In „Königsallee“ erweist Hans Pleschinski einem grossen Schriftsteller und einem grossen Gefühl Reverenz
„Und was ist Treue? Sie ist Liebe, ohne zu sehen, der Sieg über ein verhaßtes Vergessen. Wir begegnen einem Angesicht, das wir lieben, und wir werden wieder davon getrennt. Das Vergessen ist sicher, aller Trennungsschmerz ist nur Schmerz über sicheres Vergessen. Unsere Einbildungskraft, unser Erinnerungsvermögen sind schwächer, als wir glauben möchten. Wir werden nicht mehr sehen und aufhören zu lieben. Was bleibt, ist die Gewißheit, daß jedes neue Zusammentreffen unserer Natur mit dieser Lebenserscheinung mit Sicherheit unser Gefühl erneuern, uns wieder, oder eigentlich noch immer, sie lieben lassen wird.“
1927 verbrachten die Manns ihre Sommerfrische auf Sylt. Während sich Frau Katia in der Strandgesellschaft langweilte, fand Thomas Mann dort seinen Augenstern. In vorsichtigen Gesprächen näherte er sich dem jungen Klaus Heuser, es folgte eine Einladung in die Münchner Familienvilla. Schließlich machte ein Kuss den Jungen zu einer unvergessenen Begegnung.
Diese unerfüllte Liebe verwandelte Thomas Mann in Literatur und erschuf manche seiner Figuren nach dem Vorbild jenes Knaben. Hans Pleschinski seinerseits formt aus der realen Liebe und aus der literarisch sublimierten einen Roman, der nicht nur diese folgenreiche Begegnung in den Mittelpunkt stellt, sondern für die Akzeptanz verschiedener Lebensformen eintritt.
Sein Roman Königsallee versetzt den Leser in den Breidenbacher Hof an der bekannten Prachtstraße Düsseldorfs. Dort treffen im Sommer 1954 zwei Herren aus Ostasien als Gäste ein. Das verlangte Doppelzimmer ist im Grandhotel unvorstellbar. Doch der Direktor findet eine Lösung, die der ungewöhnlichen Paarkonstellation entspricht. Zwei Einzelzimmer mit Durchgangstür im fünften Stock. Dort im abgelegenen Mansardengeschoss können sie sogar die Betten zusammen schieben, es stört sich keiner daran. Einverstanden damit wäre wohl auch ein anderer vom Direktor mit Hochspannung erwarteter Gast, der Schriftseller und Nobelpreisträger Thomas Mann, der in Düsseldorf einen Vortrag halten wird.
Pleschinski erzählt von den zwei Tagen, die diesem Galaabend vorausgehen, und von der darauf folgenden Nacht. Die aufgeregte Atmosphäre im Foyer des Grandhotels, wo Personal und das Empfangskomitee der Stadt den noblen Gast erwarten, kontrastiert Pleschinski durch das Paar in der Mansarde. Klaus Heuser und Anwar Batak, sein indonesischer Gefährte, machen es sich trotz realer und vermeintlicher Exotik in aller Normalität gemütlich als Erika Mann, die Tochter des Großschriftstellers, an ihre Tür klopft. Zusammen mit ihrer Mutter hält sie alles fern, was den vielgeplagten Vater stören könnte. In der Furcht, dessen kränkelnde Stimme könne vollends verstummen, wenn er den Angebeteten erblicke, sucht sie Heuser auf und erteilt Kontaktverbot. Mit Champagner und Jägermeister lässt Pleschinski den dominanten Charme Erika Manns aufleben.
Kaum kommen die beiden Herren zu Puste als schon der nächste Bittsteller aus dem Mann’schen Milieu auftritt. Professor Ernst Bertram, ein Relikt aus brauner Vergangenheit, der bei der braunen Bücherverbrennung zwar die Werke Manns beiseite legte, aber dennoch die Freundschaft zerstörte. Er hat die Naziherrschaft überlebt, wenn auch gebrochen, und sucht jetzt die Aussöhnung. Vom Augenstern Klaus erhofft er Unterstützung. Pleschinski würzt die Begegnungen mit zahlreichen Zitaten und erzählt im Hintergrund von biographischen und historischen Details. Neben Manns Werken, Tagebüchern und Korrespondenz dient ihm auch der Nachlaß Heusers als Quelle. Dieser verbrachte seit 1954 regelmäßig seinen Sommer in Düsseldorf, die Begegnung im Breidenbacher Hof ist allerdings eine Zutat Pleschinskis.
Die Figuren seiner Haupthandlung, Klaus und Anwar, begeben sich nach den beiden Besuchern hungrig und ermattet in das Gasthaus „Zum goldenen Ring“, wo sich Anwar dem goldenen Trunke ergibt, Wein von Mosel und Rhein fließen in Strömen. An letzterem weilen sie schließlich in dunkler Nacht auf einer Uferbank. Auch hier nicht alleine, jetzt ist es der Sohn Golo, der auf Hilfe drängt. Klaus soll dem Vater sein neuestes Werk zustecken, unauffällig bei einer Begegnung, zu der es, wie Golo versichert, kommen wird.
Die Lektüre dieses Romans versetzt einen mitten hinein in das Düsseldorf der 50er Jahre. Noch längst sind nicht alle Zerstörungen des Krieges behoben, doch an den Lücken schieben sich bereits Männer mit Wohlstandswampen vorbei. Zum gesellschaftlichen Aufschwung der Rheinmetropole trägt der öffentliche Auftritt Manns bei, es wird einer seiner letzten sein, von dem Pleschinski amüsant und aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Historischen Tatsachen, teilweise durch neue Quellen belegt, fügt er Fiktives, wie die zeitgleiche Anwesenheit und Begegnung von Heuser und Mann hinzu. Der so entstandene Roman erweist dem großen Schriftsteller Reverenz, verstärkt wird dies durch die zahlreichen Zitate, die Pleschinski in die Handlung einbettet. Seine Krönung findet sie in einem fiktiven Tagebucheintrag, in dem Mann den Stil seines Goethe aus „Lotte in Weimar“ trifft. Die Figuren, die sich in „Königsallee“ tummeln, sind zum Teil nicht nur namentlich dem Œuvre Manns entliehen, darunter Grünlich und ein selbstverständlich kleiner Herr Friedemann. Eine besonders gelungene Metaspielerei treibt Pleschinski mit der Figur des Armand. Wie er seinen Armand als Reinkarnation des Felix Krull inszeniert, den Mann nach dem Vorbild Klaus Heuser gestaltet hat, darüber ist nicht nur Fräulein Anita verblüfft.
Doch „Königsallee“ kann nicht alleine als ein Roman über und zu Ehren von Thomas Mann gelesen werden. „Königsallee“ ist ebenso ein Roman über die Liebe, die nicht nur das Paar Klaus Heuser und Anwar Batak sowie Thomas Mann mit Heuser verbindet, sondern auch Ernst Bertram, Ernst Glöckner und Stefan George. Pleschinski erzählt in seinem Roman durch diese Figuren von der Kraft der Liebe, ihrem Wirken und vor allem von ihrer Beständigkeit.