Bachmann-Wettbewerb — Sieger sangen am 2. Tag
Der Vormittag des zweiten Tages endete mit der Lesung des Siegertextes. Nicht nur, weil ich wenig Kritik vernahm und natürlich überhaupt nicht, weil der Autor nicht nur über eine attraktive Sprache verfügt, sondern weil er der ArcheIngeborg kein weiteres Geschöpf hinzu fügte. Zwar wurde im Video eine Schlange erwähnt, aber diese Videos nehme ich einfach nicht ernst.
Der Tag begann mit Anne-Kathrin Heier aus Berlin. Sie studierte am Hildesheimer Literaturinstitut und arbeitet als freie Lektorin. Ihr Klagenfurt-Mentor ist Burkhard Spinnen.
Sie las den anspruchsvollen Text „Ichthys“, dessen gewählte Sprache viele schöne Sätze hervorbrachte. Nur zwei Beispiele, „die ich den Damen und Herren der Geschäftsführung unter den Anzugstoff in alle Körperöffnungen hineinhauche“ oder „Autos am Rand, die die Grenzen nur in der Sommerzeit überfahren.“
Dusini lobte den Text als ernsthaft und konsequent. Er greife die Großstadttradition auf, erinnere an Baudelaire und Benjamin. Das Erzählende Ich will von der Familie weg. Drogen seien der Versuch seines Auswegs. Dusini konstatierte eine „Logik des Albtraumhaften“. Der Leser wisse allerdings nie, wo der Text sich gerade befinde, in der Realität oder im Albtraum. Heier zeige, nach seiner Meinung, das Illusionspotential und die Möglichkeiten von Literatur auf.
Winkels hingegen sprach von einem rätselhaften Text. Um wenigstens seinen Titel „Ichtys“ den vermeintlich unbedarften Zuschauern ein wenig zu enträtseln, erging er sich lange in der Erläuterung der christlichen Symbolik. Ich hätte lieber mehr zum Text an sich gehört.
Meike Feßmann, die mich an diesem Tag sehr beeindruckt hat, empfand Heiers Text als kunstfertig, aber im Detail ungenau. Zudem störte sie der große Kunstwille, dessen gewollte Bedeutsamkeit sie als prätentiös bezeichnete.
Dies sei ein gefundenes Fressen für Germanistenkritiker, so Strigl. Den „verstiegenen Bildern“ des „sehr exaltierten Textes“ konnte sie nicht immer folgen. Heier sei eine intelligente Autorin, trotzdem blieb Strigl dem Text gegenüber ambivalent, auch wenn er „einige sehr schöne Kleider“ trage.
Ganz und gar nicht gefallen hat es Keller. Sie war verwundert, daß die Autorin sich mit einem „sprachlich so sehr schwacher Text“ zum Wettbewerb gewagt habe.
Für Steiner, der die Auflösung des Ichs in die Sprache als sehr real sah, spiegelte der Text die Anonymität und das Gewaltpotential der Großstadt. Ein Trip, der das Leben des 21. Jahrhunderts festhalte.
Angefacht von Dusini, der seine Kollegen wie im Proseminar mahnte, die Identifizierung von Texten mit Autoren zu unterlassen, entstand ein verständlicher Unmut in der Runde.
Nach einigen Einwürfen holte Spinnen weit aus, um über die Funktion von Kunst zu sinnieren. Dazu instrumentalisierte er die Impressionisten „aus unseren Wohnküchen und Schlafzimmer“, nur um sich letztendlich Juri Steiners Interpretation anzuschließen und ihn dafür noch zu loben. Während Dusini sich im Seminar zu fühlen schien, tauchte Spinnen bis ins Klassenzimmer zurück.
Keller beharrte auf ihrer Meinung. Der Text ermögliche dem Leser keine Mitarbeit und lasse ihn alleine mit Sätzen, wie „Die Vorhersehbarkeit ist der Menschheit eigen“. Das sei unverständlich. Sie bestritt die Literarizität des Textes, worauf Spinnen einwarf, „wie lesen sie dann Joyce“. Auf Kellers Kritik erwiderte Strigl, es gebe auch Texte, die sich als widerborstige Gegner präsentierten.
Abschließender Arche-Status, Viecher auch hier, Fische, Würmer, Riesenvögel.
Die in Graz geborene Birgit Pölzl, leitet die Literaturabteilung des dortigen Kulturhauses der Minoriten. Sie wurde von Arno Dusini zum Wettbewerb geladen. In ihre Geschichte „Maia“erzählt eine Mutter vom Tod ihres Kindes und dem Versuch ihre Trauer auf einer spirituellen Reise nach Tibet zu bewältigen.
Für Winkels hatte er keine gute Botschaft, der litaneihafte Singsang werde zur Langeweile.
Strigl tippte auf Trauerarbeit in Tibet, die in lyrischer Sprache überaus bedächtigt voran gehe. Das stark Gefühlsbefrachtete sei problematisch, auch wenn der Text interessante Passagen aufweise.
Keller bezeichnete das Thema als „großes Loslassen“, „eine Todesmeditation“ während Steiner die Globalisierung assoziierte.
Sehr überein stimme ich mit Feßmanns Aussage, der Text verlange nichts ab und sei Esoterikkitsch.
Damit lud sie den Unmut Arno Dusinis auf sich. Er kritisierte seine Kritikerkollegen. Dies sei ein Text vom Abschiednehmen, kein beruhigender Text. Voller Kraftanstrengungen in der Auseinandersetzung mit dem Verlust eines Kindes.
In der Twitterdebatte fiel der Name Coelho. Für die Arche fügte Pölzl exotischere Fauna hinzu, Bär, Elefant, Yak, Zitronenfalter, Schaf, Lama, Wildesel.
Senthuran Varatharajah, der mutmaßliche diesjährige Bachmannpreisgewinner, hat bisher noch keine literarische Veröffentlichung vorgelegt, dafür aber bald einen Doktorgrad in Philosophie. Der aus Sri Lanka stammende Autor lebt in Berlin.
Sein Text „Vor der Zunahme der Zeichen“ gibt den Facebookchat zwischen zwei jungen studierenden Immigranten wieder.
Winkels, der wie ich über keinen Facebookaccount verfügt, versuchte überflüssigerweise die dortige Chatfunktion zu erklären. Leider völlig verwirrt und falsch. Der Text hat ihm so oder so gefallen, besonders die „Erschaffen des Asyls im Anderen“.
Daraufhin hat Feßmann einen kurzen Aufklärungsversuch unternommen.
Die leicht genervte Hildegard Keller wollte Winkels nicht lang und breit Facebook erklären. Sie hatte mit Gewinn diese Begegnung zweier „eingesprachten“ Menschen gelesen, womit sie auf Maja Haderlaps Eröffnungsrede verwies. Dieser virtuelle Dialog biete Einblick in zwei Biografien zwischen Geburt und Berufung. Bemerkenswert sei der Tonfall des männlichen Protagonisten, der sehr gehoben den Stil großer Philosophen des 18. Jahrhunderts aufnehme. Keller zeigte sich von diesem religionsphilosophisch interessierten Text beeindruckt.
Daniela Strigl monierte, daß man so nicht in Facebook rede. Die Konstruktion überzeugt sie nicht. Eine Kombination von Facebook und Platonischem Dialog erfordere mehr Form und Kunstwille, so entstehe kein literarischer Mehrwert. Sie hatte den Eindruck, dies sei ein Wettbewerb zweier Gezeichneter, um die schlimmere Kindheit.
Spinnen glaubte einer griechische Tragödie beizuwohnen. Wobei er ähnlich defizitäre Kenntnis vom antiken Theater offenbarte wie Winkels vom Chatten. Der Text greife pränatale Traumatisierungen auf, allerdings in einem „bei Hegel gelerntem Deutsch“.
Feßmann stellte die Intention des Textes heraus, er zwinge über Flüchtlinge nachzudenke. Seine Form eröffne die Möglichkeit einzelne Geschichten aus dem Leben der beiden Figuren zu erzählen. Varatharajah provoziere den Leser zum Nachdenken.
Spinnen entgegnete, die Schilderung einer schrecklichen Familiensituation sei kein philosophischer Dialog, worauf Feßmann ihm kulturelle Überheblichkeit vorwarf.
Dusini lobte den Autor, seinen Mut zur Metaphysik, sein literarisches und mythologisches Wissen. Er entdeckte einen Kafkaverweis in den Lungenproblemen der Figur. Besonders beeindruckend fand er das gelbe Carepaket auf dem die Protagonistin ihren mit gelber Schrift verzeichneten Namen las. Diese im Grunde imaginierte Kennzeichnung war mir auch aufgefallen. Dusini sprach über die Psychoanalyse von Zeichen und verglich diesen Debüt-Text eines Jungautors mit Sartres „Die Wörter“.
Feßmann fügte hinzu, daß der Text auf allen sprachlichen Ebenen von der Muttersprache handele und zog Parallelen zu Derrida.
Der Nachmittag wurde von Michael Fehr eröffnet, der auf Einladung von Juri Steiner nach Klagenfurt kam. Fehr hat am Schweizer Literaturinstitut und an der Hochschule der Künste Bern studiert. Aufgrund seiner Seheinschränkung hat er den Text „Semiliberg“ zeilenweise über Kopfhörer aufgenommen und dann gehend und gestikulierend nachgesprochen. Die Lesung wurde zur Performance.
Leider war ich etwas zu spät eingestiegen und hatte nicht so recht den Anschluss an diese Geschichte gefunden, in der es um Konflikte, Gewehre, Männerbünde und Heimat ging.
Steiner erklärte in der anschließenden Diskussion zwar die spezifisch schweizerischen Hintergründe. Ich möchte hier auf den Text verweisen, und hoffe, das sage ich jetzt schon, daß er nicht den Hauptpreis erhält. Die Gefahr sehe ich allerdings durchaus. Auch wenn es an Tieren nicht mangelte. Fuchs, Hase, Pferd, Schwein, Affe, Sauhund, die letzten drei meta, waren Fehrs Beitrag zur Arche.
Winkels bezweifelte die behaupteten Auszüge des Text, der in der Lesung Kapitelsprünge aufwies. Gerade dies empfand er als schön und trickreich. Der starke Text mit seiner Schwarzweiß-Malerei, die sich in den Namen der Figuren spiegele, habe ihn beeindruckt.
An Schweizer Bauerntheater fühlte Strigl sich erinnert, allerdings an eines mit sehr komplexen Sätzen. Sie sprach von einem „gefakten Nationalepos“ und davon, daß Winkels immer klüger als der Autor sei. Ein sehr origineller Texte, auch wenn er mit Klischees hantiere.
Feßmann bekannte, daß sie dem Text auf dem Leim gegangen sei, und ihn zunächst ablehnte.
Dusini begab sich ausnahmsweise auf die Metaebene. Er erkannte die Jury und Situation im Text wieder. Seine weiteren komplexen und interessanten Ausführungen galten der Lautchoreografie des Textes.
Auch Keller gefiel die Form spoken word. Sie mache Sprache in diesem Text, der fast ein Krimi sei, zu einem „ganz langsamen Tier“.
Strigl betonte, daß die Sprache, die regionale Ausdrücke wie „halbbatzig“ aufweise, wichtig für das Gelingen des Textes sei.
Im Folgenden wurde über die Diskrepanz zwischen mündlichem Vortrag und schriftlicher Form diskutiert und der Einfluß des Mediums auf die Bewertung des Textes.
Romana Ganzoni, die aus dem rätoromanischen Sprachgebiet der Schweiz stammt, 20 Jahre Deutsch und Geschichte unterrichtete und seit 2013 literarische Texte veröffentlicht, ist die Kandidatin Hildegard Kellers.
Ihr spannender Text mit dem Titel „Ignis cool“ stellt eine weibliche Figur in den Mittelpunkt, die mit ihrem Wagen auf einer Passhöhe gestrandet ist, und dort über ihr Leben nachdenkt. Meiner Meinung ist dies eine Geschichte über Missbrauch, die eindeutigen Symbole wurden von der Jury jedoch nicht thematisiert. Ganzoni hat ihren Text sehr gut gelesen, geradezu professionell wie eine Schauspielerin. Diesen Eindruck teilte ich mit mehreren Twitter-Nutzern, aber nicht mit der Jury.
Feßmann fühlte sich durch den Vortrag sogar in einen anderen Text versetzt. Eigentlich fand sie die Geschichte der festsitzenden Frau lässig und gut erzählt. Eine abgründige Mutter-Tochter-Geschichte. Doch durch die übermäßige Betonung sei sie ihr unendlich langweilig geworden.
Spinnen konstatierte, wenn auch widerstrebend, die Tendenz dieses Jahres. In vielen Texten setzten sich Frauen mittleren Alters mit ihrer Situation auseinander. Auch er kritisierte den Vortragsstil, sprach die Autorin sogar oberlehrerhaft an.
Strigl möchte über Text reden. Der Selbstmord scheint ihr nicht logisch aus dem Geschehen hervor zugehen.
Keller erinnerte die Kollegen daran, daß der Vortragsstil nicht im Vordergrund stehe. Dies sei ein schriftlich funktionierender Text. Der Pass symbolisiere die Schwelle im Leben der Protagonistin. Sie bleibe in einem Auto stecken, das der Inbegriff ihrer Fremdbestimmung sei. Die Eruption sei zwar das Grundprinzip dieses Textes, ihr folge Gewalt, kein Selbstmord. Keller verwies auf das offenes Ende.
Juri Steiner zeigte sich am Ende des zweiten Tag des Bachmannpreises zum Glück wieder versöhnt mit den Frauen, weil diese nun einen Molotovcocktail zu sich nehmen. Na dann Prost.
Klagenfurt-Kommentatoren:
Kaltmamsells Vorspeisenplatte
Sophies Literaturen
Doris bei Wolfgangs Literaturcafé