Clare Chambers erzählt in „Scheue Wesen“ von der Macht der Erwachsenen und der Ohnmacht von Kindern
„In ALLEN GESCHEITERTEN BEZIEHUNGEN (sic!) gibt es einen zunächst noch unbemerkten Punkt, in dem man später jedoch den Anfang vom Ende erkennt. Für Helen war es das Wochenende, an dem der Versteckte Mann nach Westbury Park kam.“
Dieser erste Satz in geradezu tolstoischem Ton benennt die Hauptthemen von Clare Chambers neuem Roman „Scheue Wesen“. Es sind problematische Beziehungen, geprägt von Abhängigkeiten, und eine kaspar-hauser-artige Figur, deren attribuierte Rätselhaftigkeit das Interesse der Leserin weckt. Die Verlagsankündigung, es handele sich „um eine Liebesgeschichte aus dem London der Sechziger“, greift viel zu kurz und wird der Komplexität des Romans nicht gerecht. Um so präziser erscheint mir der dem englischen Original entsprechende Titel „Scheue Wesen“. Er klingt geheimnisvoll und greift dadurch sein wichtigstes Gestaltungselement auf.
Die englische Autorin Clare Chambers lehrte Englische Literatur in Oxford und war als Lektorin tätig. Ihr vorliegender zweiter Roman beeindruckt durch die kluge Konstruktion einer ungewöhnlichen Geschichte. Ebenso wie in Chambers Erstling „Kleine Freuden“ begegnen wir einer besonderen Frauenfigur.
Helens Hansford arbeitet noch nicht lange als Kunsttherapeutin in der psychiatrischen Klinik Westbury Park. Gegen den Wunsch ihrer Eltern hat sie ihren Lehrerberuf aufgegeben, begibt sich jedoch in eine neue Abhängigkeit, der Affäre mit dem Psychiater Gil. Diesem Verhältnis verdankt sie zwar eine neue Wohnung, die neben Komfort mehr Freiheit bringt, es verursacht aber auch jede Menge Selbstkritik, denn Gil ist ein verheirateter Mann, der sich klischeegemäß nie von seiner Frau trennen wird. „Keiner von ihren Kollegen, von der Klinikleitung bis zur Stationsbelegschaft, ahnte etwas von ihrer Affäre, und wenn Helen in seiner Gegenwart stärker errötete oder mehr als normal gelächelt hatte … na ja, so ging es jedem, der vom vollen Lichtstrahl von Gils Aufmerksamkeit getroffen wurde.“ Allerdings ist Helen für das Jahr 1964, in dem der Hauptstrang der Handlung spielt, äußerst emanzipiert. Die emotionale Abhängigkeit in dieser Liebesbeziehung missfällt ihr ebenso wie die Vermischung von Arbeits- und Liebesverhältnis. Doch ist es genau dies, was eines Tages zur Begegnung mit einem ungewöhnlichen Patienten führt. Es ist der 37-jährige William Tapping, der verwahrlost und stumm aufgefunden und in die Klinik aufgenommen wird. Jahrzehntelang verbargen seine Tanten ihn vor der Öffentlichkeit bis der Tod der letzten ihn ihr preisgab. Allesamt waren von der Weltkriegs-Zeit und den Umständen zu scheuen Wesen verwandelt worden, Rose, die jung und attraktiv eines Tages verschwand, Elsie, die vor einigen Jahren verstarb und schließlich Louisa, deren Zähigkeit auch ihr Ende nicht verhindern konnte. Helen betreut den menschenscheuen William bald in ihren Kunststunden. „Helens Aufgabe, wie man ihr in ihrem Bewerbungsgespräch klargemacht hatte, bestand darin, ihnen Materialien und Raum zur Verfügung zu stellen und sie zum freien Ausdruck zu ermuntern, aber nicht, ihnen etwas beizubringen oder Diagnosen zu stellen“. Aber „von allen professionellen Mitarbeitern in Westbury Park war sie in der einzigartigen Position, diesem versteckten Mann aus seiner Stummheit herauszuhelfen. Nicht mal Gil hatte so einen Vorteil.“ Als Williams außerordentliches Zeichentalent offenbar wird, beginnt Helen seine Geschichte zu erforschen.
Diese Geschichte erzählt Chambers in 48 Kapiteln auf gut 500 Seiten, indem sie die Haupthandlung im Jahr 1964 mit den Rückblicken in Williams Vergangenheit verknüpft. Jahreszahlen über den Kapiteln ordnen die Zeitsprünge bis in das Jahr 1938 ein. Prägend für diese Epoche stehen zudem eine Vielzahl von Verweisen aus Literatur, Musik und Bildender Kunst. Sie öffnen einen weiten Spielraum für Interpretation. So bemerkt Helen ein Bild in Gils Arbeitszimmer, „ein Druck von Richard Dadds Schlafender Titania, ein Gemälde, das Helen gut kannte und zu dem sie unter anderen Umständen auch eine Bemerkung gemacht hätte.“ Über ihrem Schreibtisch hingegen hängt Dürers Melencolia. Beides sind Kunstwerke voller Symbolik, die ebenso wie der künstliche Apfel, den Gil bei einer Begegnung mit Helen versehentlich aus einer Obstschale greift, auf die Unechtheit der sich anbahnenden Beziehung verweisen.
Chambers schildert Helens Umgang mit den Patienten während der Kunsttherapie empathisch, das gilt auch für die Szenen aus der isolierten Kindheit Williams. Diese verbrachte er fern von Kontakten oder gar anderen Kindern. Seine Tanten agierten lediglich als verwaltenden Betreuerinnen. Ein kurzer Internatsbesuch allerdings und ein Ferienaufenthalt bei einem Schulkameraden ließen ihn erahnen, was Familie bedeuten kann.
Die Parallelen in den Geschichten ihrer Figuren deutet die Autorin zunächst nur an, führt diese dann zusammen und ergründet schließlich das Geheimnis von Williams Schicksal. Ihr Augenmerk gilt den Verhältnissen. Persönliche Freiheit und gegenseitige Achtung stellt sie Abhängigkeit und Unterdrückung entgegen. Das gilt für das Verhältnis von Mann und Frau, insbesondere für das zwischen Erwachsenen und Kindern sowie Psychiatern und Patienten. Die Eltern-Kind-Beziehung scheint Chambers besonders wichtig. „Wie machtlos Kinder doch waren, allen Schrullen ihrer Eltern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Kein Wunder, dass sie sich an ihre Spielzeugpistolen klammerten.“ Wir begegnen im Roman mehreren derartigen Konstellationen. Helen, die sich bereits von den Ansprüchen ihrer Eltern emanzipiert hat, verfolgt als teilnehmende Beobachterin, wie ihre Nichte Lorraine unter dem elterlichen Druck derart leidet, daß auch sie eine Patientin in Westbury Park wird. Helen erlebt bei einem Abendessen, wie seltsam Gil und dessen Frau Kathleen ihre Kinder behandeln und sie erfährt durch ihre Recherchen, welche Folgen die mangelnde Fürsorge der Tanten auf William hatten. „Ich versuche doch nur, ihn zu beschützen“, sagte eine von ihnen. „Ist nicht alles, was ich tue, nur zu Williams Bestem?“
Gegen Ende taucht ein Elternpaar auf, das als Gegenentwurf zu den bisherigen Beispielen gelten kann. Chambers idealisiert sie in geradezu märchenhafter Weise. Doch warum nicht? Sie seien dem Roman, seinen Figuren, seinen Lesern und Leserinnen gegönnt.
Im Nachwort weist die Autorinnen darauf hin, daß die Idee für ihren Roman auf einer Geschichte gründet, die sich 1952 ereignet hat. Zeitungen titelten damals „Das Haus der Geheimnisse gibt seinen verlorenen Mann preis“. Chambers versetzt die Geschichte in das Jahr 1964, da dieses einen Wendepunkt in der Psychologischen Therapie darstellt. Eine Literaturliste zu diesem Thema fügt sie an.