Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt – Der 36. Bachmannpreis 2012
Der erste Lesevormittag ist beendet. Es lasen Stefan Moster, nominiert von Burkhard Spinnen, Hugo Ramnek, der Kandidat von Hildegard Keller sowie Mirjam Richner, die Meike Feßmann vorgeschlagen hatte.
Stefan Moster, der seit 10 Jahren in Finnland lebt und laut Intro schreibt, um die Welt zu verstehen, liest einen Text mit dem Titel „Der Hund von Saloniki“, der verschiedene Erzählebenen durch vielfältige Verweise miteinander verknüpft. Die Erinnerung an einen Kampf mit einem Hund, den der Protagonist als Achtzehnjähriger auf seiner ersten Reise nach Griechenland erlebte und eigentlich schon vergessen glaubte, taucht nach Jahrzehnten wieder auf. Auslöser ist die Beobachtung in Istanbul, dort werfen Männer zu ihrer Belustigung Hunde ins Wasser. Seiner Tochter, die ihn begleitet, tischt er eine kindische Erklärung für dieses Tun auf. Die Zuhörerin vermutete, daß die Tochter noch recht klein sei, und billigt so die Notlüge. Kurze Zeit später stellt sich heraus, daß sie bereits sechzehn Jahre alt ist. Zwischen diese beiden Erzählstränge schiebt sich ein Trampen nach Griechenland mit allen denkbaren Hindernissen.
Die Jury ist frisch und sehr diskussionsbereit. Winkels lobt den Text Mosters als schöne Eröffnung der Bachmanntage. Er empfindet ihn ruhig und gleichzeitig intensiv, er biete zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten für den Leser. Trotz der sehr guten Konstruktion mit vielen Verknotungen der Erzählebenen, scheint er ihm ein wenig gleichförmig. Winkels deutet ihn als Meditation über Erinnern und Vergessen am Beispiel eines existentiellen Ereignisses.
Keller verweist auf die literaturgeschichtliche Dimension des Hundemotivs. Ihr gefällt die Verzahnung der einzelnen Geschichten. Moster sei das Wiederfinden der Erinnerung sehr schön gelungen, indem er eine stark realistisch erzählte Ebene als Traum eingeschoben habe. Später ergänzt sie, daß sich die Bewusstseinsebenen der verschiedenen Figuren kaum unterscheiden würden.
Auch Caduff würdigt den Hund als literarisches Motiv, ebenso die feine und eindringliche Wortwahl. Die Trampergeschichte im Mittelteil klingt ihr jedoch zu sehr nach Freud und Leid der Interrailgeneration.
Die Sprache Mosters hat auch Daniela Strigl beeindruckt. Sie greift als Beispiel den „Hund der sich traurig trollte“ auf. Allerdings verspürt sie eine gewisse Harmlosigkeit und stört sich auf der realen Ebene an der nicht eintretenden Tollwutangst nach dem Biss. Auch sie betont ihr Verständnis des Hundesymbols, das sie psychoanalytisch als unheimliches Tier des Eros interpretiert.
Zur Verteidigung des Textes verwirft Spinnen zunächst die Gegenargumente. Der Text sei nicht harmlos, sondern von subtilem erzählerischen Aufwand. Er zeichne sich durch die Gleichzeitigkeit von Reflexion und Erleben aus. Spinnen plaudert ein wenig aus dem eigenen biographischen Nähkästchen, und schließt mit dem Fazit, dies sei ein unendlich melancholisch, trauriger Text.
Meike Feßmann sieht vor allem die sprachlichen Qualitäten des Textes, der allerdings inhaltlich des Guten zu viel wolle. Auch ihr fällt auf, daß die Tochter wie ein Kleinkind behandelt wird. Ihr missfiel das Hundemotiv, wie ihr der gesamte Text symbolisch zu überfrachtet sei.
„Motivische Auslegeware“ urteilt Jandl, der Autor hätte sich reichlich am Motivvorrat der Literatur bedient und diese, wie am Beispiel Hund zu sehen sei, existenzialistisch hochgejubelt. Das Vergessen des Hundebisses hält er für unglaubwürdig, die zurückbleibende Narbe hätte die Figur doch stets an das Ereignis erinnern müssen. Die mangelnde Differenzierung der Erzählstimmen ist in seinen Augen ein weiterer Kritikpunkt.
Ziemlich aufgebracht wirft ihm Spinnen die Strenge eines „stalinistischen Zollbeamten“ vor, was Jandl zu dem amüsanten Konter veranlasst, Spinnen hätte sein Urteil über den Text „aufgrund eigener biographischer Erfahrung pathetisch aufgepimt“.
Vielleicht geht es mir ja ähnlich wie Spinnen? Jedenfalls war Mosters Text, trotz einiger Kritikpunkte in der Erzähllogik, für mich der angenehmste des heutigen Tages. Insgesamt ist es eine stringent und spannend erzählte Geschichte. Besonders eindrucksvoll schildert Moster den Kampf mit dem Hund. Angst und Ekel auf Seiten des jungen Mannes sind ebenso gut nachvollziehbar, wie Schmerz und Elend des Hundes.
Es folgte der aus Kärnten stammende und in Zürich lebende und unterrichtende Hugo Ramnek. Sein Text „Kettenkarussell“ wurde von Hildegard Keller vorgeschlagen und schildert drei Tage eines ländlichen Jahrmarktes, im Text als Wiesenmarkt bezeichnet. Handlungsort ist das Grenzgebiet zwischen Slowenien und Kärnten. In den Erinnerungen eines Jugendlichen an diesen Festrausch spielen die ethnischen und sozialen Konflikte der Bewohner eine erhebliche Rolle. Die Geschichte endet mit einer pathetischen Karussellphantasie, sich über alle Grenzen hinweg heben zu können.
Winkels, der thematisch eine Ähnlichkeit mit der Anlage des Textes von Moster erkennt, ist vom Sprachstil Ramneks, der in kurzen Sätzen und Exklamationen den Inhalt dieses Jahrmarkttreibens transportiert, angetan. Allerdings gebe der Autor manchmal zu viel Gas und neige zu Übertreibungen. Besonders das Symbol der sexuellen Erregung, die Kellerechse, werde zu oft wiederholt. Zudem stelle Ramnek die sozialen Unterschiede in dieser ethnisch zweigeteilten Welt zu drastisch und massiv dar.
Auch Strigl findet die Kellerechse zu dick aufgetragen. Hingegen sei der Ausnahmezustand des Wiesenmarkts sehr gut in sprachliche Bilder umgesetzt. Schaukeln, Kreiseln und Rausch würden auch in der Sprachrhythmik gespiegelt.
Corinna Caduff fragt, was Literatur zum stark diskursiven Thema Heimat und Fremde noch beitragen kann. Sie sucht nach dem Anliegen, dieses ihrer Meinung nach symbolisch überstrapazierten Textes.
Jandl interpretiert die Kellerechse nicht nur als sexuelles Symbol. Der ganze Text sei für ihn ein literarischer Rummel, voller Enthusiasmierungen, alles drehe und bewege sich.
Gespalten in ihrem Urteil ist Meike Feßmann. Einerseits besitze der Text schöne Bilder und Ausdrücke, andererseits erzeuge der starke Symbolcharakter einen paradoxen Effekt. Die Sexualität springe einem geradezu an jeder Stelle ins Gesicht.
Spinnen konstatiert, dies sei ein Text, der schön sein wolle, und er hege Vorbehalte gegen eine derartige Intention. Zu viele barocke Wortschöpfungen, laute und vielstimmige Bilder, die manchmal ins Klischee abdriften, stören ihn. Dem Kunstwerk als sprachimpressionistisches Gebilde zeuge er jedoch Respekt und Anerkennung.
Eher expressionistisch als barock wirkt auf Keller dieser Text. Seine Besonderheit sei die Rhythmik, die sehr gut in der heutigen Performance zum Ausdruck gekommen sei. Sie betrachtet ihn als poetische Suche nach der Kindheit. Sie erinnert sich an ihre eigenen kindlichen Jahrmarkterlebnisse und schaut durch Ramnecks Sätze „aus der Vogelperspektive auf den Jahrmarkt“.
Für mich war es kein nostalgischer Jahrmarktsgang, eher ein sehr rustikales Erlebnis, bei dem plötzlich die Grenze zwischen zwei penibel getrennten Sphären verwischt. In der Sprache war es mir allerdings zu derb.
Die letzte Lesung am Vormittag bestritt die junge Mirjam Richner. Die Kandidatin wurde von Meike Feßmann vorgeschlagen. Der Vorstellungsfilm verrät ihre Neigung Träume und Gedichte in ihre Prosa einzubauen, was sich an ihrem Text mit dem Titel „Bettlägerige Geheimnisse“ deutlich ablesen lässt. Er erzählt die dramatische Geschichte zweier junger Frauen und Lehrerkolleginnen, die versuchen sich aus einem von einer Lawine verschütteten Haus zu befreien.
„Gewisse Nöte mit dem Text“ meldet Daniela Strigl. Sie hat gravierende Glaubwürdigkeitsprobleme mit dem Erzählvorgang und findet den Text nicht geglückt.
Winkels hinterfragt, ob es sich tatsächlich um ein reales Lawinenunglück handele. Ununterbrochen würden innere Vorgänge dargestellt.
Als Text eines Wahns wertet Jandl das Vorgetragene. Dass die Lawine lediglich Einbildung sei, verrieten die vielen Selbstauskünfte der Figur. Einerseits könne ein solcher Text alles erzählen und das tue er auch. Andererseits müsse Wahnsinn in der Literatur auch wieder vernünftig werden und das tue er nicht. Jandl fragt, was von Text übrig bleibe.
Caduff bezeichnet den Text als Hin- und Hergeweine im Hanni-und-Nanni-Stil, der auf ein ernstes Thema appliziert sei. Die Sprache sei salopp, lapidar, Mainstream säuselnd. Sie versteht die Funktion der Gedichte nicht und rät Richner, deren Aussage besser in die Prosa zu integrieren.
Laut Keller beinhaltet der Text einen unerhörten, wuchernden Reichtum, sei aber „irgendwo auf dem Weg“. Sie empfiehlt eine Beratung und übernimmt diese gleich selbst, wenn sie über die Beziehung zwischen Autoren und ihren Figuren doziert.
Da ergreift Feßmann die Verteidigung mit der Eröffnung, dieses sei ein surrealer Text, was keiner ihrer Vorredner erkannt habe. Damit dürfe die Autorin alles, jede Kritik an unlogischer Handlung sei obsolet. Es entwickelt sich ein kleiner Disput zwischen Feßmann, Strigl und Jandl, den letzterer mit „ich mach’s mal surreal, dann darf ich alles, geht nicht“ beendet.
Die kurze Zeit, die Spinnen vor dem Beginn der Mittagspause bleibt, nutzt er zur Sympathiebekundung für die girlyhafte Junglehreralltagsrealität mit surrealen Gedankengängen.
Ich empfand den Text als sehr temporeich. Beim Inhalt sollte man unbedingt das Alter der 1988 geborenen Autorin und damit sicherlich auch das der Zielgruppe berücksichtigen. Die angerissenen philosophisch-ethischen Diskussionen scheinen mir in der Hinsicht angemessen.
Das war mein Rückblick auf den Vormittag, alle Zitate nach bestem Wissen und Hören, also ohne Gewähr.
Die Jury bilden in diesem Jahr Corina Caduff, Paul Jandl, Hildegard Elisabeth Keller, Meike Feßmann, Burkhard Spinnen, Clarissa Stadler, Daniela Strigl und Hubert Winkels. Eine schöne Rangliste hat die Sopranisse parat.
Von allen bisherigen Lesungen ist ein Video abrufbar.
3sat überträgt Lesungen und Diskussionen live:
5. Juli: 10.15 bis 15.15 Uhr
6. Juli: 10.15 bis 15.15 Uhr
7. Juli: 9.45 bis 14 .00 Uhr
8. Juli: 11.00 bis 12.00 Uhr – Preisverleihung
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