nen­or­den sind der­art skur­ril, daß sie sich als Ro­man­vor­la­ge ge­ra­de­zu an­bie­ten. Als im letz­ten Jahr „Das Pa­ra­dies des Au­gust En­gel­hardtvon Marc Buhl er­schien, ha­be ich mich mit gro­ßer Vor­freu­de auf die­ses Buch ge­stürzt und  hat­te ei­ne sehr ver­gnüg­li­che Lek­tü­re. Um­so be­geis­ter­ter war ich in der Früh­jahrs­vor­schau von Kie­pen­heu­er &Witsch den neu­en Ro­man Chris­ti­an Krachts zu entdecken.

Dass Kracht den glei­chen his­to­ri­schen Stoff mit al­ler dich­te­ri­schen Frei­heit fik­tio­na­li­siert, und dies we­sent­lich stär­ker als Buhl, steht ihm zu. Er weist den Le­ser, da­mit ihm die­ses auch voll­ends be­wusst wer­de, gleich zu Be­ginn dar­auf hin. Durch die Stim­me sei­nes all­wis­sen­den und äu­ßerst kom­men­tar­freu­di­gen Er­zäh­lers er­fah­ren wir, daß der Prot­ago­nist nicht ge­nau so denkt wie der Au­tor oder der Er­zäh­ler, son­dern „so oder so ähn­lich“. Wir sind eben in ei­nem Ro­man und nicht in ei­ner his­to­ri­schen Ab­hand­lun­gen und das ist ein gro­ßes Glück. Er­in­nert schon die Um­schlag­ge­stal­tung an ei­nen Aben­teu­er­ro­man ver­gan­ge­ner Jahr­zehn­te, so fällt der Er­zähl­ton noch um wei­te­re De­ka­den zu­rück. Dies je­doch in sehr an­ge­neh­mer Wei­se, wis­send und da­mit zwangs­läu­fig äu­ßerst iro­nisch, denn der Er­zäh­ler hat ja be­reits aus der Ge­schich­te ge­lernt, was die Ge­stal­ten des Ro­man erst noch mü­he­voll selbst er­le­ben müssen.

Kracht führt uns durch die Grals­su­che die­ses ver­schro­be­nen Ve­ge­ta­ri­ers, den er als Ex­em­pel für die sich an­bah­nen­de deut­sche Ka­ta­stro­phe vor­stellt. Dies al­ler­dings mit mehr als ei­nem Au­gen­zwin­kern. Die Ko­kos­nuss als theo­so­phi­scher Gral, dar­auf hät­te schon längst ei­ner kom­men kön­nen. War der Se­gen des Ve­ge­ta­ris­mus nicht schon von ganz an­de­ren Geis­tes­män­nern er­kannt wor­den? Von Plut­arch, Rous­se­au, Bur­nett, Scho­pen­hau­er, Emer­son und Ein­stein. Dumm nur, daß auch der Gröfaz fleisch­los ter­ro­ri­sier­te. Dies er­scheint als größ­tes, aber nicht als ein­zi­ges Me­ne­te­kel. Die deut­schen Pflan­zer in den Schutz­ge­bie­ten, vul­gär, fett und be­schmiert wie die Erd­fer­kel, ver­kör­pern im bes­ten Kli­schee das Bild des häss­li­chen Deutschen.

Wie hei­lig hebt sich da doch der un­schul­di­ge Au­gust En­gel­hardt ab, den der An­blick to­ten Flei­sches er­schau­ern lässt, der sich vom Ve­ge­ta­ri­er zum Fruk­tiv­o­ren ge­wan­delt, nun die höchs­te Stu­fe des Heils den Ko­ko­vo­ris­mus er­langt. Kein Wun­der, daß so­gar die ein­fluss­reichs­te Frau des da­ma­li­gen Süd­see­ar­chi­pels, Queen Em­ma, von die­sem „zar­ten Je­su­lein“ be­ein­druckt ist. Er­scheint er ihr doch als fleisch­ge­wor­de­ne Kunst des Fra An­ge­li­co. Die­se be­wun­der­te sie einst in Flo­renz, wo sie fast En­gel­hardt be­geg­net wä­re, der dort in den Bo­bo­li-Gär­ten fast mit Her­mann Hes­se ge­spro­chen hät­te. Dies al­les ist na­tür­lich dich­te­ri­sche Frei­heit, aber ei­ne sehr amü­san­te. Wei­te­re fik­ti­ve Be­geg­nun­gen schlie­ßen sich an, wor­un­ter die mit Tho­mas Mann in den Dü­nen der Ku­ri­schen Neh­rung nicht die Un­in­ter­es­san­tes­te ist. Doch nicht nur Hes­se, Mann, Kaf­ka, Ein­stein, Freud und vie­len an­de­ren Grö­ßen des 20. Jahr­hun­derts wird Re­fe­renz er­wie­sen. Die größ­te Ver­beu­gung er­bie­tet der Au­tor Charles Di­ckens. Die Wer­ke die­ses gro­ßen Er­zäh­lers die­nen En­gel­hardt als Rei­se­lek­tü­re und sie hel­fen bei der Bil­dung sei­nes Frei­tags. Auch der Er­zähl­stil Chris­ti­an Krachts ist als Hom­mage an den Dich­ter-Ju­bi­lar zu wer­ten. Leicht an­ti­quiert im Ton er­gänzt er das Ge­sche­hen durch Er­läu­te­run­gen der Zeit- und Orts­um­stän­de, er­klärt Ne­ben­schick­sa­le und Sze­nen, er­gänzt durch Rück-und Aus­bli­cke. Manch­mal fällt auch ei­ne Ne­ben­säch­lich­keit, die sich trans­po­niert als ak­tu­el­le Zeit­geist­kri­tik ent­puppt. Sei­en es nun die si­bi­ri­schen Händ­ler auf dem Ber­li­ner Alex­an­der­platz oder die Brat­wurst aus Abfällen.

Chris­ti­an Kracht schil­dert in „Im­pe­ri­um“ den Ver­such ei­nes Ein­zel­nen sich ein Ide­al­reich zu er­rich­ten und stellt ei­nen Zu­sam­men­hang mit ei­ner ähn­lich halt­lo­sen, aber un­gleich er­folg­rei­che­ren Phan­tas­ma­go­rie her. Dies ge­lingt ihm auf der­art in­tel­li­gen­te und gleich­zei­tig un­ter­halt­sa­me Wei­se, daß ich das Buch un­ein­ge­schränkt als Lek­tü­re emp­feh­len möchte.

Der Ko­ko­vore En­gel­hardt war viel­fach Ge­gen­stand his­to­ri­scher For­schung und jour­na­lis­ti­scher Be­richt­erstat­tung. Ent­spre­chen­de Hin­wei­se und Links fin­den sich im An­hang mei­ner Re­zen­si­on zu Marc Buhls Roman.

Und zum Schluß fragt man sich nicht, ob ein Spie­gel­re­zen­sent zu vie­le Ko­kos­nüs­se ge­ges­sen hat, man fragt sich nur, wann mit ei­ner Ver­fil­mung zu rech­nen sein wird? Und wen wir in den Haupt­rol­len se­hen wer­den? Für Queen Em­ma stän­de viel­leicht Frau Neu­bau­er zur Ver­fü­gung, wenn der Ver­trag mit Weight Wat­chers ab­ge­gol­ten ist. Aber wer ver­kör­pert Au­gust En­gel­hardt, Mat­thieu Car­ri­e­re oder Rai­ner Langhans?

Zur De­bat­te, die die­se Re­zen­si­on aus­ge­löst hat, sei auf den kri­tisch ab­wä­gen­den Bei­trag von Jan Sü­sel­beck auf Li­te­ra­tur­kri­tik verwiesen.

 

Das Glück beim Betrachten der Biber

Kerstin Ekman erkundet das Hundeherz


„Lag er lan­ge Zeit still, sah er manch­mal ei­nen im Son­nen­licht glän­zen­den Bi­ber­schä­del auf ge­ra­dem Kurs durchs Was­ser. Er folg­te ihm im­mer mit dem Blick, blieb aber gleich­mü­tig lie­gen (…) Die Bi­ber und er hat­ten nichts mit­ein­an­der zu schaf­fen. Doch sie wa­ren da, wa­ren in der­sel­ben Abend­son­ne, am sel­ben schwar­zen Was­ser, das im Son­nen­licht glüh­te. Er hat­te ih­re Ge­räu­sche gern, ih­re Gesellschaft.“

Bei die­sem Buch ge­schah es zum ers­ten Mal, ich las den Schluss zu­erst. Ich muss­te si­cher sein, daß die Ge­schich­te gut aus­geht für den Wel­pen, der sich im Wald ver­irr­te. Erst dann konn­te ich ge­mein­sam mit ihm die kal­te Um­ge­bung er­kun­den, mich un­ter ei­ner Wur­zel schla­fen le­gen, eis­kal­te Frost­näch­te und boh­ren­den Hun­ger überstehen.

Sich sprei­zen­de Äs­te, Pfo­ten und Kral­len. Sich du­cken­de Baum­stümp­fe mit Rü­cken­zot­teln und Oh­ren. Schla­fen­de Stein­rü­cken. Schla­fen, an feuch­ten Flech­ten ge­schmiegt, zu Stein ge­fro­ren und schwin­de­lig. Irr­lich­tern­de Punk­te vor Au­gen. Hun­ger­schmerz und be­täu­ben­de Angst. Weg­schla­fen. In die Son­ne schla­fen. An Son­nen­zit­zen sau­gen. Weg­wär­men. Sau­gen. Wär­me saugen.“

Ich er­kun­de­te die Na­tur durch die Sin­ne ei­nes Hun­des. Er riecht, stö­bert auf, rät­selt und lernt. Kers­tin Ek­man fin­det für al­le die­se Emp­fin­dun­gen und Re­ak­tio­nen ei­ne poe­ti­sche Spra­che, die ganz na­he ist an den Ge­räu­schen, Düf­ten und Far­ben der Na­tur. Fast sind es Hun­de­wor­te, Hun­de­ge­dan­ken, ein Hun­de­be­wusst­sein, das uns die Re­ak­tio­nen die­ses Tie­res nä­her bringen.

Sei­ne Pfo­ten fin­gen zu lau­fen an. Auf der glat­ten Flä­che drau­ßen wur­de sein Kör­per leicht. Er ver­fiel in ei­nen schnel­len, rhyth­mi­schen Trab und nach ei­ner Wei­le ins Ren­nen. Er rann­te aus rei­nem Spaß an der Freu­de. In sei­nem Kör­per san­gen der Mond­schein, die Käl­te und die Ge­schwin­dig­keit. Es gab kei­ne Gren­ze, kei­nen Wald, kein Ufer.“

Doch wir wis­sen, es ist ei­ne Er­zäh­le­rin, die sich in das Ge­schöpf hin­ein­ver­setzt. Als Haus­tier ge­bo­ren ist es durch Un­acht­sam­keit in die Wald­ein­sam­keit ge­ra­ten und nun auf sich al­lei­ne ge­stellt. Der Wel­pe ent­deckt schnell, wo er trin­ken kann und was den Hun­ger stillt. Ein Elch­ka­da­ver si­chert ihm das Über­le­ben. Im Ver­lauf ei­nes Jah­res lernt er das Wich­tigs­te, wann er sich weg zu du­cken hat und wann er sich be­haup­ten muss. Be­vor der Win­ter wie­der ein­bricht kommt es je­doch zu ei­ner Be­geg­nung, die aus dem ver­wil­der­ten Grau­en wie­der ei­nen Men­schen­hund macht.

Der Mann gab ein Ge­räusch von sich, er at­me­te aus. Der Graue be­weg­te er­neut den Schwanz. Er hielt den Kopf schräg und hat­te die Oh­ren ge­senkt. Sie la­gen jetzt ein­ge­schla­gen zu bei­den Sei­ten der fla­chen Stirn. Er wa­ckel­te mit dem Kör­per und be­weg­te sich im Halb­kreis auf den Mann zu, so­dass er sich ihm nä­her­te und zu­gleich auf Ab­stand blieb. Ob­wohl un­ge­übt, wirk­te er un­ver­hoh­len freund­lich. Das ge­sträub­te Rü­cken­haar hat­te sich ge­legt, sei­ne Wür­de und Fas­sung hat­te er aber nicht ver­lo­ren. Der halb ent­roll­te Schwanz­krin­gel be­weg­te sich.“

Trotz die­ses gu­ten En­des fin­det sich in kei­ner Zei­le Kitsch. Kers­tin Ek­man fühlt sich in ih­ren Hel­den sehr ge­nau ein und über­setzt dies in ih­re Wald­poe­sie. In­dem man liest taucht man tief ein in das grü­ne Ge­knurpschel, Ge­zie­pe und Ge­flat­ter. Lang­sam liest man die Sät­ze, vor­sich­tig um kein Ge­räusch zu ma­chen und zu stö­ren. Gleich­zei­tig wird man von ei­nem un­ge­heu­ren Sog er­fasst, atem­los, hechelnd.

Ein Buch, das ei­nem Lust auf den Wald macht, auf ei­nen Hund und auf die poe­ti­sche Spra­che die­ser schwe­di­schen Au­torin, die Hed­wig M. Bin­der kunst­voll ins Deut­sche über­tra­gen hat.

Pickel, Priester, Partydrogen

Skippy stirbt, eine Internats- und Gesellschaftskritik von Paul Murray


Zu die­sem Buch, wel­ches der Kunst­mann-Ver­lag in ei­ner bi­blio­gra­phisch auf­wen­dig ge­stal­te­ten Aus­ga­be edi­tiert hat, ha­be ich mich von ei­nem be­geis­ter­ten Bü­cher­vo­gel über­re­den las­sen, denn Er­leb­nis­se pu­ber­tä­rer In­ter­nats­in­sas­sen sind nicht un­be­dingt mein Me­tier. Das fiel mir schon bei Tschick auf, der sich ge­ra­de­zu lo­cker run­ter le­sen lässt, was man von dem 780 Sei­ten star­ken Schwer­ge­wicht Paul Mur­rays, der die Träu­me und Alb­träu­me sei­ner Prot­ago­nis­ten auf dras­ti­sche Wei­se schil­dert, schwer­lich sa­gen kann. Der Ro­man wird zwar man­cher­or­ten als äu­ßerst kurz­wei­lig ge­lobt, für mei­nen Ge­schmack weist er je­doch deut­li­che Län­gen auf.

Die Ge­schich­te spielt in ei­nem ka­tho­li­schen In­ter­nat Dub­lins zu Zei­ten der Fi­nanz­kri­se. Die Schü­ler­schaft spie­gelt das üb­li­che Bild männ­li­cher Ju­gend­li­cher wäh­rend das Leh­rer­kol­le­gi­um äl­te­re Pries­tern und halb­her­zi­ges Per­so­nal auf­weist. Ei­ner sei­ner jün­ge­ren, welt­li­chen Mit­glie­der ist der ehe­ma­li­ge Ban­ker Ho­ward. Aus sei­nem al­ten Job ge­feu­ert, un­ter­rich­tet er nun an sei­ner eins­ti­gen Schu­le Ge­schich­te. Es ge­lingt ihm kaum sich und sei­ne The­men durch­zu­set­zen, wor­an nicht nur der ver­meint­lich drö­ge Stoff und sei­ne un­in­spi­rier­te Ver­mitt­lung, son­dern auch sein Ruf als „Ho­ward the Co­ward“, Ho­ward Ha­sen­herz, zählt. Wie er zu die­sem Spott­na­men kam, er­schließt sich im Lauf des Ro­mans. Erst als Ho­ward von ei­ner schö­nen Fee, ei­ner eben­falls aus dem Ban­ken­milieu in die Schu­le ge­ra­te­nen at­trak­ti­ven Aus­hilfs­kraft, ei­nen ent­schei­den­den Lek­tü­re­tipp er­hält, er­fah­ren so­wohl er wie die Schü­ler ei­nen Motivationsschub.

Von den Schü­ler, die al­le von Pu­ber­täts­nö­ten ge­plagt wer­den, lei­det der trau­ri­ge Skip­py be­son­ders. Trau­ma­ti­siert durch die schwe­re Krank­heit sei­ner Mut­ter herr­schen zwi­schen ihm und sei­nem Va­ter Sprach­lo­sig­keit. Nö­te, die die Leh­rer nicht er­ken­nen kön­nen, weil sie zu sehr mit ih­ren ei­ge­nen Pro­ble­men be­schäf­tigt sind. So sind auch all die an­de­ren Jungs auf sich al­lei­ne ge­stellt, das di­cke Ge­nie, der Mi­ni­ma­cho ita­lie­ni­scher Ab­stam­mung, die rital­in­ver­seuch­ten Un­ter­stu­fen­schü­ler, die so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Pau­sen­hof­dea­ler. Ih­re weib­li­chen Al­ters­ge­nos­sen in der vis-à-vis ge­le­ge­nen Non­nen­schu­le ha­ben es nicht leich­ter. Sie ha­dern mit ih­rem Äu­ße­ren bis zur Ma­ger­sucht, sind se­xu­el­lem Druck aus­ge­setzt, in­tri­gie­ren ge­gen­ein­an­der. Auch sie fin­den bei den Er­wach­se­nen kei­nen Halt.

Paul Mur­ray, des­sen Ro­man mit dem Tod sei­nes Hel­den ein­setzt, er­zählt nicht nur des­sen Mar­ty­ri­en, zu de­nen auch ei­ne Love­sto­ry ge­hört, son­dern  er schil­dert vor al­lem ein Dra­ma von Grup­pen­zwang, Schuld und Heu­che­lei. Aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven er­fährt der Le­ser von Ver­nach­läs­si­gung und Er­pres­sung, von de­bi­len Di­rek­to­ren, de­nen der Ruf der Schu­le über al­les geht, von Müt­tern, die ih­re Töch­ter an­statt mit Zu­wen­dung mit ei­nem Fri­seur­be­such trös­ten, von dum­men Sport­leh­rern und ver­meint­lich fei­gen, aber ei­gent­lich ganz schön mu­tig schlau­en Ge­schichts­leh­rern, von pä­do­phi­len Pries­tern, kurz von per­sön­li­cher und ge­sell­schaft­li­cher Krise.

Das geht, wie die Auf­zäh­lung zeigt, nicht oh­ne die üb­li­chen Kli­schees zu be­mü­hen. Viel­leicht liegt es dar­an, viel­leicht auch an der Län­ge des Bu­ches, ganz be­stimmt aber liegt es an mir, daß er mir nicht ganz so gut ge­fal­len hat. Der Ro­man war mir zu lang und mir fehl­te die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur. Al­lei­ne Ho­ward fühl­te ich mich manch­mal na­he, be­son­ders bei sei­ner Lek­tü­re von Ro­bert Ran­ke-Gra­ves, Good­bye to All That , über des­sen Er­leb­nis­se im 1. Welt­krieg. Mit Die Wei­ße Göt­tin zi­tiert Mur­ray noch ein wei­te­res emp­feh­lens­wer­tes Buch die­ses Schriftstellers.

Für Ju­gend­li­che und al­len an­de­ren, die noch mit der Schu­le le­ben, kann die­ser Ro­man ei­ne loh­nen­de Lek­tü­re sein. Den­je­ni­gen, die da­von nichts mehr wis­sen wol­len, sei­en die Bü­cher von Ro­bert Ran­ke-Gra­ves ans Herz gelegt.