Kristine Bilkau erzählt in „Eine Liebe in Gedanken“ von dem, was nach einem Verlust bleibt
„Ich wollte Edgar Janssen dazu bringen, sich an meine Mutter zu erinnern, an seine und ihre gemeinsame Zeit. An die Liebe zwischen Toni und Edgar, die von so kurzer Dauer gewesen war und für meine Mutter doch ein Leben lang gehalten hat.“
„Eine Liebe in Gedanken“, der Titel des aktuellen Romans von Kristine Bilkau ist zugleich sein Thema: Eine große Liebe, die unerfüllt bleiben wird. Doch würde das Attribut noch treffen, wenn die Liebe gelebt worden wäre, über alle Schrecken des Alltags hinweg? Große Liebe, ‑im Roman selbst fällt dieser Ausdruck nie‑, so könnten sie es genannt haben, die Tochter, die davon erzählt, wie die Mutter, die es erlebt hat.
Antonia Weber hat ihren Heimatort an der Küste verlassen und in Hamburg ihr unabhängiges Leben begonnen. Die 22-jährige arbeitet als Sekretärin und wohnt bei der Zigarillo rauchenden Frau Konrad zur Untermiete, wie dies 1964 für unverheiratete Frauen üblich war. Doch Toni bleibt nicht lange allein. Eine zufällige Bekanntschaft bringt sie mit Edgar zusammen und schnell ist für beide klar, daß sie zusammenbleiben werden. Nach knapp zwei Jahren, in denen Toni in ihrem Job Karriere macht und zur Chefsekretärin aufsteigt, ergibt sich für Edgar eine berufliche Chance in Hongkong. Er zögert, doch Toni ermutigt ihn. Sie besitzt die Gewissheit, Edgar bald zu folgen, und den Mut für ein gemeinsames Leben in der unbekannten Metropole.
Doch aller Liebe und allen Vorbereitungen, der Ankündigung der Flugtickets und einer Verlobung zum Trotz zerstört Edgars Feigheit alles. Toni wird niemals nach Hongkong reisen.
Diese Geschichte erzählt Antonias Tochter, die nach dem Tod der Mutter sich an deren Leben erinnert und ihr eigenes reflektiert. Zu Beginn steht ein Zwiegespräch mit der Verstorbenen. Berührend sind die Fragen der Tochter. „Wie war dein letzter Abend, deine letzte Nacht? Warst du lange wach, wie so oft? Hattest du Angst, hast du dich einsam gefühlt? Oder hast du wirklich, wie wir alle glauben möchten, tief geschlafen, während der frühen Morgenstunden?“ Die Fragen bleiben unbeantwortet, doch stoßen sie eine Erinnerung an, der weitere Schritte in die Vergangenheit folgen werden.
Wir erfahren, wie Toni und Edgar sich kennlernten, die Tochter erinnert sich sehr gut an die Erzählungen der Mutter. Toni hatte Edgar in der Straßenbahn „den Kopf verdreht“ und darauf gewartet, daß er sie anspricht, was auch geschah. Aber sich sofort auf die Einladung zu einem Kaffee einzulassen, widersprach den guten Sitten. Toni lässt Edgar schmoren, ob er wartet ist nicht nur für sie ein aufregendes Spiel. Spannend schildert die Tochter die Szene. Edgar ist für sie kein Unbekannter, sie weiß von der Mutter, welche Bedeutung diese knapp zweijährige Beziehung für die restlichen Jahrzehnte ihres Lebens hatte. Die Tochter kannte Edgars Elternhaus, das er regelmäßig im Sommer besuchte, und an dem die Mutter „jedes Jahr im Spätsommer vorbeigefahren war, um das Licht hinter den Fenstern zu sehen“. Sie beschließt, Edgar zu besuchen und ihm von Tonis Tod zu erzählen.
Nach alternierendem Prinzip setzt Bilkau die Rückblicke und die Jetztzeit ihrer Erzählerin. Deren aktuelle private und berufliche Situation nimmt allerdings weniger Raum ein als die Geschichte von Toni und Edgar, an die kleine Notate aus der ersten Zeit erinnern, die in den Roman einfließen. Daneben stehen Erinnerungen an die Kindheit der Ich-Erzählerin. Edgars Verhalten hat nicht nur Toni, sondern sogar die später geborene Tochter beeinflusst. Sie leidet an ihrer unsteten Kindheit, den wechselnden Beziehungen der Mutter, dem Fehlen einer konstanten Vaterfigur. Im Traum sucht sie nach dem, was bleibt, und findet einen Schrank „voll mit Dingen, die meiner Mutter und Wolfgang gehört hatten. Was genau sich darin befand, spielte keine Rolle, nur das Gefühl von Überraschung und Erleichterung zählte. Da war also noch etwas von Wolfgang und meiner Mutter, da war noch etwas aus meiner Kindheit“. Sie trauert über den Verlust dieses Familienlebens, gegen das die Mutter sich entschieden hat.
Von Abschiednehmen und Loslassen sind auch die Nebengeschichten des Romans geprägt. Wie Edgar Toni verlassen hat und Toni Jahre später den leiblichen Vater der Erzählerin und wiederum später ihren Mann Wolfgang, wurde auch die Künstlerin verlassen, für die die Tochter eine Ausstellung konzipiert. Die Geschichte Helene Schjerfbecks steht jedoch deutlich im Hintergrund. Wenn auch die Ende des 19. Jahrhunderts in Paris wirkende Künstlerin, in ihrem Mut und dem Scheitern daran sich als Vorläuferin Antonias zeigt, welche wiederum einen Bildband über die Malerin im Regal hatte. Auch Schjerfbeck scheiterte an der Liebe, zog sich von der europäischen Künstlermetropole zurück und verbrachte die restlichen Jahre ihres Lebens alleine mit ihrer Mutter in der finnischen Heimat.
Ein weiteres Mutter-Tochter-Paar bildet die Erzählerin mit ihrer Tochter Hannah. Hannah strebt ihrer Freiheit und Unabhängigkeit entgegen und wird das Elternhaus gegen einen möglichst weit entfernten Studienort tauschen. Wieder ein Abschied und ein Loslassen, wenn auch diesmal nicht für immer.
Bilkau schreibt in ihrem kunstvoll arrangierten Roman spannend und mit Empathie über unterschiedliche Formen des Abschieds und die Schwierigkeit sie zu bewältigen.