Judith Hermann erzählt in „Daheim“ von der Schwierigkeit sich im Leben einzurichten
„Ich weiß, dass Arild längere Geschichten schwierig findet. Sprache scheint seine Instinkte zu verwirren, sie erschwert das blind Verstehen, das Finden, darüber hinaus fehlt ihm die Geduld, er hat keine Nerven für eine längere Geschichte, letztlich hat er vielleicht schlicht keine Lust. Aber er hat den Blick für das Wesentliche, er kann auf den Punkt kommen.“
Diese Aussage der Ich-Erzählerin in Judith Hermanns neuem Roman klingt wie das Konzept der Autorin. „Daheim“ ist wie schon ihre vorigen Bücher ein Roman der kurzen Strecke. Auf knapp zweihundert Seiten erzählt er eine Geschichte, deren seltsam sedierte Stimmung sich in der Sprache spiegelt. Hier schlagen Sätze keine Kapriolen, sondern kommen in karger Notwendigkeit daher. Die sprachliche Lakonie entlarvt erschreckend kluge Ansichten über die Beziehungen zwischen Menschen, darin liegt die Kunst.
Die Erinnerungen der unzuverlässigen Ich-Erzählerin, „möglicherweise träume ich und habe alles nur geträumt“, stehen am Anfang. Sie blickt zurück auf ihr Leben in einer kleinen Wohnung an der Ausfallstraße und der Arbeit in der Zigarettenfabrik. Eines Tages unterbricht ein abenteuerliches Angebot die Gleichförmigkeit. Bei dem Zaubertrick der Zersägten Jungfrau soll die junge Frau in die Kiste steigen, drei Monate lang, während einer Kreuzfahrt. In diesem Rückblick enthüllt Hermann den Charakter der Protagonistin durch deren Tun und Nichtstun. Das Leben der jungen Frau scheint im Wartezustand. Eingerichtet im Provisorium vergehen ihre Tage. Sie macht ihre Arbeit und bleibt auch dort in der Fabrik die Fremde. Sie verweigert sich den Unterhaltungen der anderen ebenso wie dem mittäglichen Mahlzeit-Gruß. „Es ging nicht um das Wort, es ging um die Regeln und die Macht“, die sollte niemand über sie haben. Nachts sitzt die Einzelgängerin in der Sommerhitze auf dem Balkon, in dessen Kästen das Unkraut wuchert. Ihr Blick geht auf die erleuchtete Tankstelle, dort kauft sie sich manchmal ein Eis und steht vor der Kasse mit den anderen Kunden, die für sie Durchreisende sind. Die Stimmung dieser Szenen erinnert an Gemälde Edward Hoppers.
Eines Abends spricht ein alter Mann sie in der Tankstelle an und macht ihr das Angebot, bei einem Zaubertrick mitzuwirken. Sie zögert, ist aber schließlich zu einer Probe bereit. Ihr scheint der Job wie für sie gemacht, denn „seitdem ich denken kann, habe ich die Fähigkeit, mich in mich selbst zurückzuziehen, eine Schnecke, die in ihr Haus kriecht, eines dieser Spinnentiere, das sich zu einer Kugel zusammenrollt“.
Es kommt anders. Vielleicht scheut sie die Abhängigkeit und gerät doch in andere. Was sich in den dreißig Jahren seit diesem Sommer ereignete, schildert Hermann in drei Sätzen. Ihre Heldin reist, heiratet, bekommt eine Tochter. Sie trennt sich und lebt nun in einem kleinen Ort an der „östlichen Küste“, wo sie in der Hafenkneipe ihres Bruders bedient.
In der Feststellung, sie lebe nun das erste Mal allein in einem Haus, schwingen gleichermaßen Überraschung wie Stolz über die wiedererlangte Unabhängigkeit. Wegen Geräuschen in der Nacht verriegelt sie das Schlafzimmer und legt Waffen unter das Bett. Ihrem Exmann Otis berichtet sie in kurzen Briefen von ihren Ängsten, selten meldet sich Tochter Ann von ihren Reisen.
Bald treten andere Menschen in ihr Leben. In das Häuschen nebenan zieht die Malerin Mimi, die sie mit ihrem Bruder Arild, dem Schweinezüchter, bekannt macht. Ihr eigener Bruder sucht ihren Rat, weil er mit seiner jungen Geliebten Nike nicht mehr weiterweiß. Alle Figuren stattet Hermann mit großer Eigenständigkeit aus, die meisten mit einem deutlichen Defekt. Otis sammelt gegen die Apokalypse an, ihr Bruder leidet unter seiner Beziehungsunfähigkeit, Arild erfüllt stoisch seine Pflicht, bei Nike setzt sich der als Kind erlebter Missbrauch fort. Einzig Mimi scheint mittlerweile nach ihren Bedürfnissen zu leben.
Gequält, missbraucht, massakriert wird in „Daheim“, sei es auf der Zauberbühne, im Schweinestall, im Kinderzimmer oder im Trailerpark. Hermann erzeugt ein Panoptikum des Grauens. Ihr Motiv der Kiste spielt sie dabei in vielen Varianten. Ob harmlos in seiner vorgetäuschten Bedrohlichkeit als Zauberrequisit oder brutal als Verlies für ein Kind. Ein Kasten dient als Falle für einen Marder, eine Schachtel als Sarkophag für einen Frosch. Sogar Arilds Zimmer, in dem er schon früher schlief, erinnert an einen Keller-Kerker. Die Kästen verbreiten eine „Aura von Wahnsinn und von Raserei“.
Als sei dies nicht genug an Gewalt und Trauma, erfahren wir vom grausamen Tod einer Nixe. Ein Schicksal, das ihrer namensnahen Reinkarnation nicht ausbleibt. Es endet mit Partikeln von Meeresleuchten und ist mir damit eindeutig ein Partikel zu viel in diesem andeutungsreichen Roman.
Unklar bleibt mir, welche Botschaft sich in dem Roman verbirgt. Ach, wäre ich doch wie Arild! „Er würde nie sagen – warum erzählst du mir das. Oder – wie kommst du gerade darauf. Er denkt nicht, dass du was bezweckst, es kommt ihm nicht in den Sinn, dass du mit einer Geschichte irgendetwas beabsichtigen würdest.“
Vielleicht ist „Daheim“ ein Roman über familiäre Gewalt, über Missbrauch an Frauen und Kindern. Vielleicht erzählt er, was ein Daheim alles sein kann, Horror, Idyll, ein Provisorium oder auch ganz normal. Vielleicht stellt er aber auch die Authentizität unserer Erinnerungen infrage, worauf nicht nur die Selbstbezichtigung der Erzählerin weist. Oder zeigt er, wie eine Frau ihre Freiheit findet, indem sie die Klappe der Kiste öffnet?
Wo vieles fraglich, ist eines sicher, dieser bisweilen verstörende Roman ist lesenswert.
Der Roman ist 2021 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Belletristik nominiert.
Judith Hermann, Daheim, S. Fischer 2021
Im Roman erwähnte Autoren und Werke:
Gerbrand Bakker
Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege
Iwan Turgenjew, Aufzeichnungen eines Jägers
Knut Hamsun, Victoria
Murakami (Ann stellt sich die Frage, ob Murakami ein Sadist sei.)
Richard Yates, Elf Arten der Einsamkeit
Erratum:
Mimi bezeichnet Arilds Frau als Furie und will sie als „Hetäre mit Fangarmen und Reißzähnen“ zeichnen.
Eine solche Aufmachung wäre Hetären wohl kaum in den Sinn gekommen. Gemeint ist wohl eine „Megäre“.
Danke für Ihre Rezension. Sie ist interessant geschrieben.
Es wäre sinnvoll, die Liste der im Buch erwähnten internationalen Literatur zu vervollständigen:
Richard Yates, Elf Arten der Einsamkeit, S.154
Gern wüßte ich, auf welcher Seite im Buch, geschrieben steht: die Kästen verbreiten eine „Aura von Wahnsinn und Raserei”
Vielen Dank für die Ergänzung, Christiane!
Das Zitat findet sich laut Auskunft meines Readers auf Seite 35 und bezieht sich auf die Marderfalle. „Die Falle war völlig neutral, sie verströmte dennoch eine eigene Atmosphäre, sie hatte eine Aura von Wahnsinn und von Raserei.”