Lukas Bärfuss Roman „Hagard“ wirkt wie eine Debatten-Replik
„Philip, so nahm ich an, hatte einen Anfall von Überdruss, wie ihn jeder Mensch kennt, der sich von seinem Alltag gefesselt fühlt und in öden Stunden von einer Flucht träumt. Auch Philip trotzte gelegentlich und trotzte auch jetzt, und ich gestehe, dass ich sein Schmollen lächerlich fand, dieses Wechselspiel aus Konformismus und Trotzphase, ein unreifes, kindisches Verhalten, populär in allerlei Schmonzetten, die in jenen Tagen erschienen. Halbsüße Romane über Männer im besten Alter, die eines Tages mir nichts, dir nichts Frau und Kinder verließen und sich für ein flüchtiges Abenteuer aus dem Leben schlichen.“
So urteilt der Erzähler in Lukas Bärfuss’ Roman Hagard über das Verhalten der Hauptfigur und spielt auf oft gehörte Geschichten plötzlichen Verschwindens an, wie sie auch Peter Stamm in Weit über das Land schildert. Man könnte meinen, der Autor spiele durch die Worte seines Erzählers auf diesen Roman des Schriftstellerkollegen an, und denkt an die unlängst erfolgte Debatte zwischen Stamm und Jonas Lüscher.
Dabei unterscheiden sich die in ihrer Idee identischen Geschichten in der Durchführung deutlich. Während Stamms Protagonist ohne akutes äußeres Ereignis seiner Wege geht, erliegt Bärfuss’ Philip einer plötzlichen Attraktion. Pflaumenblaue Ballerinas treiben den Protagonisten aus seinem Leben. Sie belegen ihn mit einem Bann, einer antikischen Verzauberung gleich. Becirct von Ballerinas, mit einem Blick, der kaum über Knöchel und Fußkettchen hinausgeht, folgt Philip ihrer Trägerin.
Der 170 Seiten novellenlange Roman beginnt mit diesem unvorhersehbaren Ereignis, welches der Erzähler sokratisch kommentiert: „Ich weiß alles und begreife nichts.“ Inkognito, aber allwissend, ist er Zeuge der Geschehnisse dieser auf Datum und Stunde verzeichneten zweieinhalb Märztage. Kurz nur dauert die Metamorphose, die den Immobilienmakler Philip zum fast willenlosen Objekt seiner Begierde werden lässt. Dem Erzähler lässt sie genug Zeit, um die saturierten Bürger der Stadt Zürich ironisch zu charakterisieren: „Selten wird hier eine Existenz nach dem vierzigsten Lebensjahr anders zu Ende gehen als mit einem allmählichen Verglühen, was vielleicht der falsche Begriff ist, da er ein Brennen voraussetzt.“ Es scheint, als sei Philip der einzige dieser konsum- und smartphoneabhängigen Gesellschaft, der noch einmal entbrennt, wenn auch nur für pflaumenblaue Ballerinas. Doch ist es nicht minder bieder, ein Handy als „Freund, den er stets bei sich trug“, und bestenfalls blasiert, Sekretärinnen „beladen mit Ramsch aus China“ zu beschreiben? Derart arrogante bis misogyne Äußerungen nehmen im weiteren Verlauf noch zu.
Den Hauptstrang der Handlung, in dem Philip alle Geschäfte sausen lässt und „der Witterung“ folgt, schildert Bärfuss äußerst spannend. Ein schwieriges Unterfangen, worauf schon der Titel deutet, das französische Adjektiv hagard kann sowohl die scheue Verfolgte meinen, die der Verfolger immer wieder aus den Augen verliert, als auch diesen selbst, der zunehmend verstört erscheint. Schließlich landet der vor „dem Bau des Mädchens“ und wartet auf die Gelegenheit dort einzudringen. Trotz der Jägersprache, Hagard ist zugleich ein Begriff der Falknerei, bleibt der Held ein Getriebener, den schon bald Verlotterung und Aggression markieren. Er tituliert Mitfahrer in der Tram als „Gezücht“, „mit einer Frisur wie nach einer Hirnoperation“, den Kontrolleur gar als „Kothaufen“ mit „unappetitlichem Gefräß“. Andere haben „blöde Visagen“ oder „machen sich breit wie invasive Neophyten“. Manchmal liegt dieser Hass bei Philip, manchmal beim Erzähler. Doch wer dieser ist, bleibt unklar wie seine Funktion, die zwischen auktorial und personal, „der Magen meldet sich“, schwankt.
Eines jedoch ist klar, auch der Erzähler rätselt, und des Lamentierens „dieser feigen Endvierziger“ leid, verzieht er sich nach Venedig. In den zweieinhalb Tagen Handlungszeit kann er nur kurz dort gewesen sein. Immerhin reichte es, um die Morbidität der Lagune auf die Literatur zu übertragen. Jeder Verfasser privater Geschichten verrate feige seine Pflicht. Was bedeute schon kleinbürgerliche Sehnsuchts-Sentimentalität im Angesicht der Krimkrise. Bärfuss’ Erzähler wendet sich gegen konventionelles Erzählen, er fordert neue Formen der Literatur. Die, dies nur nebenbei, lassen sich auch mit privaten Sujets erzeugen. Ich möchte nicht schon wieder auf Peter Stamm verweisen, jedoch wirkt Bärfuss’ Roman wie eine Replik auf die Debatte, wodurch er mir gefällt, wenn auch in Inhalt und Form nicht so sehr wie der seines Kollegen.