Mein Ich ist ein Anderer

Seinen neuen Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ weiht Peter Stamm der Macht des Erzählens

Wie­viel mei­ner Ge­schich­te mit mir zu tun hat, gab ich nie zu.“

Pe­ter Stamm be­vor­zugt in sei­nem Schrei­ben das Spiel mit den Ebe­nen. Sei­ne Fi­gu­ren chan­gie­ren in ih­ren Funk­tio­nen, be­wusst oder un­be­wusst. Der Prot­ago­nist wird zum Er­zäh­ler, der Er­zäh­ler zur Fi­gur, zu­wei­len so­gar mit den Zü­gen des Au­tors. So ent­steht ei­ne Mi­schung aus Fik­ti­on und Me­ta­fik­ti­on, die Li­te­ra­tur­lieb­ha­bern Le­se­freu­de be­rei­tet, und mit der sich seit ge­rau­mer Zeit auch vie­le Schü­ler und de­ren Leh­rer aus­ein­an­der­set­zen müs­sen. Nach­dem Agnes zu­min­dest in den Schu­len hier im Länd­le tur­nus­be­dingt als Abi-Stoff aus­sor­tiert wur­de, bie­tet sich Stamms neu­er Ro­man als Nach­fol­ger an, denn „Die sanf­te Gleich­gül­tig­keit der Welt“ nimmt deut­lich Be­zug auf Stamms be­rühm­tes De­büt. Hier wie dort ver­schie­ben sich Er­zähl­ebe­nen und Fi­gu­ren in par­al­le­len Wel­ten. Hier wie dort steht ein Schrift­stel­ler im Mit­tel­punkt, der sei­ne Lie­be zum Ge­gen­stand sei­ner Fik­ti­on macht.

Stamm stellt wie so oft in sei­nen Ro­ma­nen die Fra­ge nach der Au­then­ti­zi­tät von Er­in­ne­rung. Kön­nen wir ihr und da­mit uns selbst ver­trau­en? Oder for­men wir, in­dem wir uns er­in­nern, nicht stän­dig al­les um? Wel­che Rol­le spielt da­bei die Literatur?

In sei­ner Re­de zum So­lo­thur­ner Li­te­ra­tur­preis, bie­tet Pe­ter Stamm ei­nen Schlüs­sel da­zu an. „Li­te­ra­tur kann die Wirk­lich­keit nicht er­set­zen, aber sie kann – für mich als Au­tor und für mei­ne Le­se­rin­nen und Le­ser – ein In­stru­ment sein, ein Hilfs­mit­tel, die Wirk­lich­keit kla­rer zu se­hen. Das Se­hen je­doch, kann die Li­te­ra­tur uns nicht abnehmen.“

Es ist ei­ne un­wahr­schein­li­che Be­ge­ben­heit, die es dem Schrift­stel­ler Chris­toph, der Haupt­fi­gur des Ro­mans, er­mög­licht die Er­in­ne­run­gen an sein ver­gan­ge­nes Le­ben zu über­prü­fen. Ei­ne Le­se­rei­se führt ihn in den Ort sei­ner Her­kunft und kon­fron­tiert ihn mit sei­nem jün­ge­ren Ich. Chris, der wie einst Chris­toph als Nacht­wäch­ter in ei­nem Ho­tel jobbt, er­kennt ihn al­ler­dings nicht. „Es kam mir vor, als schau­te ich in ei­nen Spie­gel. Er­staun­li­cher­wei­se schien er nichts von der Ähn­lich­keit, von un­se­rer Gleich­heit zu bemerken.“

Am nächs­ten Tag ist Chris ver­schwun­den, ein wei­te­res Auf­ein­an­der­tref­fen gibt es zu­nächst nicht. Trotz­dem ver­gisst Chris­toph ihn nicht, ganz Schrift­stel­ler schreibt er über ihn und be­geg­net ihm schließ­lich un­ver­mu­tet ein zwei­tes Mal. Zu­nächst nimmt er die Ver­fol­gung auf, wen­det sich dann von die­ser Ob­ses­si­on ab, um schließ­lich den Kon­takt zu Chris‘ jun­ger Freun­din Le­na zu su­chen. Wie sei­ne Mag­da­le­na, die Chris­toph vor vie­len Jah­ren lieb­te und über die er „ei­ne Ge­schich­te über die Un­mög­lich­keit der Lie­be“ schrieb, ist Le­na Schau­spie­le­rin. Und wie sei­ne Mag­da­le­na be­glei­tet sie ih­ren Freund, den er­folg­lo­sen Schrift­stel­ler, zu ei­ner Fort­bil­dung nach Stock­holm. Dort trifft sich Chris­toph mit ihr, und er­zählt auf lan­gen Stadt-Spa­zier­gän­gen sei­ne Ge­schich­te, die zum Teil auch ih­re ist.

Ich bin Schrift­stel­ler, sag­te ich, oder bes­ser, ich war Schrift­stel­ler. Ich ha­be nur ein Buch ver­öf­fent­licht, und das ist fünf­zehn Jah­re her. Mein Freund ist Schrift­stel­ler, sag­te sie, oder möch­te es ger­ne sein. Ich weiß, sag­te ich, des­halb will ich Ih­nen mei­ne Ge­schich­te erzählen.“

Das er da­mit aus­ge­rech­net in ei­ner Auf­er­ste­hungs­ka­pel­le be­ginnt, ent­behrt nicht der Iro­nie. Der Schrift­stel­ler Stamm lässt al­so in der Rea­li­tät des Ro­mans das jün­ge­re Ego von Chris­toph auf­er­ste­hen, wäh­rend der Schrift­stel­ler Chris­toph sich er­zäh­lend in ver­schie­de­ne Ebe­nen sei­ner Ver­gan­gen­heit be­gibt und we­ni­ge Ma­le auch in sei­ne Zukunft.

Chris­toph ver­stört die Be­geg­nung mit Le­na und Chris, ei­nem Paar, das sei­ne ver­gan­ge­ne Lie­be zu wie­der­ho­len scheint. War sein Le­ben nur ein Pro­be­lauf? Er fühlt sich sei­ner Er­in­ne­run­gen be­stoh­len. Als Schrift­stel­ler ver­setzt er sich in an­de­re Per­so­nen hin­ein, ei­ne Fä­hig­keit, die er mit der Schau­spie­le­rin Le­na teilt. Doch als re­al ge­wor­de­ne Fik­ti­on, be­droht sein Al­ter Ego sei­ne Iden­ti­tät. Der ein­zi­ge Weg aus die­ser Kri­se, in die er die jün­ge­re Wie­der­gän­ge­rin sei­ner Ge­lieb­ten gleich mit hin­ein­stürzt, ist sich her­aus zu er­zäh­len. Le­na hilft und über­nimmt zu­wei­len das Wort. Ein­mal so­gar setzt die Schau­spie­le­rin die Er­in­ne­run­gen in Sze­ne. Al­ler­dings stellt sie auch die Lo­gik-Fra­ge: „Wenn er ist wie Sie und ich wie Ih­re Mag­da­le­na und wir das­sel­be Le­ben füh­ren wie sie bei­de vor fünf­zehn oder zwan­zig Jah­ren, dann müs­sen doch auch un­se­re El­tern die­sel­ben sein. Dann müss­te die gan­ze Welt sich doch ver­dop­pelt ha­ben.“ Doch es gibt Ab­wei­chun­gen. Am En­de führt Le­na be­wusst ei­ne her­bei und nicht nur sie er­kennt, es sind ge­nau die­se Ab­wei­chun­gen, die un­se­re in­di­vi­du­el­le Iden­ti­tät ausmachen.

Die Kon­struk­ti­on von Stamms Ro­man ist äu­ßerst span­nend. Der stän­di­ge Wech­sel zwi­schen Er­zähl­ebe­nen und Per­so­nen er­for­dert Auf­merk­sam­keit und Lust, sich dar­auf ein­zu­las­sen. Dies ist der gro­ße Reiz des mit 155 Sei­ten nur schein­bar klei­nen Romans.

Peter Stamm, Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt, S. Fischer Verlag, 2018.

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