André Aciman öffnet in „Fünf Lieben lang“ ein Kaleidoskop des Begehrens
„Wir lieben nur einmal im Leben, hatte meine Vater gesagt, manchmal zu spät, manchmal zu früh; die anderen Male ist die Liebe immer ein bisschen herbeigezwungen.“
Der in den USA lebende Literaturwissenschaftler André Aciman wurde in Alexandria geboren. Dort fand seine aus Italien stammende Familie sephardischer Juden zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein Exil bis sie Mitte der sechziger Jahre wieder nach Italien zurückkehrte. Wenig später zog der mehrsprachig aufgewachsene André in die Vereinigten Staaten, wo er Romanistik und Literaturwissenschaft studierte. Eines seiner Forschungsgebiete ist die Französische Literatur, darunter die Memoirenliteratur der Neuzeit und, wie könnte es anders sein, Proust.
Dies merkt man dem in der Übersetzung von Christiane Buchner und Matthias Teiting vorliegendem Buch „Fünf Lieben lang“ an. Ausgeschrieben ist die Neuerscheinung als Roman, durch die Ich-Perspektive und durch das am Erinnern konstruierte Erzählen gleicht sie eher einem Memoir. Daraus soll natürlich nicht gefolgert werden, daß der Autor mit dem Erzähler eins zu eins übereinstimmt. Dies verwehrt schon die literaturwissenschaftliche Maxime, den Schriftsteller niemals mit dem Literarischen Ich zu identifizieren. Doch selbst wenn –handelt es sich nicht bei all‘ unseren Erinnerungen, erst recht bei den schriftlich formulierten, um nichts weniger als Fiktion? Wir erdichten uns eben unsere Vergangenheit.
Dies gelingt nicht immer so gut, so bewegend und bei weitem nicht so umfangreich wie bei Marcel Proust, dessen Erinnerungsrecherche ein Vorbild für Acimans Werk ist. Hier wie da stehen die Erinnerungen an die Liebe und ihre Begleiterscheinungen im Vordergrund. Sehnsucht und Begehren, Scham und Eifersucht, diese Leidenschaften treiben nicht nur Prousts Erzähler Marcel um. Auch Paul bzw. Paolo leidet an der Liebe und an den erotischen Auswüchsen, die sie ihm beschert, was durchaus zweideutig verstanden werden darf. Ein Bereich, in dem Aciman viel freier sein kann als sein Vorbild Proust, dem die Zwänge seiner Zeit nur den klandestinen Ausdruck von Begierde erlaubten. Allerdings ist genau dies eine der Besonderheiten der Recherche und bereitet große Lesefreude.
Aciman widmet sich seinem Thema in fünf Geschichten, wie der für die deutsche Übersetzung zu Ungunsten gewählte Titel des originalen „Enigma Variations“ unschwer erahnen lässt. Dadurch liegt die Assoziation von Leben und Liebe sehr nahe, vor allem bei deutschen Lesern, die sich ungefähr in der Altersklasse des Autors bewegen und unweigerlich den einstigen Ohrwurm „eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ assoziieren.
Der Autor wird diesen Schlager, so hoffe ich, nicht kennen und wahrscheinlich (leider) ebenso wenig das Werk Hanns-Josef Ortheils. An dieses erinnert mich die erste Story von Acimans Quintett. Sie spielt ebenso wie einige Geschichten Ortheils auf einer Insel im Süden Italiens. Auch steht eine besondere Kindheitserinnerung im Vordergrund. Das innere Erleben wie die äußeren Gegebenheiten, das Meer, der Ort, seine Gebäude und Wege, schildert Aciman ähnlich eindringlich wie es bei Ortheil zu lesen ist. Und sowohl bei dem einen wie bei dem anderen wird das süße Sehnen und Schmachten gerne mit einem mindestens ebenso süßen Mandeltörtchen getoppt. Die Parallele ist zufällig oder vielleicht der Italienbegeisterung geschuldet? Auch ich bin nicht frei davon, und so war es der Beginn dieser ersten Erzählung, der mich verführte, mehr lesen zu wollen. Das war gut so, denn die Geschichte entpuppte sich als meno dolce, gehaltvoll und mit Anspielungen gewürzt. Ein zweites Lesen lohnt durchaus.
Man begleitet den 22-jährigen Paolo gerne auf die Ferieninsel seiner Kindheit, wo er in den Erinnerungen an seine erste Liebe schwelgen will. Das Erzählmotiv ist klar. Es ist zugleich das Motiv im Verhalten des jungen, damals zwölfjährigen Paolo, dem eben nicht klar ist, wie ihm geschieht. Die Zustandsbeschreibung des unbewusst Verliebtseins gelingt Aciman glaubwürdig. Die Empathie überträgt sich auf die Leserin, die weitere Verwicklungen vermutet und am Ende doch überrascht wird. Beim nochmaligen Lesen entdeckt man eindeutige Hinweise.
„Meine Mutter sagte immer, wir (Paolo und sein Vater) seien aus demselben Holz geschnitzt, seine Gedanken seien meine Gedanken und meine Gedanken seine Gedanken. Manchmal befürchtete ich, er könnte tatsächlich meine Gedanken lesen, wenn er mich nur an der Schulter berührte. Für meine Mutter waren wir ein und derselbe Mensch.“
Während Paolos Bindung an den Vater wächst, entfremdet er sich in dieser Geschichte vom Erwachsenwerden von der Mutter. Im Vordergrund steht jedoch die wachsende erotische Spannung, die Paolo für den Schreiner Nanni empfindet und deren er sich erst in der Rückschau bewusst wird. Ähnlich wie Proust berichten sein „Erzählendes Ich“ und sein „Erinnerndes Ich“ im Präteritum, während sein „Erlebendes Ich“ im Präsens fühlt. „Er sieht dich an, dir klopft das Herz, und dann willst du nur noch einen ruhigen Ort finden, (…)“. Aciman erreicht so eine Ästhetik des Begehrens. Und natürlich fehlt auch in dieser Geschichte nicht ein alle Sensationen auslösender Duft, der „herbsüße[n] Duft nach Leinöl und Zitrone“ in der Werkstatt des Schreiners, wobei er es auch ein wenig übertreibt, denn „der Duft der Werkstatt und seiner Achselhöhlen war wie Weihrauch, heilsam und gut“. Dann doch lieber eine in Lindenblütentee getauchte Madeleine.
Dieses erste und mit 101 Seiten längste Kapitel hat mir am besten gefallen. Es folgt eine Geschichte über Eifersucht. Ihr Titel „Frühlingsgefühle“ deutet an, daß sich der Protagonist ein neues Objekt der Begierde suchen wird. Es ist „Manfred“ und der Liebeswahn, der Paul befällt – auch hier mag man eine Parallele zum berühmten Vorbild und dessen Verrücktheit nach Gilberte entdecken, wird im dritten Kapitel besungen. Die wieder etwas längere vierte Geschichte erzählt von Pauls Beziehung zu Chloé, einem On-Off-Verhältnis, das beide über viele Jahre und Lebensstationen begleitet. Eine „Sternenliebe“, so der Titel, die sich immer wieder neu an den Erinnerungen entzündet. In der letzten und kürzesten Geschichte treffen wir auf den gealterten Paul, der sich leidend in eine junge Frau verliebt.
Die vier Kapitel unterscheiden sich von dem erinnerungsträchtigen „Erste Liebe“ im Erzähltempus. Wählt Paolo für seine Erinnerungen die Vergangenheit, schildert Paul seine aktuellen Liebesnöte im Präsens. Während in „Frühlingsgefühle“ noch ein Abendessen mit amüsanten Dialogen uns mit dem Personal der weiteren Geschichten bekannt macht, konzentrieren sich die nachfolgenden Episoden des Buchs auf die Introspektion des Protagonisten. Die Beschreibungen der Orte und Umstände, die der ersten Geschichte ihre starke Atmosphäre verleihen, treten dahinter zurück. Das mag zwar authentisch sein – Mann ist verliebt, aber es besteht die Gefahr der Wiederholung. Es ist schwer, unverbraucht über Liebesobsessionen zu schreiben, besonders nach Proust. Da hilft es auch nicht, mehr als dieser zu dürfen und meist mit offener Hose dazustehen.
Nichtsdestotrotz gelingt Aciman, der auf dem Vorsatzblatt mit Dante der idealen Liebe huldigt, in diesem Buch ein Kaleidoskop der Liebe, an dessen Ende sein Protagonist erkennt, „Und plötzlich wird mir klar, dass ich etwas herausgefunden habe, und zwar nicht nur über Gabi oder die Männer im Allgemeinen, sondern über mich“.