Arche Ingeborg
Das diesjährige Wettlesen begann mit einem Kandidaten eines neuen Jurors. Roman Marchel, der Schriftsteller aus dem Waldviertel wurde von Arno Dusini, dem Professor aus Wien, geladen. Schon Marchels Videoporträt vermittelte eine melancholische Stimmung, die sich im Text fortsetzte. Dieser erzählt die Geschichte einer alten Frau, die mit dem Leiden ihres im Sterben liegenden Mannes überfordert ist und ihm schließlich mit eigener Hand ein Ende bereitet. Kurioserweise haben wir gerade gestern in unserem Literaturkreis über Michele Murgias Roman Accabadora gesprochen, der ein ähnliches Thema behandelt. Allerdings längst nicht so virtuos wie Marchel, der um das Ereignis ein feines Gewebe von Erinnerungen spinnt. Mich hat der Text, den ich in der Mittagspause nochmals gelesen habe, sehr beeindruckt. Lediglich einige Austriazismen wie „ausgetrocknetes Tuch“ haben mich etwas gestört.
Winkels, der als erster Juror spricht, äußerte als einziger Kritik. Ihm missfielen die handwerklichen Mängel und Ungenauigkeiten. Feßmann deutete die von Winkels monierten Passagen als erlebte Rede. Strigl bezeichnete diese Geschichte um eine „Familie mit hoher Männersterblichkeit“ als „Understatementtext“, der ihr gefalle. Auch Hildegard Keller war von dem „stillen, sehr diskreten Text“ betroffen. Während Steiner vor der Derbheit der Frauenfiguren zurück schreckte, sah Strigl in der Witwenschaft ein neues Lebensmodell. Spinnen stimmte nach langen Ausführungen zur Männersterblichkeit Winkels Urteil zu. Diese beiden Kritiker mußten sich dann allerdings von ihrem neuen Kollegen Dusini über die vielschichtige Thematik und die diffizilen literarischen Beziehungen des Textes in Kenntnis setzen lassen.
Es folgte die Leipziger Lyrikerin Kerstin Preiwuß, die am Literaturinstitut dieser Stadt studierte und lehrte. Meike Feßmann hatte sie für den Wettbewerb nominiert. Preiwuß erster Roman „Restwärme“, aus dem sie einen Ausschnitt las, erscheint im Berlin Verlag. Während im Vorgängertext nur eine Katze und prähistorische Pferde auftraten, verhalf Preiwuß einer ganzen Menagerie zum Leben und auch zum Tode. Es treten auf, ein Hund, eine Libelle, unzählige Nerze wie Aale verschiedener Ausformungen. Mit vielen Details führte die Autorin in Aufzucht und Tötung von Nerzen ein. Sie weiß weit mehr als Wikipedia. Aber ich will es eher nicht wissen, ich will doch kein Nerzfarmer werden. Diese Zuchtfabrik ist ein KZ und man ahnt irgendeine Nazivergangenheit lässt nicht lange auf sich warten. Ich habe mich irgendwann aus dem Text verabschiedet, er konnte mich nicht genug fesseln. Auch bei der Jury kam er nicht so gut an. Strigl empfand, daß die historische Hypothek nicht durch ein überraschendes literarisches Element eingelöst werde. Dies sei das Naturkundliche entgegnete Feßmann, die ihre Kandidatin verteidigte. Winkels hingegen teilte Strigls Bedenken, fand aber die Passage über die „durchpulsierende Gewalt der Nerze“ sehr beeindruckend. Keller gab zu Bedenken, daß es sich ja nur um den Ausschnitt eines Romans handele. Dusini spürte wiederum literarische Bezüge auf, ihn erinnerten die Nerzrüden an Paul Celans „Nazi“-Rüden. Sehr wohltuend war da Kellers Mahnung von der „Akrobatik der Exegese“ in den „Echoraum der Weltliteratur“ wieder zum Text zu finden. Doch der scheint für den Wettbewerb nicht mehr zu retten. Winkels Ansicht war „der Text entwerte sich selber“ und Strigls glaubte „ihm nicht Gutes zu tun, wenn wir genau hinsehen“, so die sehr harten Schlusskritiken.
Tobias Sommer, der Kandidat Juri Steiners, las als letzter in der heutigen Vormittagsrunde. Er hat bereits Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht und ist im Broterwerb Finanzhauptsekretär. Entsprechend spielt sein Text in einem Finanzamt. Der Ich-Erzähler wird des Betrugs beschuldigt und muss vor dem Steuerprüfer erscheinen. Das erinnert an Franz Kafka, ist aber weniger spannend zu lesen. Die Juroren waren nicht überzeugt, manche plauderten lieber von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Amt. Mich hatte schon die Mittagsmüdigkeit befallen, der auch mein Interesse an der Diskussion zum Opfer fiel.
Den Nachmittag eröffnete Gertraud Klemm. Die studierte Biologin aus Wien beschäftigt sich literarisch, wie Videoporträt und ihre Webseite verraten mit der Rolle der Frau. Die noch immer nicht eingelöste Gleichberechtigung ist auch Gegenstand ihres Textes. Überforderung als Mutter eines Kleinkinds und die Empörung über ungleiche Belastung in der Partnerschaft lassen die Protagonistin nicht nur ihr Familienidyll, sondern auch sich selbst in Frage stellen. Eine durchaus nachvollziehbare Situation. Und doch möchte ich von dieser Muttertagstristesse nichts lesen. Nicht weil, wie Daniela Strigl ganz zum Ende der Diskussion bemerkte, Klemm ein Weltbild schildere, was für den Leser nicht auszuhalten sei, sondern weil es einfach eine viel zu oft erzählte Geschichte ist. Davon gab es früher jede Menge in Reihen, die beispielsweise „Neue Frau“ benannt wurden.
Die Kritiker hingegen schienen ganz angetan. Arno Dusini bewunderte, wie Klemm die Aggression ihrer Protagonistin in der Aufeinanderhäufung von Aussagen ausdrückt, „alles wird zuviel“. Seine Analyse des Wortes „Schreibabyambulanz“ in die Bestandteile „Schrei“ und „Schreib“ empfinde ich allerdings überinterpretiert. Auch Feßmann lobte den Text, der das „Frustrationslabyrinth der Kleinkinderziehung“ zeige. „Radikal, banal“ und „kunstvoll rhythmisiert“ lautete das positive Urteil Strigls während Winkels auf Jelinek und Bernhard verwies. Überraschend für mich prägte Spinnen die Bewertung „Frauenzeitschriftsbefreiungsaufschreiprosa“ und erzählte dann von seinen eigenen Schreibabys. Vergeblich versuchte er durch Tipps die Fortpflanzungsängste Juri Steiners zu therapieren, der anlässlich der dargestellten Schrecken vor weiterer Familienplanung zurückschreckte.
Solche Privatissima mögen ja ganz lustig sein. Mich nervt dieses Abschweifen schon bei meinem Literaturkreis, aus dem in solchen Fällen ganz schnell ein Gesprächskreis wird. Von Literaturkritikern erwarte ich erst recht, daß sie beim Text bleiben.
Daniela Strigl führte ihre Kollegen zu diesem zurück. Sie rückte Gertrud Klemm allerdings in die Nähe einer Marlene Haushofer, was ich nicht nachvollziehen konnte.
Auch die Physikerin Olga Flor drang tief ins Innere der Mann-Frau-Beziehung ein. Ein früheres Liebespaar trifft sich wieder und frischt die Beziehung in altbewährter Art auf. Unterwürfiges Frauenverhalten, das die gewählten Geschlechterrollen an nationalen Konflikten spiegelt. Mich hat der Text der Kandidatin von Daniela Strigl nicht überzeugt. Olga Flor ist übrigens zum zweiten Mal beim Bachmannwettbewerb angetreten. Leider konnte ich die Jurydiskussion nicht ganz verfolgen, die Sendezeit war zu Ende und der Livestream funktionierte auf meinem Rechner nicht. So habe ich die klaren Worte Dusinis verpasst. Aus dem Getwitter war zu entnehmen, daß er von „Wohlstandsliteratur“ sprach und daran zweifelt, daß ein „Arschf*k“ Literatur ausmache. Die ersten Wortmeldungen der Kritiker konnte ich allerdings noch erhaschen. Winkels sprach nach anfänglichem Zögern davon, daß dies eine alte Geschichte sei, die jeder kenne. Strigl sinnierte über die Symbolik der Platanen und entlarvte Anals*x als Indikator für schwierige Liebesgeschichten. Den Sätzen Meike Feßmanns konnte ich nur zustimmen. Die Heldin besitze eine „eingebaute Maschine zur Selbstzüchtigung“ und kritisiere sich ständig selbst. Auch Kellers Eindruck, daß Flors’ Text sich bruchlos an den von Gertrud Klemm anschließe, konnte ich mit Abstrichen zustimmen. Es handelte sich in beiden Fällen um die Art von Frauenliteratur, die ich auch in den Achtzigerjahren gelesen habe und eigentlich für überwunden hielt.
Die Arche Ingeborg hatte am Ende des 1. Lesetages für Pferde, Katze, Hund, Libelle, Nerze, Aale, Maulwurf, Esel, Zosse, zwei Wale, eine Sprotte und einen kleinen Fisch aufgenommen. Eventuell erhalten erhalten sie am morgigen Freitag Gesellschaft. Es lesen von 10.00 bis 15.30 Uhr Anne-Kathrin Heier, Birgit Pölzl, Senthuran Varatharajah, Michael Fehr und Romana Ganzoni.
Kleine Liste der Klagenfurt-Kommentatoren (Vergessene bitte Kommentar nutzen):
Sophies Literaturen
Doris walk-the-lines
Kaltmamsell serviert auf Vorpeisenplatte
Hallo Atalante,
danke für diese unterhaltsame und zugleich sehr informative Zusammenfassung.
Ich habe es gestern geschafft, auch 2 Texte zu lesen: den von Roman Marchel und den von Gertraud Klemm.
Beide haben mir sehr gut gefallen. Es mag auch damit zusammenhängen, dass ich die Frauenliteratur der 80-er Jahre verpasst habe, bin damit noch nicht gesättigt. 🙂 Ob ich allerdings einen ganzen Roman im Stil von Klemms Text lesen kann / möchte sei dahingestellt. Er hat mir tatsächlich auch stark an Bernhard erinnert (sie ist auch Österreicherin :-)), nur den humorvollen Unterton habe ich vermisst.
So wie es aussieht, muss ich die anderen Texte von gestern nicht nachlesen und kann mich auf die heutigen Überraschungen freuen. 🙂
LG,
Dana
Hallo Dana,
ob Klemms Text inhaltlich gefällt, hängt sicher auch von der eigenen Situation ab. Für mich hatte er allerdings auch literarisch überhaupt nichts Überraschendes.
Freundliche Grüße, Atalante