Unter dem Vulkan

Verena Carls sprachschöner Roman „Die Lichter unter uns“ erstickt stilsicher am Pathos

Wer will was von wem woraus.“ 

Die­ser im Ro­man zi­tier­te ju­ris­ti­sche Merk­satz könn­te als sein Leit­mo­tiv durch­ge­hen, denn fast al­le Fi­gu­ren in Ve­re­na Carls „Die Lich­ter un­ter uns“ be­fin­den sich auf der Su­che. Wo­nach scheint ih­nen je­doch selbst verborgen.

An­na sucht Auf­merk­sam­keit, ihr Mann Jo Si­cher­heit, Alex­an­der sei­ne Vi­ta­li­tät und sei­ne jun­ge Ge­lieb­te so­wie sein er­wach­se­ner Sohn su­chen nicht un­ähn­lich der 11-jäh­ri­gen Ju­dith, Toch­ter von An­na und Jo, den Aus­weg aus dem Dschun­gel des Er­wach­sen­wer­dens. Ein­zig Bru­no, Ju­diths klei­ner Bru­der, sucht und fin­det mit kind­li­cher Sorg­lo­sig­keit in ei­ner Tau­cher­bril­le mit Schnor­chel sein einst­wei­li­ges Glück.

An­na, die nach zwölf Jah­ren Ehe, mit ih­rer Fa­mi­lie ei­ni­ge Ta­ge in Ta­or­mi­na ver­bringt, dem Ort ih­rer Flit­ter­wo­chen, steht im Mit­tel­punkt der mul­ti­per­spek­tiv er­zähl­ten Ge­schich­te. Sie son­diert ih­re Be­find­lich­kei­ten, ‑wann fän­de man bes­ser Zeit als im Urlaub‑, und stellt ihr Fa­mi­li­en­le­ben wie ih­re Be­zie­hung zu Jo in Fra­ge. Trotz der Schön­heit des si­zi­lia­ni­schen Städt­chens oder ge­ra­de des­we­gen und we­gen der da­mit ver­knüpf­ten Er­in­ne­run­gen fällt es An­na „nicht so ein­fach, ih­re Mi­schung aus Weh­mut und Pa­nik los­zu­wer­den“. Fein­füh­lig for­mu­liert Carl die sich all­mäh­lich stei­gern­de Selbst­un­si­cher­heit ih­rer Prot­ago­nis­tin. „Sie schäm­te sich so, als gin­ge sie in ei­nem un­vor­teil­haf­ten Auf­zug zu ei­ner Ver­ab­re­dung, von der sie sich viel ver­sprach.“ Sich fremd im Ver­trau­ten füh­lend bi­lan­ziert An­na die Si­tua­ti­on. Aus­ge­rech­net in Ta­or­mi­na, „an die­sem mon­dä­nen Ort, wenn auch in ei­ner schä­bi­gen Un­ter­kunft“, wird ihr nicht nur das Äl­ter­wer­den be­wusst, son­dern sie ent­larvt ih­re jour­na­lis­ti­sche Ar­beit als „vor­ge­täusch­te Be­rufs­tä­tig­keit“. Auch scheint Jo sie kaum mehr wahr­zu­neh­men, er küm­mert sich mehr um die hoch­sen­si­ble Ju­dith. Als ein­zi­ger un­be­küm­mert ge­nießt der sechs­jäh­ri­ge Bru­no den Urlaub.

Mit­ten aus die­ser Me­lan­cho­lie reißt An­na ei­nes Abends in ei­nem Cafè am Cor­so „der Blick ei­nes Frem­den, ein Zu­falls­ge­schenk, un­ab­sicht­lich und un­be­dacht“. Er ge­hört Alex­an­der, ei­nem Mann An­fang fünf­zig, den die Flucht vor di­ver­sen Le­bens­schwie­rig­kei­ten zur „Vil­la Ma­re“ ge­trie­ben hat, aus­ge­rech­net in An­nas ro­man­ti­sches Ho­ney­moon-Ho­tel. Es wird nicht lan­ge dau­ern bis An­na die­sen Zu­fall ent­deckt. Nur wel­ches Band Alex­an­ders schwan­ge­re Ge­lieb­te Zoe mit sei­nem Sohn Flo­ri­an ver­bin­det, bleibt al­lei­ne den Le­sern vorbehalten.

Die­se er­freu­en sich an der Fä­hig­keit Carls, ih­re Be­ob­ach­tun­gen in tref­fen­de Be­schrei­bun­gen der äu­ße­ren wie in­ne­ren Zu­stän­de zu wan­deln. Es ge­lingt ihr das Schö­ne und das Häss­li­che, Stadt und Strand, We­ge und Woh­nun­gen in Si­zi­li­en, Ham­burg und Ber­lin ein­zu­fan­gen. Ein­fühl­sam be­schreibt sie die In­nen­wel­ten ih­rer Protagonisten.

Da­zwi­schen schie­ben sich zeit­geist­kri­ti­sche Ver­satz­stü­cke, nah am Kli­schee. Sei es ein pit­to­resk ei­nen Kak­tus zie­ren­des Sgraf­fi­to „Re­fu­gees wel­co­me“ oder die blind an den Schön­hei­ten Si­zi­li­ens vor­bei­stol­pern­den Smartphonezombies.

Ve­re­na Carls wort­schö­ne Sät­ze ver­söh­nen. Da denkt An­na beim mor­gend­li­chen Gang zum Bä­cker nei­disch an Alex­an­der und Zoe, die sich „lie­bes­s­att in den Tag hin­ein rä­keln (…), de­nen die Welt ein Spiel­platz war, ein Lust­gar­ten“. „Zwei Schö­ne aus ei­ner Sphä­re, in der man weich fiel, in der hoch­flo­ri­ger Tep­pich­bo­den je­den Sturz ab­mil­der­te.“ Oder sie be­schreibt die be­tro­ge­ne Ka­tha­ri­na und ih­re Lei­dens­ge­nos­sin­nen als „Frau­en, wie ab­ge­ris­se­ne Puz­zle­tei­le mit wun­den Rän­dern“.

Es ist Carls Spra­che, die mich über­zeugt. Doch reicht der schö­ne Stil nicht, um mich vom Ro­man zu über­zeu­gen. Ne­ben ei­ni­gen Kli­schees, die noch zu ver­schmer­zen wä­ren, ist es vor­al­lem die Häu­fung an Pa­thos, die die­se Ge­schich­te zer­stört. Als wür­den Mid­life- und Pu­ber­täts-Kri­sen nicht rei­chen, war­tet am En­de je­der si­zi­lia­ni­schen Gas­se ei­ne neue leid­vol­le Über­ra­schung. Alex­an­der fürch­tet die Krebs­dia­gno­se, sei­ne Frau Ka­tha­ri­na, Flo­ri­ans Mut­ter, ist eben­so früh­zei­tig ge­stor­ben wie Zoes Va­ter, es fol­gen ei­ne fa­ta­le Va­ter-Sohn-Be­zie­hung, ho­mo­ero­ti­sche Ju­gend­sün­den, ge­kauf­te und ver­geb­li­che Lie­be, ver­schwun­de­ne Kin­der und Betrug.

Ein brei­tes The­men­spek­trum, Sex und Bei­kost“ sind nicht nur die Vor­ga­ben für An­nas Ar­ti­kel für di­ver­se Frau­en­zeit­schrif­ten, sie schei­nen auch die Vor­ga­ben für die­sen Ro­man. Scha­de, denn auch die Kon­struk­ti­on al­ter­nie­rend aus der Per­spek­ti­ve der un­ter­schied­li­chen Fi­gu­ren zu er­zäh­len, ist sehr in­ter­es­sant. Lei­der wur­de viel hin­ein­packt, zu viel für ei­nen zwei­wö­chi­gen Ur­laub auf Si­zi­li­en und ei­nen ein­zi­gen Ro­man. Frag­wür­dig scheint auch die Mo­ral. Die gu­te Fa­mi­lie, An­na, Jo und ih­re Kin­der, be­schei­den in ih­ren äu­ße­ren An­sprü­chen wie emo­tio­na­len Er­war­tun­gen, fin­det zu­rück zu ih­rem All­tags-Glück. Die nur schein­bar schö­nen Lu­xus­men­schen, vor al­len das scham­lo­se, jun­ge Weib­chen, un­ter­lie­gen. Trotz halb­of­fe­nem En­de pilch­erts al­so doch gewaltig.

Verena Carl, Die Lichter unter uns, S. Fischer Verlag 2018.

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