5.7.2012 — Der Nachmittag des ersten Wettbewerbtages
Es lasen Andreas Stichmann, nominiert von Meike Feßmann, und die von Daniela Strigl vorgeschlagene Autorin Sabine Hassinger.
Andreas Stichmann, der am Leipziger Literaturinstitut studierte, erzählt in seinem Text „Der Einsteiger“ von einem Einbrecher, der zum teilnehmenden Beobachter wird.
Eine schöne Geschichte, wie Hubert Winkels findet, mit Thrillerelementen versetzt. Ob die Figur das Geschehen wirklich erlebt oder nur imaginiert bleibe offen. (Anscheinend möchte er sich nicht mehr dem Vorwurf aussetzten, einen surrealen Text nicht erkannt zu haben.) Winkels findet viel Gefallen an der Geschichte und bewundert den präzisen Einsatz der Grammatik, um das Erinnern der Figur an ihre Vergangenheit und die gleichzeitige Zukunftsphantasie miteinander zu verknüpfen.
Paul Jandl weist seinem Eindruck den Kurztitel „ Einschleichdieb ins bürgerliche Glück“ zu, seiner Meinung nach sei es ein schöner, stimmiger und stichhaltig erzählter Text.
Dem Lob schließt sich Keller an, mit der Einschränkung, daß sich der Handlungsimpuls verflüssige. Dadurch gewinne die Figur kein Profil, man komme ihr nicht nahe.
Eine temporeiche Erzählung mit interessanten Stellen, die sie jedoch kaum weiter beschäftigen wird, wertet Caduff.
Daniela Strigl hingegen fühlt sich an Hans-Christian Andersen erinnert, an seine Bewunderung der warmen Stube, und überlegt, ob es sich nur um einen Tagtraum handele. (s.o. surreal)
Die Einfachheit täusche, erklärt Feßmann, die Mentorin des Textes, die realistische Situation des Einbruchs vermische sich mit den Wunschträumen der Figur (surreale Drohung). Daraufhin entwickelte sich eine Diskussion zwischen Jandl, Strigl und Caduff, in der Jandl den schönen Schein anführt, Caduff die übergenerationelle Frage im gesamtgesellschaftlichen Kontext aufruft und Strigl den Text als haarscharf an der Klischeeidylle vorbei phantasiert bezeichnet.
Burkhard Spinnen ordnet Stichmanns Text als klassisch vampiristisch ein, da der Protagonist sich die Identität der Anderen aneigne. Derartige Texte habe er jedoch schon so viele gelesen, daß ihm die Besonderheit dieses Werks unklar bleibe.
Mein Favorit ist der Text nicht, er lässt mich ziemlich kalt.
Zum Abschluss des Nachmittags las Sabine Hassinger, die als Bildhauerin und Musiktherapeutin in der Psychiatrie arbeitete. Ihren Introfilm hat sie selbst gestaltet, auffallend waren die vielen seltsam skurrilen Papierbasteleien. Ebenso seltsam wirkte der Text „Die Taten und Laute des Tages“, der einem Drama gleich mit der Besetzungsliste der Figuren beginnt. Dass dies ein schwieriger Text werden wird, war klar. Daniela Strigl hat die Autorin vorgeschlagen, mich erinnerte der Text an Rabinowichs Erdfresserin vom letzten Jahr. Als er online war, versuchte ich mit zu lesen, was mich allerdings noch mehr verwirrte, da die Interpunktion wohl eine Hassingerische war. Frauen, ein toter Vater, Knochen in Schachteln mit Sand, mehr kam nicht bei mir an. Auch im Publikum machte sich Unruhe breit. Als die Lesung beendet war, drängten sich nicht wie sonst die Juroren zu Wort, sondern ein zögerliches Zaudern breitete sich aus. Jeder schien jedem gerne den Vortritt lassen zu wollen.
Hubert Winkels geht ritterlich als erster ins Turnier und gesteht sein Problem mit dem Text. Besonders die Personalpronomen haben ihn so genervt, daß er sich ihm nicht entspannt hingeben konnte.
Keller erinnert an die Vita der Autorin, an ihre Tätigkeit in einer psychiatrischen Klinik. Sie gehe anders mit der Sprache um, verlasse die Ebene der Semantik, erzeuge keinen Konsens. Als Sprechpartitur sei der schwer zugängliche Text geeignet.
Der Text sei kompliziert, so Strigl, und müsse eben mehrmals gelesen werden. Er handle von Glück und Unglück, eine Art Totenbuch, eine Krankengeschichte im Irrenhaus. Sie habe über die Interpretation nicht mit der Autorin gesprochen.
Meike Feßmann versucht dem Publikum vor Ort und draußen den Inhalt zu entschlüsseln. Erklärt den etwas zerrupften Ton mit der ständigen Zwischenrederei der Mutter. Die Kalauer empfindet sie als störend.
Corinne Caduff begrüßt es zwar einen sprachexperimentellen Text im Wettbewerb zu haben, aber sie hat keine Lust dazu. Das Lesen sei zu zeitaufwendig. Ob Derartiges noch zeitgemäß sei? Oder sei der Text gar ein Angriff auf das aktuelle Timemanagement?
Dieses Frage weist Jandl zurück. Es sei ein schöner poetischer Text, ‑Winkels möchte gerne die Poetik erklärt haben‑, bei dem nicht alles verstanden werden muss. Man könne ihn lesen wie einen Rohrschachtest.
Burkhard Spinnen weist daraufhin, daß jeder literarische Text eine Anstrengung erfordere.
Mehr fällt mir dazu auch nicht ein.
Damit ist der erste Tag sehr anstrengend zu Ende gegangen. Einen potentiellen Preisträger habe ich noch nicht verspürt und bin gespannt auf morgen.