Bachmannpreis 2012 –TDDL –Mahlke, Travnicek, Martynova

Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt – Zweiter Vormittag, 6.7.2012

In­ger-Ma­ria Mahl­ke er­öff­ne­te mit der Le­sung ih­res sehr ein­dring­li­chen Tex­tes den zwei­ten Tag des Be­werbs. Vor­ge­schla­gen wur­de die Kan­di­da­tin von Burk­hard Spin­nen. Im vor­ge­stell­ten Ro­man­aus­schnitt er­zählt die Prot­ago­nis­tin in der Du-Form von ih­rem Sohn Lu­kas, den sie ver­las­sen will, von ih­rem Job im Back-Shop und der neu­en Kar­rie­re als Do­mi­na. Der Text nimmt mich so­fort ge­fan­gen. Es stellt sich ein ähn­li­ches Ge­fühl ein wie bei der Ha­der­lap-Le­sung im letz­ten Jahr. Für mich ist In­ger-Ma­ria Mahl­ke die Fa­vo­ri­tin auf den Bachmannpreis.

Als ers­te Stim­me der Ju­ry mel­det sich Hil­de­gard Kel­ler zu Wort. Nach­dem sie ih­re Ver­si­on des Tex­tes er­klär­te, sprach sie von Ein- und Aus­peit­sche­rei und stör­te sich sehr an dem „Du“. Die Au­torin scheue sich ins In­ne­re zu ge­hen. Kel­ler ver­miss­te ein Herz in der Geschichte.

Die­se ge­fiel Hu­bert Win­kels hin­ge­gen sehr gut. Be­son­ders die Nah­auf­nah­men der ver­schie­de­nen Wel­ten, sei es Back-Shop, Mut­ter­welt oder Sa­do­welt be­ein­druck­ten ihn. Ei­ni­ges blei­be je­doch un­klar, so die Be­weg­grün­de der Frau, ih­ren Sohn zu verlassen.

Spin­nen macht dar­auf auf­merk­sam, daß es sich ja nur um ei­nen Aus­schnitt aus ei­nem grö­ße­ren Text han­de­le. Die Frau tue Un­säg­li­ches und rin­ge darum.

Ca­duff wi­der­spricht Kel­lers Su­che nach dem Her­zen. Der Text zei­ge nur die Ober­flä­che, wol­le kei­ne Re­fle­xi­on und kei­ne Psy­cho­lo­gie. Sie fin­det ihn ganz toll. Ei­ne freud­lo­se Exis­tenz in Käl­te und Aus­weg­lo­sig­keit, die von Mahl­ke gna­den­los kon­se­quent dar­ge­stellt werde.

Mei­ke Feß­mann er­öff­net die „Du“-Interpretation. Sie be­zeich­net es als so­zi­al­the­ra­peu­ti­sche An­spra­che, die Kon­trol­le be­ab­sich­tigt. Sie fin­det den Text sprach­lich öde.

Spin­nen wi­der­spricht, das „Du“ sei not­wen­dig, um in die­ser Si­tua­ti­on am Le­ben zu bleiben.

Stri­gl, die im „Du“ ei­ne Selbst­an­spra­che sieht, emp­fin­det den Text wohl­tu­end, da er dem Le­ser nichts auf­drän­ge, nichts er­klä­re. Er funk­tio­nie­re nur mit die­sem „Du“ und er über­ra­sche auf meh­re­ren Ebenen.

Auch Jandl wi­der­spricht Feß­manns Du-Deu­tung. Dies sei kein Ikea-Du, es sei mo­ra­lisch bedingt.

Ca­duff führt die öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se an, die die­ses „Du“ dar­stel­le, sie wie­der­spricht Stri­gls Selbstansprache-Interpretation.

Die wei­te­re Du-De­bat­te lie­fert ein Karl-Marx-Du von Spin­nen und Kel­lers Web-Cam-Du. Feß­mann er­wei­tert ih­re Kri­tik an dem Text durch den Vor­wurf von Kli­schees und Un­ge­reimt­hei­ten. Sie bleibt aber die Ein­zi­ge in der Run­de, der die­se Le­sung nicht ge­fal­len hat.

Als zwei­te Kan­di­da­tin des Ta­ges trat die von Win­kels no­mi­nier­te Cor­ne­lia Trav­nicek auf. Ihr Text „Jun­ge Hun­de“ er­zählt vom Ab­schied ei­ner jun­gen Frau von ih­rer Kind­heit, die zu­gleich ein Ab­schied von El­tern, Haus­tie­ren und Hei­mat ist. Der Grund ist al­ler­dings kein Um­zug, son­dern der Tod. Gleich zu Be­ginn stirbt der Hund Bag­heera. Die­se Dschun­gel­buch­na­men, es taucht ein wei­te­rer Hund na­mens Ba­loo auf, ver­an­lass­te mich zu ei­ner über­flüs­si­gen Grü­be­lei über die Na­mens­fin­dung von Haus­tie­ren, die mich lei­der vom kon­zen­trier­ten Zu­hö­ren ab­lenk­te. Kur­ze Zeit spä­ter merk­te ich, daß ich nicht mehr rein­kam. Der Text ist mir fad.

Ganz an­ders er­geht es Mei­ke Feß­mann, sie zeigt gro­ßen Re­spekt für den war­men Prag­ma­tis­mus der Ge­schich­te, in der die Tie­re end­lich ein­fach Tie­re blei­ben dür­fen. (Mit Dschungelbuchnamen?)

Stri­gl fin­det ihn sym­pa­tisch, vor al­lem, weil sie einst den Da­ckel „Mowg­li“ be­saß. (Schlimm ist das ös­ter­rei­chi­scher Humor?)

Ca­duff be­män­gelt die Spra­che, sie ha­be sich ihr als Kunst­raum nicht er­schlos­sen. Der Text ha­be Po­ten­ti­al, müs­se aber über­ar­bei­tet wer­den. Das ein­ge­bau­te Mär­chen be­ur­teilt sie als in­ter­es­san­te Versuchsanlage.

Hu­bert Win­kels end­lich er­klärt die Psy­cho­lo­gie hin­ter der Dschun­gel­buch­me­ta­pher. Ernst sei wie Mowg­li ad­op­tiert. (Mowg­li war doch der Da­ckel von Da­nie­la Strigl.)

Paul Jandl ist nicht klar, wo im Text der Hund be­gra­ben lie­ge. Er fin­det die Spra­che ba­nal und sim­pel und kann die tie­fen Ge­heim­nis­se des Tex­tes nicht finden.

Hu­bert Win­kels deckt sie für ihn auf. Der Va­ter sei ab­trans­por­tiert, die Mut­ter tot, das Haus wer­de ver­kauft und der Hund auch schon verstorben.

Jandl ist mit der Er­klä­rung nicht zu­frie­den, die Ge­schich­te bil­de ein Kind­heits­kon­ti­nu­um ab, das der Li­te­ra­tur nicht nütz­lich sein muss.

Hier greift Hil­de­gard Kel­ler zur Ver­tei­di­gung ein. Die man­geln­de Tie­fe sei Pro­gramm, sie pas­se zum Le­bens­plau­der­ton. Au­ßer­dem ge­be es hier und da ei­ne schö­ne Metapher.

Auch Feß­mann tritt für Trav­nicek ein. Sie kri­ti­siert ih­re Kol­le­gen, die Sprach­ar­beit nur dann wahr­neh­men wür­den, wenn sie mar­kant wä­re. Der Text las­se sich sehr wohl my­tho­lo­gisch und iko­no­gra­phisch le­sen (Dschun­gel­buch!).

Spin­nen scheint sich am liebs­ten ei­nes Kom­men­tars zu ent­hal­ten. Er kön­ne al­lem, was ge­sagt wur­de, zu­stim­men. Der Text ha­be ihn nicht be­un­ru­higt. Wor­auf Win­kels fragt, ob Li­te­ra­tur denn heu­te noch be­un­ru­hi­gen müsse.

Die aus Russ­land stam­men­de Ol­ga Mar­ty­n­o­va las den Text „Ich wer­de sa­gen „Hi““. Vor­ge­schla­gen wur­de sie von Paul Jandl. Sie schil­dert die Er­leb­nis­se und Be­ob­ach­tun­gen des Ju­gend­li­chen Mo­ritz, der sich zö­ger­lich ver­liebt und sich Ge­dan­ken über das selt­sa­me Ver­hal­ten der Er­wach­se­nen macht. End­lich mal ein amü­san­ter Text, der mit un­ge­wöhn­li­chen Set­tings und Fi­gu­ren spielt und voll sub­ti­ler Iro­nie steckt.

Win­kels ge­fällt der Text sehr gut. Er fin­det es schön, wie Mo­ritz durch die Zei­ten mä­an­dert. Dies sei har­mo­nisch und ele­gant dargestellt.

Stri­gl er­freut der hin­ter­sin­ni­ge, la­ko­nisch-an­ar­chi­sche Witz. Sie er­in­nert an den ver­meint­lich harm­lo­sen Ho­lun­der­blü­ten­ge­ruch. Die An­häu­fung des Verbs „sag­te“ sei ein­deu­tig ein Stilmittel.

Auch Feß­mann be­wer­tet den Text po­si­tiv, er sei sou­ve­rän und luf­tig er­zählt. Mo­ritz be­ob­ach­te wie ein Spi­on das Ehe­le­ben von On­kel und Tan­te, was sie an die Fi­gur von Stich­mann erinnere.

Jandl ver­spürt durch den Text die ero­ti­sche Auf­la­dung des klei­nen Städt­chens. Die Ge­schich­te zei­ge die Lust am Schrei­ben in ver­schie­de­nen Varianten.

Ca­duff, die vor­ab wür­digt, daß die rus­si­sche Au­torin, die Deutsch nicht als Mut­ter­spra­che be­sit­ze, an dem Wett­be­werb teil­neh­me. Sie lobt die er­fri­schen­de Spra­che und  fin­det die Ge­schich­te au­ßer­or­dent­lich wit­zig, was sich ihr erst durch den Vor­trag er­schlos­sen ha­be. Sie kri­ti­siert je­doch die Ver­wen­dung von Versatzstücken.

Stri­gl stellt dar­auf­hin zur Fra­ge, ob wir ei­nen Text an­ders le­sen, wenn er von ei­nem Au­tor mit aus­län­di­schen Wur­zeln ver­fasst wor­den sei. Sie er­klärt, der Text ste­he in sla­wi­scher Tra­di­ti­on und er­in­ne­re sie an den leicht skur­ri­len tsche­chi­schen Witz.

Bachmannpreis 2012 –TDDL –Stichmann, Hassinger

5.7.2012 — Der Nachmittag des ersten Wettbewerbtages

Es la­sen An­dre­as Stich­mann, no­mi­niert von Mei­ke Feß­mann, und die von Da­nie­la Stri­gl vor­ge­schla­ge­ne Au­torin Sa­bi­ne Has­sin­ger.

An­dre­as Stich­mann, der am Leip­zi­ger Li­te­ra­tur­in­sti­tut stu­dier­te, er­zählt in sei­nem Text „Der Ein­stei­ger“ von ei­nem Ein­bre­cher, der zum teil­neh­men­den Be­ob­ach­ter wird.

Ei­ne schö­ne Ge­schich­te, wie Hu­bert Win­kels fin­det, mit Thril­ler­ele­men­ten ver­setzt. Ob die Fi­gur das Ge­sche­hen wirk­lich er­lebt oder nur ima­gi­niert blei­be of­fen. (An­schei­nend möch­te er sich nicht mehr dem Vor­wurf aus­setz­ten, ei­nen sur­rea­len Text nicht er­kannt zu ha­ben.) Win­kels fin­det viel Ge­fal­len an der Ge­schich­te und be­wun­dert den prä­zi­sen Ein­satz der Gram­ma­tik, um das Er­in­nern der Fi­gur an ih­re Ver­gan­gen­heit und die gleich­zei­ti­ge Zu­kunfts­phan­ta­sie mit­ein­an­der zu verknüpfen.

Paul Jandl weist sei­nem Ein­druck den Kurz­ti­tel „ Ein­schleich­dieb ins bür­ger­li­che Glück“ zu, sei­ner Mei­nung nach sei es ein schö­ner, stim­mi­ger und stich­hal­tig er­zähl­ter Text.

Dem Lob schließt sich Kel­ler an, mit der Ein­schrän­kung, daß sich der Hand­lungs­im­puls ver­flüs­si­ge. Da­durch ge­win­ne die Fi­gur kein Pro­fil, man kom­me ihr nicht nahe.

Ei­ne tem­po­rei­che Er­zäh­lung mit in­ter­es­san­ten Stel­len, die sie je­doch kaum wei­ter be­schäf­ti­gen wird, wer­tet Caduff.

Da­nie­la Stri­gl hin­ge­gen fühlt sich an Hans-Chris­ti­an An­der­sen er­in­nert, an sei­ne Be­wun­de­rung der war­men Stu­be, und über­legt, ob es sich nur um ei­nen Tag­traum han­de­le. (s.o. surreal)

Die Ein­fach­heit täu­sche, er­klärt Feß­mann, die Men­to­rin des Tex­tes, die rea­lis­ti­sche Si­tua­ti­on des Ein­bruchs ver­mi­sche sich mit den Wunsch­träu­men der Fi­gur (sur­rea­le Dro­hung). Dar­auf­hin ent­wi­ckel­te sich ei­ne Dis­kus­si­on zwi­schen Jandl, Stri­gl und Ca­duff, in der Jandl den schö­nen Schein an­führt, Ca­duff die über­ge­ne­ra­tio­nel­le Fra­ge im ge­samt­ge­sell­schaft­li­chen Kon­text auf­ruft und Stri­gl den Text als haar­scharf an der Kli­sche­ei­dyl­le vor­bei phan­ta­siert bezeichnet.

Burk­hard Spin­nen ord­net Stich­manns Text als klas­sisch vam­pi­ris­tisch ein, da der Prot­ago­nist sich die Iden­ti­tät der An­de­ren an­eig­ne. Der­ar­ti­ge Tex­te ha­be er je­doch schon so vie­le ge­le­sen, daß ihm die Be­son­der­heit die­ses Werks un­klar bleibe.

Mein Fa­vo­rit ist der Text nicht, er lässt mich ziem­lich kalt.

Zum Ab­schluss des Nach­mit­tags las Sa­bi­ne Has­sin­ger, die als Bild­haue­rin und Mu­sik­the­ra­peu­tin in der Psych­ia­trie ar­bei­te­te. Ih­ren In­tro­film hat sie selbst ge­stal­tet, auf­fal­lend wa­ren die vie­len selt­sam skur­ri­len Pa­pier­bas­te­lei­en. Eben­so selt­sam wirk­te der Text „Die Ta­ten und Lau­te des Ta­ges“, der ei­nem Dra­ma gleich mit der Be­set­zungs­lis­te der Fi­gu­ren be­ginnt. Dass dies ein schwie­ri­ger Text wer­den wird, war klar. Da­nie­la Stri­gl hat die Au­torin vor­ge­schla­gen, mich er­in­ner­te der Text an Ra­bi­no­wichs Erd­fres­se­rin vom letz­ten Jahr. Als er on­line war, ver­such­te ich mit zu le­sen, was mich al­ler­dings noch mehr ver­wirr­te, da die In­ter­punk­ti­on wohl ei­ne Has­sin­ge­ri­sche war. Frau­en, ein to­ter Va­ter, Kno­chen in Schach­teln mit Sand, mehr kam nicht bei mir an. Auch im Pu­bli­kum mach­te sich Un­ru­he breit. Als die Le­sung be­en­det war, dräng­ten sich nicht wie sonst die Ju­ro­ren zu Wort, son­dern ein zö­ger­li­ches Zau­dern brei­te­te sich aus. Je­der schien je­dem ger­ne den Vor­tritt las­sen zu wollen.

Hu­bert Win­kels geht rit­ter­lich als ers­ter ins Tur­nier und ge­steht sein Pro­blem mit dem Text. Be­son­ders die Per­so­nal­pro­no­men ha­ben ihn so ge­nervt, daß er sich ihm nicht ent­spannt hin­ge­ben konnte.

Kel­ler er­in­nert an die Vi­ta der Au­torin, an ih­re Tä­tig­keit in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik. Sie ge­he an­ders mit der Spra­che um, ver­las­se die Ebe­ne der Se­man­tik, er­zeu­ge kei­nen Kon­sens. Als Sprech­par­ti­tur sei der schwer zu­gäng­li­che Text geeignet.

Der Text sei kom­pli­ziert, so Stri­gl, und müs­se eben mehr­mals ge­le­sen wer­den. Er hand­le von Glück und Un­glück, ei­ne Art To­ten­buch, ei­ne Kran­ken­ge­schich­te im Ir­ren­haus. Sie ha­be über die In­ter­pre­ta­ti­on nicht mit der Au­torin gesprochen.

Mei­ke Feß­mann ver­sucht dem Pu­bli­kum vor Ort und drau­ßen den In­halt zu ent­schlüs­seln. Er­klärt den et­was zer­rupf­ten Ton mit der stän­di­gen Zwi­schen­re­de­rei der Mut­ter. Die Ka­lau­er emp­fin­det sie als störend.

Co­rin­ne Ca­duff be­grüßt es zwar ei­nen sprach­ex­pe­ri­men­tel­len Text im Wett­be­werb zu ha­ben, aber sie hat kei­ne Lust da­zu. Das Le­sen sei zu zeit­auf­wen­dig. Ob Der­ar­ti­ges noch zeit­ge­mäß sei? Oder sei der Text gar ein An­griff auf das ak­tu­el­le Timemanagement?

Die­ses Fra­ge weist Jandl zu­rück. Es sei ein schö­ner poe­ti­scher Text, ‑Win­kels möch­te ger­ne die Poe­tik er­klärt haben‑, bei dem nicht al­les ver­stan­den wer­den muss. Man kön­ne ihn le­sen wie ei­nen Rohrschachtest.

Burk­hard Spin­nen weist dar­auf­hin, daß je­der li­te­ra­ri­sche Text ei­ne An­stren­gung erfordere.

Mehr fällt mir da­zu auch nicht ein.

Da­mit ist der ers­te Tag sehr an­stren­gend zu En­de ge­gan­gen. Ei­nen po­ten­ti­el­len Preis­trä­ger ha­be ich noch nicht ver­spürt und bin ge­spannt auf morgen.

Bachmannpreis 2012 –TDDL ‑Moster, Ramnek, Richner

Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt – Der 36. Bachmannpreis 2012

Der ers­te Le­se­vor­mit­tag ist be­en­det. Es la­sen Ste­fan Mos­ter, no­mi­niert von Burk­hard Spin­nen, Hu­go Ram­nek, der Kan­di­dat von Hil­de­gard Kel­ler so­wie Mir­jam Rich­ner, die Mei­ke Feß­mann vor­ge­schla­gen hatte.

Ste­fan Mos­ter, der seit 10 Jah­ren in Finn­land lebt und laut In­tro schreibt, um die Welt zu ver­ste­hen, liest ei­nen Text mit dem Ti­tel „Der Hund von Sa­lo­ni­ki“, der ver­schie­de­ne Er­zähl­ebe­nen durch viel­fäl­ti­ge Ver­wei­se mit­ein­an­der ver­knüpft. Die Er­in­ne­rung an ei­nen Kampf mit ei­nem Hund, den der Prot­ago­nist als Acht­zehn­jäh­ri­ger auf sei­ner ers­ten Rei­se nach Grie­chen­land er­leb­te und ei­gent­lich schon ver­ges­sen glaub­te, taucht nach Jahr­zehn­ten wie­der auf. Aus­lö­ser ist die Be­ob­ach­tung in Is­tan­bul, dort wer­fen Män­ner zu ih­rer Be­lus­ti­gung Hun­de ins Was­ser. Sei­ner Toch­ter, die ihn be­glei­tet, tischt er ei­ne kin­di­sche Er­klä­rung für die­ses Tun auf. Die Zu­hö­re­rin ver­mu­te­te, daß die Toch­ter noch recht klein sei, und bil­ligt so die Not­lü­ge. Kur­ze Zeit spä­ter stellt sich her­aus, daß sie be­reits sech­zehn Jah­re alt ist. Zwi­schen die­se bei­den Er­zähl­strän­ge schiebt sich ein Tram­pen nach Grie­chen­land mit al­len denk­ba­ren Hindernissen.

Die Ju­ry ist frisch und sehr dis­kus­si­ons­be­reit. Win­kels lobt den Text Mos­ters als schö­ne Er­öff­nung der Bach­mann­ta­ge. Er emp­fin­det ihn ru­hig und gleich­zei­tig in­ten­siv, er bie­te zahl­rei­che Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten für den Le­ser. Trotz der sehr gu­ten Kon­struk­ti­on mit vie­len Ver­kno­tun­gen der Er­zähl­ebe­nen, scheint er ihm ein we­nig gleich­för­mig. Win­kels deu­tet ihn als Me­di­ta­ti­on über Er­in­nern und Ver­ges­sen am Bei­spiel ei­nes exis­ten­ti­el­len Ereignisses.

Kel­ler ver­weist auf die li­te­ra­tur­ge­schicht­li­che Di­men­si­on des Hun­de­mo­tivs. Ihr ge­fällt die Ver­zah­nung der ein­zel­nen Ge­schich­ten. Mos­ter sei das Wie­der­fin­den der Er­in­ne­rung sehr schön ge­lun­gen, in­dem er ei­ne stark rea­lis­tisch er­zähl­te Ebe­ne als Traum ein­ge­scho­ben ha­be. Spä­ter er­gänzt sie, daß sich die Be­wusst­seins­ebe­nen der ver­schie­de­nen Fi­gu­ren kaum un­ter­schei­den würden.

Auch Ca­duff wür­digt den Hund als li­te­ra­ri­sches Mo­tiv, eben­so die fei­ne und ein­dring­li­che Wort­wahl. Die Tram­per­ge­schich­te im Mit­tel­teil klingt ihr je­doch zu sehr nach Freud und Leid der Interrailgeneration.

Die Spra­che Mos­ters hat auch Da­nie­la Stri­gl be­ein­druckt. Sie greift als Bei­spiel den „Hund der sich trau­rig troll­te“ auf. Al­ler­dings ver­spürt sie ei­ne ge­wis­se Harm­lo­sig­keit und stört sich auf der rea­len Ebe­ne an der nicht ein­tre­ten­den Toll­wut­angst nach dem Biss. Auch sie be­tont ihr Ver­ständ­nis des Hun­de­sym­bols, das sie psy­cho­ana­ly­tisch als un­heim­li­ches Tier des Eros interpretiert.

Zur Ver­tei­di­gung des Tex­tes ver­wirft Spin­nen zu­nächst die Ge­gen­ar­gu­men­te. Der Text sei nicht harm­los, son­dern von sub­ti­lem er­zäh­le­ri­schen Auf­wand. Er zeich­ne sich durch die Gleich­zei­tig­keit von Re­fle­xi­on und Er­le­ben aus. Spin­nen plau­dert ein we­nig aus dem ei­ge­nen bio­gra­phi­schen Näh­käst­chen, und schließt mit dem Fa­zit, dies sei ein un­end­lich me­lan­cho­lisch, trau­ri­ger Text.

Mei­ke Feß­mann sieht vor al­lem die sprach­li­chen Qua­li­tä­ten des Tex­tes, der al­ler­dings in­halt­lich des Gu­ten zu viel wol­le. Auch ihr fällt auf, daß die Toch­ter wie ein Klein­kind be­han­delt wird. Ihr miss­fiel das Hun­de­mo­tiv, wie ihr der ge­sam­te Text sym­bo­lisch zu über­frach­tet sei.

Mo­ti­vi­sche Aus­le­ge­wa­re“ ur­teilt Jandl, der Au­tor hät­te sich reich­lich am Mo­tiv­vor­rat der Li­te­ra­tur be­dient und die­se, wie am Bei­spiel Hund zu se­hen sei, exis­ten­zia­lis­tisch hoch­ge­ju­belt. Das Ver­ges­sen des Hun­de­bis­ses hält er für un­glaub­wür­dig, die zu­rück­blei­ben­de Nar­be hät­te die Fi­gur doch stets an das Er­eig­nis er­in­nern müs­sen. Die man­geln­de Dif­fe­ren­zie­rung der Er­zähl­stim­men ist in sei­nen Au­gen ein wei­te­rer Kritikpunkt.

Ziem­lich auf­ge­bracht wirft ihm Spin­nen die Stren­ge ei­nes „sta­li­nis­ti­schen Zoll­be­am­ten“ vor, was Jandl zu dem amü­san­ten Kon­ter ver­an­lasst, Spin­nen hät­te sein Ur­teil über den Text „auf­grund ei­ge­ner bio­gra­phi­scher Er­fah­rung pa­the­tisch aufgepimt“.

Viel­leicht geht es mir ja ähn­lich wie Spin­nen? Je­den­falls war Mos­ters Text, trotz ei­ni­ger Kri­tik­punk­te in der Er­zähl­lo­gik, für mich der an­ge­nehms­te des heu­ti­gen Ta­ges. Ins­ge­samt ist es ei­ne strin­gent und span­nend er­zähl­te Ge­schich­te. Be­son­ders ein­drucks­voll schil­dert Mos­ter den Kampf mit dem Hund. Angst und Ekel auf Sei­ten des jun­gen Man­nes sind eben­so gut nach­voll­zieh­bar, wie Schmerz und Elend des Hundes.

Es folg­te der aus Kärn­ten stam­men­de und in Zü­rich le­ben­de und un­ter­rich­ten­de Hu­go Ram­nek. Sein Text „Ket­ten­ka­rus­sell“ wur­de von Hil­de­gard Kel­ler vor­ge­schla­gen und schil­dert drei Ta­ge ei­nes länd­li­chen Jahr­mark­tes, im Text als Wie­sen­markt be­zeich­net. Hand­lungs­ort ist das Grenz­ge­biet zwi­schen Slo­we­ni­en und Kärn­ten. In den Er­in­ne­run­gen ei­nes Ju­gend­li­chen an die­sen Fest­rausch spie­len die eth­ni­schen und so­zia­len Kon­flik­te der Be­woh­ner ei­ne er­heb­li­che Rol­le. Die Ge­schich­te en­det mit ei­ner pa­the­ti­schen Ka­rus­sell­phan­ta­sie, sich über al­le Gren­zen hin­weg he­ben zu können.

Win­kels, der the­ma­tisch ei­ne Ähn­lich­keit mit der An­la­ge des Tex­tes von Mos­ter er­kennt, ist vom Sprach­stil Ramn­eks, der in kur­zen Sät­zen und Ex­kla­ma­tio­nen den In­halt die­ses Jahr­markt­trei­bens trans­por­tiert, an­ge­tan. Al­ler­dings ge­be der Au­tor manch­mal zu viel Gas und nei­ge zu Über­trei­bun­gen. Be­son­ders das Sym­bol der se­xu­el­len Er­re­gung, die Kel­ler­e­ch­se,  wer­de zu oft wie­der­holt. Zu­dem stel­le Ram­nek die so­zia­len Un­ter­schie­de in die­ser eth­nisch zwei­ge­teil­ten Welt zu dras­tisch und mas­siv dar.

Auch Stri­gl fin­det die Kel­ler­e­ch­se zu dick auf­ge­tra­gen. Hin­ge­gen sei der Aus­nah­me­zu­stand des Wie­sen­markts sehr gut in sprach­li­che Bil­der um­ge­setzt. Schau­keln, Krei­seln und Rausch wür­den auch in der Sprach­rhyth­mik gespiegelt.

Co­rin­na Ca­duff fragt, was Li­te­ra­tur zum stark dis­kur­si­ven The­ma Hei­mat und Frem­de noch bei­tra­gen kann. Sie sucht nach dem An­lie­gen, die­ses ih­rer Mei­nung nach sym­bo­lisch über­stra­pa­zier­ten Textes.

Jandl in­ter­pre­tiert die Kel­ler­e­ch­se nicht nur als se­xu­el­les Sym­bol. Der gan­ze Text sei für ihn ein li­te­ra­ri­scher Rum­mel, vol­ler En­thu­si­as­mie­run­gen, al­les dre­he und be­we­ge sich.

Ge­spal­ten in ih­rem Ur­teil ist Mei­ke Feß­mann. Ei­ner­seits be­sit­ze der Text schö­ne Bil­der und Aus­drü­cke, an­de­rer­seits er­zeu­ge der star­ke Sym­bol­cha­rak­ter ei­nen pa­ra­do­xen Ef­fekt. Die Se­xua­li­tät sprin­ge ei­nem ge­ra­de­zu an je­der Stel­le ins Gesicht.

Spin­nen kon­sta­tiert, dies sei ein Text, der schön sein wol­le, und er he­ge Vor­be­hal­te ge­gen ei­ne der­ar­ti­ge In­ten­ti­on. Zu vie­le ba­ro­cke Wort­schöp­fun­gen, lau­te und viel­stim­mi­ge Bil­der, die manch­mal ins Kli­schee ab­drif­ten, stö­ren ihn. Dem Kunst­werk als sprachim­pres­sio­nis­ti­sches Ge­bil­de zeu­ge er je­doch Re­spekt und Anerkennung.

Eher ex­pres­sio­nis­tisch als ba­rock wirkt auf Kel­ler die­ser Text. Sei­ne Be­son­der­heit sei die  Rhyth­mik, die sehr gut in der heu­ti­gen Per­for­mance zum Aus­druck ge­kom­men sei. Sie be­trach­tet ihn als poe­ti­sche Su­che nach der Kind­heit. Sie er­in­nert sich an ih­re ei­ge­nen kind­li­chen Jahr­markt­er­leb­nis­se und schaut durch Ramnecks Sät­ze „aus der Vo­gel­per­spek­ti­ve auf den Jahrmarkt“.

Für mich war es kein nost­al­gi­scher Jahr­markts­gang, eher ein sehr rus­ti­ka­les Er­leb­nis, bei dem plötz­lich die Gren­ze zwi­schen zwei pe­ni­bel ge­trenn­ten Sphä­ren ver­wischt. In der Spra­che war es mir al­ler­dings zu derb.

Die letz­te Le­sung am Vor­mit­tag be­stritt die jun­ge Mir­jam Rich­ner. Die Kan­di­da­tin wur­de von Mei­ke Feß­mann vor­ge­schla­gen. Der Vor­stel­lungs­film ver­rät ih­re Nei­gung Träu­me und Ge­dich­te in ih­re Pro­sa ein­zu­bau­en, was sich an ih­rem Text mit dem Ti­tel „Bett­lä­ge­ri­ge Ge­heim­nis­se“ deut­lich ab­le­sen lässt. Er er­zählt die dra­ma­ti­sche Ge­schich­te zwei­er jun­ger Frau­en und Leh­rer­kol­le­gin­nen, die ver­su­chen sich aus ei­nem von ei­ner La­wi­ne ver­schüt­te­ten Haus zu befreien.

Ge­wis­se Nö­te mit dem Text“ mel­det Da­nie­la Stri­gl. Sie hat gra­vie­ren­de Glaub­wür­dig­keits­pro­ble­me mit dem Er­zähl­vor­gang und fin­det den Text nicht geglückt.

Win­kels hin­ter­fragt, ob es sich tat­säch­lich um ein rea­les La­wi­nen­un­glück han­de­le. Un­un­ter­bro­chen wür­den in­ne­re Vor­gän­ge dargestellt.

Als Text ei­nes Wahns wer­tet Jandl das Vor­ge­tra­ge­ne. Dass die La­wi­ne le­dig­lich Ein­bil­dung sei, ver­rie­ten die vie­len Selbst­aus­künf­te der Fi­gur. Ei­ner­seits kön­ne ein sol­cher Text al­les er­zäh­len und das tue er auch. An­de­rer­seits müs­se Wahn­sinn in der Li­te­ra­tur auch wie­der ver­nünf­tig wer­den und das tue er nicht. Jandl fragt, was von Text üb­rig bleibe.

Ca­duff be­zeich­net den Text als Hin- und Her­ge­wei­ne im Han­ni-und-Nan­ni-Stil, der auf ein erns­tes The­ma ap­pli­ziert sei. Die Spra­che sei sa­lopp, la­pi­dar, Main­stream säu­selnd. Sie ver­steht die Funk­ti­on der Ge­dich­te nicht und rät Rich­ner, de­ren Aus­sa­ge bes­ser in die Pro­sa zu integrieren.

Laut Kel­ler be­inhal­tet der Text ei­nen un­er­hör­ten, wu­chern­den Reich­tum, sei aber „ir­gend­wo auf dem Weg“. Sie emp­fiehlt ei­ne Be­ra­tung und über­nimmt die­se gleich selbst, wenn sie über die Be­zie­hung zwi­schen Au­toren und ih­ren Fi­gu­ren doziert.

Da er­greift Feß­mann die Ver­tei­di­gung mit der Er­öff­nung, die­ses sei ein sur­rea­ler Text, was kei­ner ih­rer Vor­red­ner er­kannt ha­be. Da­mit dür­fe die Au­torin al­les, je­de Kri­tik an un­lo­gi­scher Hand­lung sei ob­so­let. Es ent­wi­ckelt sich ein klei­ner Dis­put zwi­schen Feß­mann, Stri­gl und Jandl, den letz­te­rer mit „ich mach’s mal sur­re­al, dann darf ich al­les, geht nicht“ beendet.

Die kur­ze Zeit, die Spin­nen vor dem Be­ginn der Mit­tags­pau­se bleibt, nutzt er zur Sym­pa­thie­be­kun­dung für die gir­ly­haf­te Jung­leh­rer­all­tags­rea­li­tät mit sur­rea­len Gedankengängen.

Ich emp­fand den Text als sehr tem­po­reich. Beim In­halt soll­te man un­be­dingt das Al­ter der 1988 ge­bo­re­nen Au­torin und da­mit si­cher­lich auch das der Ziel­grup­pe be­rück­sich­ti­gen. Die an­ge­ris­se­nen phi­lo­so­phisch-ethi­schen Dis­kus­sio­nen schei­nen mir in der Hin­sicht angemessen.

Das war mein Rück­blick auf den Vor­mit­tag, al­le Zi­ta­te nach bes­tem Wis­sen und Hö­ren, al­so oh­ne Gewähr.

Die Ju­ry bil­den in die­sem Jahr Co­ri­na Ca­duff, Paul Jandl, Hil­de­gard Eli­sa­beth Kel­ler, Mei­ke Feß­mann, Burk­hard Spin­nen, Cla­ris­sa Stad­ler, Da­nie­la Stri­gl und Hu­bert Win­kels. Ei­ne schö­ne Rang­lis­te hat die So­pra­nis­se parat.

Von al­len bis­he­ri­gen Le­sun­gen ist ein Vi­deo abrufbar.

3sat über­trägt Le­sun­gen und Dis­kus­sio­nen live:

5. Ju­li: 10.15 bis 15.15 Uhr

6. Ju­li: 10.15 bis 15.15 Uhr

7. Ju­li: 9.45 bis 14 .00 Uhr

8. Ju­li: 11.00 bis 12.00 Uhr – Preisverleihung

Mit der Snip­py-App gibt es die Smartphonvariante.

Bachmannpreis 2011 — Randt, Richter, Božiković, Klupp

Bachmannpreis – Dritter Tag, Preisträger, Resümee

Es mag viel­leicht mü­ßig er­schei­nen am Mon­tag nach dem Wett­le­sen noch ei­nen Bei­trag zu ver­fas­sen. Der Aus­gang ist ja be­reits be­kannt. Den­noch hier mein Resümee.

Die 35. Trä­ge­rin des Bach­mann-Prei­ses heißt Ma­ja Ha­der­lap und hat­te auch mich mit ih­rer Text „Im Kes­sel“ über­zeugt. Der voll­stän­di­ge Ro­man „En­gel des Ver­ges­sens“ er­scheint im Wallstein-Verlag.

Wei­te­re Prei­se er­hiel­ten Stef­fen Popp, Leif Randt und Tho­mas Klupp. Mei­ne zwei­te Fa­vo­ri­tin, Ni­na Buß­mann, wur­de mit dem 3sat-Preis aus­ge­zeich­net. Gun­ther Gel­tin­ger, des­sen Text mir sehr ge­fal­len hat, ging an die­sem Wo­chen­en­de in Kla­gen­furt lei­der leer aus. Der ers­te Le­sungs­ter­min scheint der un­dank­bars­te zu sein.

Am Sams­tag, dem drit­ten Tag des Wett­be­werbs hat­te Tho­mas Klupp mit sei­ner Sa­ti­re auf den Uni­be­trieb und die For­schungs­ge­gen­stän­de der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten den größ­ten Pu­bli­kums­er­folg des Fes­ti­vals. Er über­traf mit „9to5 Hard­core“ noch Stein­beis in der Zu­schau­er­gunst, was ein­deu­tig an der ge­konn­ten „Bach­mann­preis 2011 — Randt, Rich­ter, Boži­ko­vić, Klupp“ weiterlesen

Bachmannpreis 2011 — Reichlin, Haderlap, Rabinowich, Bußmann, Popp

8.6.2011 — Der zweite Tag

Am zwei­tem Le­sungs­tag hör­te ich ei­nen po­ten­ti­el­len Best­sel­ler­kan­di­da­ten, zwei po­ten­ti­el­le Bach­mann­preis­trä­ge­rin­nen und zwei Tex­te, die mich aus meh­re­ren Grün­den nicht erreichten.

Li­nus Reich­lin stell­te un­ter dem Ti­tel „Welt­ge­gend” die ers­ten drei Ka­pi­tel ei­nes Ro­mans vor, der in Af­gha­ni­stan, ge­nau­er im Mi­lieu der dort ein­ge­setz­ten Deut­schen Bun­des­wehr­trup­pen spielt. Das Wort Trup­pen zu be­nut­zen er­zeugt in mir ei­nen Wi­der­wil­len, führt aber di­rekt zum Su­jet des Tex­tes. Er er­zählt vom Krieg, von Bom­ben, von not­wen­di­ger Ver­tei­di­gung, von dem Di­lem­ma als Frie­dens­trup­pe kämp­fen zu müs­sen. Über­trof­fen wird dies nur von dem noch grö­ße­ren Zwie­spalt ei­nes Arz­tes, der im Schock oder in Not­wehr wahr­schein­lich das ge­tan hat, was er ge­ra­de nicht hät­te tun sol­len, ein Le­ben zerstören.

Es han­delt sich al­so um das ethi­sche Di­lem­ma ei­nes Ein­zel­nen, ob es in Af­gha­ni­stan oder an ei­nem an­de­ren Ort spielt, scheint da­bei ne­ben­säch­lich. Tat­säch­lich er­in­ner­te mich die Schil­de­rung der Ver­hält­nis­se und des Mit­ein­an­ders zwi­schen Sol­da­ten und Sol­da­tin­nen, als Stich­wor­te sei­en Män­ner­freund­schaft, Al­ko­hol und Sex ge­nannt, so­fort an MASH. Reich­lin ge­stal­tet die­sen Ro­man­ein­stieg span­nend und mit sehr viel Speed. Ein­mal an­ge­fan­gen möch­te be­son­ders der männ­li­che Le­ser si­cher ger­ne wei­ter le­sen. Ich könn­te mir vor­stel­len, daß das Buch ein gro­ßer Pu­bli­kums­er­folg wird, zu­mal es sich un­ter dem Deck­män­tel­chen der viel­dis­ku­tier­ten Af­gha­ni­st­an­pro­ble­ma­tik si­cher gut ver­mark­ten lässt.

Was sag­ten die Ju­ro­ren? Win­kels und Feß­mann, die Reich­lin vor­ge­schla­gen hat­te, schie­nen ganz „Bach­mann­preis 2011 — Reich­lin, Ha­der­lap, Ra­bi­no­wich, Buß­mann, Popp“ weiterlesen

Bachmannpreis 2011 — Praßler, Baum

Den gest­ri­gen Nach­mit­tag er­öff­ne­te An­na Ma­ria Praß­ler mit ih­rem Text „Das Andere“.

Wer his­to­ri­sche Be­zü­ge in li­te­ra­ri­sche Tex­te ein­bringt, soll­te sich be­wusst sein, was er tut, und sei­ne Be­le­ge gut re­cher­chiert ha­ben. Was Praß­ler über den Usus im an­ti­ken Rom sag­te wird man­cher Ar­chäo­lo­ge und His­to­ri­ker so nicht hin­neh­men wol­len, und wer aus Sue­tons De Vi­ta Cae­sar­um zi­tiert soll­te des­sen iro­ni­schen Stil er­ken­nen. Nun gut, ei­ne Ne­ben­sa­che, sie brach­te mich aber zu der Fra­ge, was die Prot­ago­nis­tin des Stü­ckes denn stu­die­re — Ge­schich­te, Ar­chäo­lo­gie, Thea­ter­wis­sen­schaf­ten?  Neh­men wir doch den neu­en Ba­che­lor-Stu­di­en­gang Kul­tur­wis­sen­schaf­ten, der passt im­mer und nimmt es viel­leicht auch nicht so ge­nau. Die­ses gan­ze Wis­sen­schafts­at­mo­sphä­re er­zeu­gen­de Bei­werk hät­te es mei­ner Mei­nung nach gar nicht ge­braucht. Die Ge­schich­te der ge­schei­ter­ten Be­zie­hung funk­tio­niert auch so. Die Grün­de der jun­gen Frau, „Bach­mann­preis 2011 — Praß­ler, Baum“ weiterlesen

Bachmannpreis 2011 — Geltinger, Steinbeis, Wisser

Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt — Der 35. Bachmannpreis 2011

Der ers­te Le­se­vor­mit­tag ist be­en­det. Es la­sen Gun­ther Gel­tin­ger auf Vor­schlag von Alain Clau­de Sul­zer, Ma­xi­mi­li­an Stein­beis, no­mi­niert von Burk­hard Spin­nen und Da­ni­el Wis­ser, der von Paul Jandl nach Kla­gen­furt ein­ge­la­den wurde.

Gun­ther Gel­tin­ger las ei­nen Aus­zug aus ei­nem Ro­man, der das Trau­ma ei­nes Jun­gen durch den Selbst­mord sei­ner Mut­ter zum The­ma hat. Gel­tin­ger stellt in der Sze­ne zum ei­nen das Ge­sche­hen aus der Sicht ei­nes Kin­des als auch die Re­flek­ti­on des er­wach­se­nen Man­nes über die­ses Er­eig­nis dar. Sei­ne Ein­sam­keit, sei­ne Angst, sei­ne Fra­ge nach der Schuld, da­mals wie heu­te, ver­stärkt Gel­tin­ger durch Bil­der aus der Na­tur. Da­durch wird die Moor­land­schaft, in der die Sze­ne spielt, fast zum zwei­ten Prot­ago­nis­ten. Sie lie­fert nicht nur die at­mo­sphä­ri­schen Bil­der, son­dern auch das Kon­struk­ti­ons­ge­rüst des Tex­tes. Er­in­ne­run­gen tau­chen auf, aber man­che blei­ben auch end­gül­tig in den ver­schie­de­nen Schich­ten des Moo­res verschluckt.

Die Ju­ro­ren, au­ßer den drei oben be­reits ge­nann­ten sind in die­sem Jahr Hil­de­gard Eli­sa­beth Kel­ler, Mei­ke Feß­mann, Da­nie­la Stigl und Hu­bert Win­kels ver­ant­wort­lich, ha­ben die­sen ers­ten Text äu­ßerst „Bach­mann­preis 2011 — Gel­tin­ger, Stein­beis, Wis­ser“ weiterlesen