Karine Tuil erzählt in „Die Zeit der Ruhelosen“ über Herkunft und Schicksal
„In unserer Gesellschaft ist etwas sehr Ungesundes im Gange, alles wird durch den Blickwinkel der Identität betrachtet. Jeder wird auf seine Herkunft festgelegt, egal, was er tut.“
„Meine einzige Identität ist eine politische“, lautet das Bekenntnis einer Figur im neuen Roman der französischen Schriftstellerin Karine Tuil. Bekannt geworden durch ihren Erfolg Die Gierigen ist sie nun mit dem bei Ullstein erschienenen und von Maja Ueberle-Pfaff ins Deutsche übertragenen aktuellen Roman Die Zeit der Ruhelosen entsprechenden Erwartungen ausgesetzt. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb er beim „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens und beim „Literarischen Quartett“ des Südwestfunks auf dem Programm stand.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen drei Männer, François, Romain und Osman, deren Erleben Tuil in alternierenden Kapiteln erzählt, sowie Marion, die zwischen zweien dieser Männer steht.
François Vély leitet einen Konzern der französischen Mobilfunkbranche und ist einer der reichsten Männer des Landes. Der Vater dreier Kinder aus erster Ehe ist zum zweiten Mal mit der wesentlich jüngeren Journalistin Marion Decker verheiratet. Vélys Vater Paul hatte nach Kriegsende die Buchstaben des Familiennamens Levy umgestellt, eine Amerikanerin geheiratet und seinen jüdischen Glauben abgelegt. Auch François bleibt jeder Religion fern, sofern man Reichtum nicht als solche bezeichnen möchte. Er ist wohl die tragischste Gestalt dieses an Pathos nicht armen Thesenromans über Herkunft und Schicksal.
Anders als François Vély, der in großbürgerlichem Milieu aufwuchs, stammen Osman Diboula und Romain Roller aus Clichy-sous-Bois in der Pariser Banlieue. Romain wuchs nach dem Tod seines Vaters ohne sichere Bindung auf und meldete sich früh zum Militär. Sein letzter Einsatz führte ihn nach Afghanistan, woher er traumatisiert zurückkehrt. Sein kleines Glück mit Frau und Sohn in einem Vorstadthäuschen scheitert an dieser Erfahrung und an der Begegnung mit Marion, zu der er eine erotische Obsession entwickelt.
Die dritte Hauptfigur, Osman Diboula, dessen Eltern einst aus der Elfenbeinküste emigriert waren, wird im Verlauf des Romans zu allen bisher Genannten eine Verbindung haben. Während seiner früheren Tätigkeit als Sozialarbeiter in Clichy lernte er Romain kennen. Jetzt bewegt er sich als Berater des Präsidenten beruflich und gesellschaftlich in anderen Kreisen. Als Angestellter des Ministeriums finanziert er seinen Eltern eine bessere Wohnung und ermöglicht so auch ihnen einen kleinen Aufstieg. Er lebt mit der gebildeten Sonia zusammen, die ebenfalls im Elysée tätig ist. Osman scheint es geschafft zu haben, auch wenn böse Zungen behaupten, er sei lediglich der „Quotenschwarze“ des Präsidenten. Doch eines Tages verliert er wegen seiner Reaktion auf eine rassistische Anspielung die Position in Präsidentennähe. Das Schicksal seiner afrikanischen Herkunft scheint ihn einzuholen.
Das Schicksal prägt auch Romains Leben, den Schuldgefühle und Depressionen von sich selbst und von seinem früheren Leben entfremden. Ebenso scheint François schicksalhaft schuldig zu werden. Seine Eitelkeit und sein Faible für moderne Kunst machen ihn zum Opfer der Medien. Da wirkt es nur wie ein weiterer Scherz der Moiren, daß Thibault, sein Sohn, plötzlich als orthodoxer Jude auftritt.
Eine tragende Rolle, aber keine eigene Kapitelfolge, verleiht Tuil Marion Decker. Sie ist neben Osman die interessanteste Figur des Romans und anders als die zum Dekor degradierten Partnerinnen von Osman und Romain eine starke Frau. Marion steht als Ehefrau Vélys und als Geliebte Romains zwischen den disperatesten Figuren des Romans. Ihre Lebensgeschichte als Pflegekind, das noch einmal davon gekommen ist, das mit Ehrgeiz zu einer renommierten Journalistin wurde und nun seit einigen Jahren mit einem Superreichen verheiratet ist, spiegelt die gesellschaftliche Bandbreite, die Tuil schon durch ihre männlichen Protagonisten angelegt hat und die sie zum Konflikttableau ihres Romans macht.
Allerdings hätte man Marion größere Individualität gewünscht, doch die Autorin lässt das Potential dieser Rolle leider ungenutzt. Ihre Handlungen, die den Verlauf der Geschichte wesentlich beeinflussen, begleitet Tuil mit bestenfalls pathetisch zu nennenden Äußerungen. So kommentiert sie die erste Begegnung von Vély und Decker mit dem Satz „Und sein Lebensgebäude explodierte“. Es wäre unnötig gewesen, eine Seite zuvor mit Aischylos, den großen antiken Dramatiker anzuführen. Der Leser ahnt auch so, wohin die Reise gehen wird, und das bereits auf Seite 37 des mit knapp 500 Seiten viel zu dicken Romans. Dessen Stil ist durch viele Rückblenden und durch anschauliche, oft aber zu ausführliche Schilderungen der Schauplätze geprägt. Spannende Szenen geraten Tuil hingegen in den drastischen Momenten. Ihre Personen bleiben jedoch blass und eindimensional, nur Osman Diboula erscheint als mehrschichtige Figur. Manchmal gilt dies auch für Marion, doch viele anfangs aufgeblätterten interessanten Informationen, wie ihre soziale Herkunft oder ihren Vaterkomplex, verfolgt die Autorin nicht. Kaum reflektiv ist auch Romain angelegt, seine Rolle des traumatisierten Triebgesteuerten bleibt im Klischee. Als Kriegsrückkehrer verlässt er mangels Verständnis Frau und Kind. Als Liebender zeigt sich seine Zuneigung zur einzigen Person, von der er sich verstanden fühlt, darin, daß er sie bespringt sobald er sie sichtet.
Trotz des engagierten Themas der durch Herkunft determinierten Chancenungleichheit, trotz einiger starker Szenen und trotz geschickter Übergänge zwischen den Erzählsträngen, krankt dieser Roman an Klischees. Da erscheinen Osman, der erkennt, „wie wichtig Sport für die Entstehung sozialer Bindungen“ ist, und Marion als „schöne, scharfzüngige Frau mit schulterlangem, blonden Haar, meerblauen Augen, mittelgroß und zierlich, aber nicht zu dünn, sie hatte einen kurvigen Körper, volle Brüste und eine schmale Taille“ wie Relikte aus der Mottenkiste des Arztromans. Persönliche Defizite liegen nicht nur bei Romain und Marion an den Defiziten der Kindheit. Auch François” Gefühlskälte wird mit der emotionalen Distanz der Eltern begründet. Und die impulsive, wilde, widerspenstige Marion konsumiert natürlich Kokain am Tag ihrer Hochzeit mit François.
Wer den Roman trotzdem liest, ist selbst schuld, denn bereits die ersten Seiten warnen. Sie erzählen eine herzergreifende Geschichte von 3998 Bewerbern, die Glück im Unglück hatten, da sie im September des Jahres 2000 keinen Job im World Trade Center fanden.