Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt – Zweiter Vormittag, 6.7.2012
Inger-Maria Mahlke eröffnete mit der Lesung ihres sehr eindringlichen Textes den zweiten Tag des Bewerbs. Vorgeschlagen wurde die Kandidatin von Burkhard Spinnen. Im vorgestellten Romanausschnitt erzählt die Protagonistin in der Du-Form von ihrem Sohn Lukas, den sie verlassen will, von ihrem Job im Back-Shop und der neuen Karriere als Domina. Der Text nimmt mich sofort gefangen. Es stellt sich ein ähnliches Gefühl ein wie bei der Haderlap-Lesung im letzten Jahr. Für mich ist Inger-Maria Mahlke die Favoritin auf den Bachmannpreis.
Als erste Stimme der Jury meldet sich Hildegard Keller zu Wort. Nachdem sie ihre Version des Textes erklärte, sprach sie von Ein- und Auspeitscherei und störte sich sehr an dem „Du“. Die Autorin scheue sich ins Innere zu gehen. Keller vermisste ein Herz in der Geschichte.
Diese gefiel Hubert Winkels hingegen sehr gut. Besonders die Nahaufnahmen der verschiedenen Welten, sei es Back-Shop, Mutterwelt oder Sadowelt beeindruckten ihn. Einiges bleibe jedoch unklar, so die Beweggründe der Frau, ihren Sohn zu verlassen.
Spinnen macht darauf aufmerksam, daß es sich ja nur um einen Ausschnitt aus einem größeren Text handele. Die Frau tue Unsägliches und ringe darum.
Caduff widerspricht Kellers Suche nach dem Herzen. Der Text zeige nur die Oberfläche, wolle keine Reflexion und keine Psychologie. Sie findet ihn ganz toll. Eine freudlose Existenz in Kälte und Ausweglosigkeit, die von Mahlke gnadenlos konsequent dargestellt werde.
Meike Feßmann eröffnet die „Du“-Interpretation. Sie bezeichnet es als sozialtherapeutische Ansprache, die Kontrolle beabsichtigt. Sie findet den Text sprachlich öde.
Spinnen widerspricht, das „Du“ sei notwendig, um in dieser Situation am Leben zu bleiben.
Strigl, die im „Du“ eine Selbstansprache sieht, empfindet den Text wohltuend, da er dem Leser nichts aufdränge, nichts erkläre. Er funktioniere nur mit diesem „Du“ und er überrasche auf mehreren Ebenen.
Auch Jandl widerspricht Feßmanns Du-Deutung. Dies sei kein Ikea-Du, es sei moralisch bedingt.
Caduff führt die ökonomischen Verhältnisse an, die dieses „Du“ darstelle, sie wiederspricht Strigls Selbstansprache-Interpretation.
Die weitere Du-Debatte liefert ein Karl-Marx-Du von Spinnen und Kellers Web-Cam-Du. Feßmann erweitert ihre Kritik an dem Text durch den Vorwurf von Klischees und Ungereimtheiten. Sie bleibt aber die Einzige in der Runde, der diese Lesung nicht gefallen hat.
Als zweite Kandidatin des Tages trat die von Winkels nominierte Cornelia Travnicek auf. Ihr Text „Junge Hunde“ erzählt vom Abschied einer jungen Frau von ihrer Kindheit, die zugleich ein Abschied von Eltern, Haustieren und Heimat ist. Der Grund ist allerdings kein Umzug, sondern der Tod. Gleich zu Beginn stirbt der Hund Bagheera. Diese Dschungelbuchnamen, es taucht ein weiterer Hund namens Baloo auf, veranlasste mich zu einer überflüssigen Grübelei über die Namensfindung von Haustieren, die mich leider vom konzentrierten Zuhören ablenkte. Kurze Zeit später merkte ich, daß ich nicht mehr reinkam. Der Text ist mir fad.
Ganz anders ergeht es Meike Feßmann, sie zeigt großen Respekt für den warmen Pragmatismus der Geschichte, in der die Tiere endlich einfach Tiere bleiben dürfen. (Mit Dschungelbuchnamen?)
Strigl findet ihn sympatisch, vor allem, weil sie einst den Dackel „Mowgli“ besaß. (Schlimm ist das österreichischer Humor?)
Caduff bemängelt die Sprache, sie habe sich ihr als Kunstraum nicht erschlossen. Der Text habe Potential, müsse aber überarbeitet werden. Das eingebaute Märchen beurteilt sie als interessante Versuchsanlage.
Hubert Winkels endlich erklärt die Psychologie hinter der Dschungelbuchmetapher. Ernst sei wie Mowgli adoptiert. (Mowgli war doch der Dackel von Daniela Strigl.)
Paul Jandl ist nicht klar, wo im Text der Hund begraben liege. Er findet die Sprache banal und simpel und kann die tiefen Geheimnisse des Textes nicht finden.
Hubert Winkels deckt sie für ihn auf. Der Vater sei abtransportiert, die Mutter tot, das Haus werde verkauft und der Hund auch schon verstorben.
Jandl ist mit der Erklärung nicht zufrieden, die Geschichte bilde ein Kindheitskontinuum ab, das der Literatur nicht nützlich sein muss.
Hier greift Hildegard Keller zur Verteidigung ein. Die mangelnde Tiefe sei Programm, sie passe zum Lebensplauderton. Außerdem gebe es hier und da eine schöne Metapher.
Auch Feßmann tritt für Travnicek ein. Sie kritisiert ihre Kollegen, die Spracharbeit nur dann wahrnehmen würden, wenn sie markant wäre. Der Text lasse sich sehr wohl mythologisch und ikonographisch lesen (Dschungelbuch!).
Spinnen scheint sich am liebsten eines Kommentars zu enthalten. Er könne allem, was gesagt wurde, zustimmen. Der Text habe ihn nicht beunruhigt. Worauf Winkels fragt, ob Literatur denn heute noch beunruhigen müsse.
Die aus Russland stammende Olga Martynova las den Text „Ich werde sagen „Hi““. Vorgeschlagen wurde sie von Paul Jandl. Sie schildert die Erlebnisse und Beobachtungen des Jugendlichen Moritz, der sich zögerlich verliebt und sich Gedanken über das seltsame Verhalten der Erwachsenen macht. Endlich mal ein amüsanter Text, der mit ungewöhnlichen Settings und Figuren spielt und voll subtiler Ironie steckt.
Winkels gefällt der Text sehr gut. Er findet es schön, wie Moritz durch die Zeiten mäandert. Dies sei harmonisch und elegant dargestellt.
Strigl erfreut der hintersinnige, lakonisch-anarchische Witz. Sie erinnert an den vermeintlich harmlosen Holunderblütengeruch. Die Anhäufung des Verbs „sagte“ sei eindeutig ein Stilmittel.
Auch Feßmann bewertet den Text positiv, er sei souverän und luftig erzählt. Moritz beobachte wie ein Spion das Eheleben von Onkel und Tante, was sie an die Figur von Stichmann erinnere.
Jandl verspürt durch den Text die erotische Aufladung des kleinen Städtchens. Die Geschichte zeige die Lust am Schreiben in verschiedenen Varianten.
Caduff, die vorab würdigt, daß die russische Autorin, die Deutsch nicht als Muttersprache besitze, an dem Wettbewerb teilnehme. Sie lobt die erfrischende Sprache und findet die Geschichte außerordentlich witzig, was sich ihr erst durch den Vortrag erschlossen habe. Sie kritisiert jedoch die Verwendung von Versatzstücken.
Strigl stellt daraufhin zur Frage, ob wir einen Text anders lesen, wenn er von einem Autor mit ausländischen Wurzeln verfasst worden sei. Sie erklärt, der Text stehe in slawischer Tradition und erinnere sie an den leicht skurrilen tschechischen Witz.