Schmaler Pfad in die Freiheit

James Baldwins autobiographischer Roman „Von dieser Welt“

Pre­di­ger sein hat noch kei­nen (…) von sei­nen Schwei­ne­rei­en abgehalten.“

Von Lie­be und Un­ter­drü­ckung han­delt der im Jahr 1953 er­schie­ne­ne und jetzt in ei­ner Neu­über­set­zung wie­der auf­ge­leg­te Ro­man „Von die­ser Welt“ des Ame­ri­ka­ners Ja­mes Bald­win. Sein The­ma ist die be­gin­nen­de Eman­zi­pa­ti­on ei­nes Heranwachsenden.

Der vier­zehn­jäh­ri­ge John lei­det un­ter Fremd­be­stim­mung und ei­nem Man­gel an Lie­be. Er weiß nicht, daß der Va­ter, Dia­kon ei­ner Bap­tis­ten­ge­mein­de, nicht sein leib­li­cher ist. Der streng­gläu­bi­ge Ga­bri­el nahm als er Eli­sa­beth hei­ra­te­te, de­ren „in Sün­de“ ge­zeug­ten Sohn als Süh­ne ei­ge­ner Ver­feh­lun­gen auf. Doch trotz sei­nes Ge­lüb­des, soll­ten ihm die vä­ter­li­chen Ge­füh­le nie ge­lin­gen. Fun­da­men­ta­lis­ti­sche Fröm­mig­keit so­wie de­ren Schat­ten­sei­te, die Schein­hei­lig­keit, sind die gro­ßen The­men die­ses Ro­mans, des­sen Hand­lungs­rah­men der Er­we­ckungs­got­tes­dienst ei­ner evan­ge­li­ka­len Bap­tis­ten­ge­mein­de in Har­lem bildet.

Der in die­ser Glau­bens­ge­mein­schaft ge­fan­ge­ne John trägt au­to­bio­gra­phi­sche Zü­ge, zu de­nen sich der 1924 in New York ge­bo­re­ne und 1987 im süd­fran­zö­si­schen Saint-Paul ge­stor­be­ne Ja­mes Bald­win of­fen be­kann­te. Um den ras­sis­ti­schen Ver­hält­nis­sen sei­ner Hei­mat, ge­gen die er in der Bür­ger­rechts­be­we­gung kämpf­te, zu ent­ge­hen, aber auch we­gen sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät leb­te er von 1948–1957 und von 1970 bis zu sei­nem Tod in Frank­reich. 1953 schrieb er wäh­rend ei­nes Auf­ent­halts in der Schweiz, in dem von Ber­gen um­ge­be­nen Kur­ort Leu­ker­bad, den hier vor­lie­gen­den Ro­man. „Go tell it on the Moun­tain“  heißt er im Ori­gi­nal. Die­se Zei­le des be­rühm­ten Gos­pels kann man nicht nur als Hin­weis auf sei­ne Hand­lung, son­dern auch auf sei­nen Ent­ste­hungs­ort verstehen.

Der Ro­man ba­siert nicht nur auf den Er­in­ne­run­gen sei­nes Au­tors. Er­in­ne­run­gen sind auch das vor­herr­schen­de Ge­stal­tungs­ele­ment. Die­se webt Bald­win kunst­voll in das Ge­sche­hen ei­nes ein­zi­gen Ta­ges ein, auf des­sen Hö­he­punkt ein Got­tes­dienst steht. Der ers­te Teil des ins­ge­samt drei­tei­li­gen Werks dient Bald­win der Ex­po­si­ti­on sei­ner Fi­gu­ren. Mut­ter Eli­sa­beth und Johns jün­ge­re Ge­schwis­ter Roy, Sa­rah und Ruth zäh­len wie Va­ter Ga­bri­el und Tan­te Flo­rence zur Fa­mi­lie. Brot­her Eli­sha, der 17-jäh­ri­ge Nef­fe von Fa­ther Ja­mes, un­ter­rich­tet John in der Sonn­tags­schu­le und ist, sehr zur Freu­de Johns, der sich von ihm an­ge­zo­gen fühlt, ge­mein­sam mit dem Jun­gen für die Vor­be­rei­tung des Ver­samm­lungs­raums zuständig.

Der Ti­tel die­ses ers­ten Teils „Der sieb­te Tag“ ver­weist auf den Sonn­tag als Kirch­tag. Er lie­ße sich aber auch als Voll­endung der Ent­wick­lung des vier­zehn­jäh­ri­gen John in­ter­pre­tie­ren, der sich sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät und vor al­lem sei­nes Wunschs nach ei­nem an­de­ren Le­ben be­wusst wird.

In „Ge­be­te der Gläu­bi­gen“, so der Ti­tel des zwei­ten Teils, schil­dert Bald­win in star­ken in­ne­ren Mo­no­lo­gen der Haupt­fi­gu­ren Flo­rence, Ga­bri­el und Eli­sa­beth de­ren Ver­stri­ckun­gen und Be­weg­grün­de. Flo­rence, die äl­te­re Schwes­ter Ga­bri­els, steht zu Recht an ers­ter Stel­le. Sie ist die ein­zi­ge Frau, die sich Ga­bri­els auf Glau­be und Ma­chis­mo be­grün­de­ter Des­po­tie wi­der­setzt. Als stärks­te Fi­gur des Ro­mans scheint sie das Sprach­rohr des er­wach­se­nen Bald­win zu sein. Ih­re Er­in­ne­run­gen rei­chen bis zur Mut­ter, die als Skla­vin auf ei­ner Plan­ta­ge im Sü­den ar­bei­te­te. Flo­rence kehrt die­sem Mi­lieu den Rü­cken, sie geht nach New York, hei­ra­tet, wird ver­las­sen und hat trotz Ein­sam­keit und Ar­mut ei­ne bes­se­re Wahl ge­trof­fen als De­bo­rah. Ih­re Freun­din ist im Sü­den ge­blie­ben, trau­ma­ti­siert von ei­ner Ver­ge­wal­ti­gung durch Wei­ße, hat sie sich ganz dem Glau­ben ver­schrie­ben und hei­ra­tet schließ­lich den ver­meint­lich from­men Re­ver­end Ga­bri­el, Flo­rence Bru­der, der ob­wohl Pre­di­ger vom Pfad ab­kommt. Was da­mals ge­schah, of­fen­bart sich in „Ga­bri­els Ge­bet“. Aber auch in ei­nem al­ten Brief De­borahs, den Flo­rence als Un­ter­pfand verwahrt.

Eli­sa­beths Er­in­ne­run­gen er­zäh­len von ih­rem Glück mit Ri­chard, dem Va­ter Johns, der zu Un­recht ver­haf­tet und miss­han­delt sei­nem Le­ben ein En­de setzt. Die­se Sze­ne wird zu­wei­len als Schlüs­sel­sze­ne des Ro­mans be­zeich­net. Na­tür­lich spielt Ras­sis­mus ei­ne Rol­le. Wie auch nicht im New York der spä­ten Drei­ßi­ger­jah­re? Doch es ist nur ein Teil der Un­ter­drü­ckung, die sich in pie­tis­ti­schen Glau­bens­dok­tri­nen fort­setzt. Von eu­ro­päi­schen Aus­wan­de­rern nach Ame­ri­ka ge­tra­gen, dien­ten sie den Skla­ven aus Afri­ka als ver­meint­li­che Ret­tung. Ver­mischt mit ei­ge­nen Got­tes­vor­stel­lun­gen, ent­wi­ckel­ten sich syn­kre­tis­ti­sche Glau­bens­ri­tua­le, zu de­nen auch die ex­al­tier­ten Er­we­ckungs­got­tes­diens­te der Bap­tis­ten zähl­ten. Grund­hal­tung der evan­ge­li­ka­len Ge­sin­nung ist das Le­ben auf dem schma­len Steg, der steil und ge­pflas­tert mit Ent­beh­run­gen und Bu­ße zum Herrn führt, jen­seits der Ver­lo­ckun­gen des be­que­men Wegs voll Ver­gnü­gen, Sex und Schwarz­ge­brann­tem. Die­se Art von Glau­ben mag über ge­sell­schaft­li­ches Elend hin­weg­trös­ten, fügt der Not aber letzt­end­lich noch mehr Un­ter­drü­ckung hinzu.

John ver­set­zen „die ju­beln­den Gläu­bi­gen (…) in Schre­cken“. Er er­kennt die ge­heu­chel­te Hei­lig­keit und den Wi­der­spruch zwi­schen from­men An­spruch und bru­ta­ler Rea­li­tät. Er ver­steht nicht, war­um der Va­ter von Lie­be pre­digt, sie ihm aber vor­ent­hält. Die­ser un­er­füll­ten Sehn­sucht fol­gen der Hass und schließ­lich der Wunsch nach Selbst­be­frei­ung. Die­se voll­zieht sich im Ro­man noch nicht voll­stän­dig, aber sie deu­tet sich an. John ahnt, daß hin­ter dem Kum­mer sei­ner Mut­ter und der Bür­de sei­nes Va­ters et­was lau­ert. Ein­zig De­bo­rah „schien tief in ih­rem Grab den Schlüs­sel zu all den Ge­heim­nis­sen zu hal­ten, die er so gern er­grün­det hät­te“. Der Le­ser ahnt, auch John wird ei­nen schma­len Pfad wäh­len, nicht den der pie­tis­ti­schen Frömm­ler, son­dern den der Selbst­er­mäch­ti­gung. Bald­win deu­tet dies in ei­ner klei­nen Sze­ne an, als John mit dem kar­gen Ge­burts­tags­geld in der Ta­sche, den Hü­gel im Cen­tral­park er­stürmt, nach un­ten in die Frei­heit blickt, auf dem Weg dort­hin ei­nem al­ten, wei­ßen Mann mit ei­nem wei­ßen Bart be­geg­net, und schließ­lich in sei­nem Pa­ra­dies mit Bi­blio­thek und Ki­no landet.

Re­li­giö­se Ver­wei­se und Quel­len spie­len ei­ne gro­ße Rol­le in Bald­wins Ro­man. Dies zei­gen die zahl­rei­chen Zi­ta­te von Bi­bel­tex­ten, Spi­ri­tu­als und Gos­pel. Sie sind den Ka­pi­teln vor­an­ge­stellt oder kom­men­tie­ren das Ge­sche­hen. Tho­mas Zirn­bau­er hat sie für den dtv-Ver­lag auf des­sen Le­se­kreis­sei­te zu­sam­men­ge­stellt und auf­schluss­reich kom­men­tiert. Auch ei­ni­ge der ex­pli­zit re­li­giö­sen Ab­schnit­te des Ro­mans ori­en­tie­ren sich in ih­rem Duk­tus sehr an der Bi­bel. Dies war für die athe­is­ti­sche Ata­lan­te zu­wei­len schwer er­träg­lich, es sorg­te auch in un­se­rem Li­te­ra­tur­kreis für Dis­kus­si­on. Ei­ni­ge Teil­neh­mer fühl­ten sich an die re­li­giö­sen Drang­sa­lie­run­gen ih­rer Kind­heit er­in­nert, ver­folg­ten aber ge­ra­de des­we­gen fas­zi­niert die Ge­schich­te Johns. Ei­ner an­de­rer Mit­le­ser wur­de durch den fun­da­men­ta­lis­ti­schen Fu­ror, aber auch durch die Ge­walt, durch die ewi­ge Scham und Sün­de der­art an ei­ge­ne schlim­me Er­fah­run­gen er­in­nert, daß er die Lek­tü­re ab­ge­bro­chen hat. Wäh­rend „Von die­ser Welt“ — der neu ge­wähl­te Ti­tel steht für die welt­li­che Ver­wirk­li­chung Bald­wins und sei­ne Ab­leh­nung von al­lem, was „Nicht von die­ser Welt“ ist – von den meis­ten Teil­neh­mern un­se­rer Grup­pe als Re­li­gi­ons­kri­tik auf­ge­fasst wur­de, gab es auch ei­ne Stim­me, die den Ro­man als die Ab­kehr von je­der Art von Fa­na­tis­mus ver­stand. Ei­nig sind wir uns, ihn als Plä­doy­er für Selbst­be­stim­mung und Frei­heit zu le­sen. Er han­delt nicht nur von dem durch Her­kunft be­ding­tem Un­recht, was das Vor­wort zu stark auf ak­tu­el­le Ras­sen­kon­flik­te be­zieht, oder von der Chan­cen­un­gleich­heit der Ge­schlech­ter. Ja­mes Bald­wins Ro­man zeigt, wie Re­li­gi­on, so wie je­des an­de­re Macht­sys­tem, Miss­stän­de für ei­ge­ne Zie­le in­stru­men­ta­li­siert. Un­ter­drü­ckung lässt sich nicht durch den Glau­ben an ein Sys­tem lö­sen, das selbst auf Un­ter­drü­ckung basiert.

Zum Ver­ständ­nis des Ro­mans lohnt sich ein Blick in das Le­se­kreis-Ma­te­ri­al des dtv Ver­lags, eben­so wie in den Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel Afro­ame­ri­ka­ni­sche Re­li­gi­on in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten.

Emp­feh­lens­wert ist die 2016 er­schie­ne­ne Film­do­ku­men­ta­ti­on über Ja­mes Bald­win von Raoul Peck „I am not your Ne­gro“, die auch in Buch­form vorliegt.

Wer mehr von Ja­mes Bald­win le­sen möch­te, sei auf die eben­falls von Mi­ri­am Man­del­kow un­ter­nom­me­ne Neu­über­set­zung des Ro­mans „Bea­le Street Blues“ ver­wie­sen. Er wird am am 20. Ju­li 2018 bei dtv erscheinen.

James Baldwin, Von dieser Welt, übers. v. Miriam Mandelkow, dtv 2018

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