Vom Grausamen im Krieg und in der Liebe erzählt Anna Baar in „Als ob sie träumend gingen“
Klee liegt im Krankenbett oder eher im Sterbebett? In einer Anstalt für Kranke oder eher für Irre? Sein Name lautet Paul oder eher Pablo?
Klee ist die Hauptfigur in Anna Baars neuem Roman „Als ob sie träumend gingen“. Von seinen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen erzählt Baars namenloser Erzähler, der im Prolog bekennt: „Manches hat er mir erzählt, manches bilde ich mir ein, vieles wird geträumt sein oder ausgedacht.“
Klees Erinnerungen sind brüchig, nicht nur seines Zustands wegen, sondern aufgrund der grausamen Geschehnisse selbst, den erlebten Kriegsgräueln und den Verlusten, vor allem in der Liebe.
Klee kämpft gegen das Vergessen, weswegen er alles seinen Kassetten anvertraut, vor allem die Sache mit Lily. Beide kommen aus einem Dorf, das nicht konkret verortet ist. Baar will, wie sie in einem Interview betont, alle Geschehnisse ihres Romans nicht konkretisiert wissen. Doch liefert sie Hinweise genug, den Ort an der jugoslawischen Küste und die Zeit im zweiten Viertel des letzten Jahrhunderts zu lokalisieren. Immerhin wird im prominentesten Erinnerungsstück das Mädchen Lily von einem schwarz Uniformierten mit kragenschmückendem Totenkopfemblem abgeführt.
Klee spürte als Kind „einen Vogel, der bestimmt ungewollt in seinen Kopf geraten war“. Von den Dorfbewohnern verspottet, blieb er als einziger zurück, als die anderen Söhne der armen Bauersfamilie ein Schiff nach Amerika bestiegen. Später wurde ein neuer Bruder geboren und in der Familie des „armen Sepharden“ endlich und unter schwierigen Umständen eine Tochter, Lily. Die drei Kinder wurden Freunde entgegen dem Widerstand der Erwachsenen.
Klee erinnert sich nicht nur an die Kindheit in der archaischen Dorfwelt und an dessen eigenwillige Bewohner. Voller Sehnsucht denkt er an seine Liebe zu Lily, die lange ungesagt blieb, auch dann noch als er das Dorf verlässt, um für die Freiheit des Volkes zu kämpfen. Der Krieg belagert sein Gefühl, unter den Leichenbergen der Schlacht erstickt, erwacht es erst auf Klees Weg nach Hause. Dort erwartet ihn ein weiterer Kampf, der des Rebellen gegen die Besatzer. Die eigene, selbstbestimmte Lily, jetzt auch durch einen Stern als andersartig markiert, scheint ihm unerreichbar. Greifbarer wird eine Andere, Ida, bei der er auch bleibt, als sich der Weg zu Lily öffnet.
Klee wird alt. Tief versinkt er in seinen Erinnerungen an Kampf und Krieg und in der Sehnsucht nach Lily. Wenn er nicht anderen oder sich selbst davon erzählen kann, hört er seine auf Kassetten konservierten Erinnerungen. Er lebt mit Ida, bei ihr ist er geblieben, bei ihr „fühlt er sich aufgehoben. Nicht gut aufgehoben, aber untergebracht.“ Doch nie mehr sollte es ihm gelingen, „sich Lily, wie einen Splitter aus dem Kopf zu ziehen.“
Die im ehemaligen Jugoslawien geborene Anna Baar erzählt von den schmerzvollen Erinnerungen ihres Helden im mystischen Ton alter Legenden. Sie stellt „zeihen“ neben „Gesternschnee“, altertümlich anmutende Worte neben neu erdachte, um in starken Bildern die „schauerliche Stille brechender Herzen“ zu beschreiben. Klee, den sterbenden Helden, macht sie zum Ausgangspunkt. Sie lässt ihn, der nicht mehr ganz gegenwärtig ist, in Träume und Albträume abdriften. So erzählt sie sein Leben in der Rückschau, in die sie manchen Mythos einfügt, bisweilen aber durch ihr erratisches Erzählen unverständlich bleibt. Vielleicht soll es so sein. „Als ob sie träumend gingen“, das sich auf der diesjährigen Hotlist der unabhängigen Verlage findet, ist ein bedrückendes Buch, das die verstörenden Erinnerungen eines Einzelnen zum Mahnmal für die Opfer von Gewalt sowie der Liebe macht.