Unsichtbar und unverzichtbar

Leïla Slimanis gesellschaftskritischer Roman „Dann schlaf auch du“ spielt mit dem Dilemma von Überforderung und Ausbeutung

Die Nan­ny ist wie die­se Sche­men, die im Thea­ter im Dun­keln das Büh­nen­bild um­bau­en. Sie he­ben ein So­fa an, ver­schie­ben ge­schwind ei­ne Säu­le aus Pap­pe, ein Stück Mau­er. Loui­se wirkt hin­ter den Ku­lis­sen, un­be­merkt und mäch­tig. Sie hat die un­sicht­ba­ren Fä­den in der Hand, oh­ne die der Zau­ber nicht funk­tio­niert. Sie ist Vish­nu, die näh­ren­de, ei­fer­süch­ti­ge und schüt­zen­de Gott­heit. Sie ist die Wöl­fin mit der Zit­ze, an der sie al­le trin­ken, die ver­läss­li­che Quel­le ih­res Familienglücks.“

Die Mo­ti­ve für Kinds­mord lie­gen meist im Wahn und der Ver­zweif­lung der Tä­te­rin. Nicht nur die Psy­che der Mut­ter oder wie hier der Nan­ny trägt zur Tat bei, son­dern oft auch die ge­sell­schaft­li­chen Um­stän­de. Leï­la Sli­ma­ni stellt in ih­rem neu­en Ro­man „Dann schlaf auch du“ bei­des her­aus, zum Glück oh­ne al­le Fra­gen ein­deu­tig zu beantworten.

Zu Be­ginn ist die blu­ti­ge Tat be­reits voll­bracht. Ei­ne Frau ver­liert die Fas­sung vor den leb­lo­sen Kör­pern ih­rer bei­den Kin­der, die von ih­rem Kin­der­mäd­chen Loui­se, ei­ne Per­le ih­rer Zunft, er­sto­chen wur­den, be­vor die­se das Mes­ser auch an sich leg­te. Knapp drei Sei­ten be­nö­tigt Sli­ma­ni für die­se Sze­ne, die mit je­der Zei­le die Fra­ge nach dem Mo­tiv stellt. Das War­um ist der bis zum Zer­rei­ßen ge­spann­te ro­te Fa­den, der den Le­ser durch die Ge­schich­te zieht. Die Au­torin rollt die­se sorg­fäl­tig auf und er­zählt von der Über­for­de­rung der jun­gen El­tern, ins­be­son­de­re vom Wunsch der Mut­ter wie­der in den Be­ruf zu­rück zu keh­ren, um nicht völ­lig auf­ge­fres­sen zu wer­den von der zer­mür­ben­den Si­sy­pho­sia­de ei­nes All­tags mit Kleinkindern.

Selbst Mut­ter zwei­er Kin­der lässt die 1981 in Ra­bat ge­bo­re­ne und in Pa­ris le­ben­de Leï­la Sli­ma­ni ei­ge­ne Er­fah­rung in den Ro­man ein­flie­ßen, für den sie 2016 mit dem Prix Gon­court aus­ge­zeich­net wur­de. Sie schil­dert die­se so ein­dring­lich, daß sie auch in mir Er­in­ne­run­gen an mei­ne Zeit mit Klein­kin­dern we­cken, an die Er­schöp­fung, die Über­for­de­rung, die Lan­ge­wei­le, an „die­ses simp­le, stil­le, ker­ker­haf­te Glück“. Ih­re Fi­gur My­ri­am fühlt sich ge­fan­gen im Tag­ein-Tag­aus mit Mi­la und Adam, den Not­wen­dig­kei­ten des Haus­halts, den Be­su­chen von Spiel­plät­zen und Ärz­ten. Als der Ju­ris­tin un­ver­hofft ei­ne Ar­beits­stel­le an­ge­bo­ten wird, er­greift sie die Chan­ce. Al­ler­dings muss erst das Be­treu­ungs­pro­blem ge­löst wer­den. Ei­ne Kin­der­frau scheint die ein­zi­ge Mög­lich­keit, auch wenn My­ri­am und ihr Mann Paul sie sich trotz gu­ter Ein­kom­men kaum leis­ten kön­nen, auch wenn die Vor­stel­lung die Kin­der ei­ner Frem­den zu über­las­sen in My­ri­am die schlimms­ten Bil­der her­auf­be­schwört. Doch „sie er­war­tet die Nan­ny wie ei­nen Mes­si­as“, der sie aus dem Klein­kin­der-Ker­ker befreit.

Er of­fen­bart sich dem Ehe­paar nach nur we­ni­gen Be­wer­be­rin­nen in Ge­stalt der al­lein­ste­hen­den Loui­se. Mit Lie­be und Kon­se­quenz wid­met sie sich den Kin­dern, ge­winnt schnell ih­re Zu­nei­gung und das Ver­trau­en der El­tern. Auch die Woh­nung bringt sie „ganz in ih­re Ge­walt, wie ei­nen Feind, der um Gna­de bit­tet“. Schließ­lich über­nach­tet sie ein- bis zwei­mal pro Wo­che bei den Mas­sés, kocht für de­ren Freun­de, be­glei­tet sie in den Ur­laub. Sie ist im­mer da „un­sicht­bar und un­ver­zicht­bar“. Ei­ner­seits schil­dert Sli­ma­ni die­se per­fek­te Nan­ny als Op­fer, das sich aus­beu­ten lässt. An­de­rer­seits wird sie zum Tä­ter, der im­mer tie­fer in das Pri­vat­le­ben sei­ner Auf­trag­ge­ber ein­dringt. „Was soll­te sie schon Bes­se­res vor­ha­ben?“ Ein ei­ge­nes Le­ben hat die ein­sa­me und, wie sich bald an­deu­tet, psy­chisch ver­letz­te Frau nicht. Es ge­nügt ihr, den Mas­sés „beim Le­ben zu­zu­se­hen“. Am liebs­ten wür­de sie für im­mer bei ih­nen blei­ben und nicht je­de Nacht in ih­re Bruch­bu­de zu­rück­keh­ren, wo ein skru­pel­lo­ser Ver­mie­ter sie mit über­zo­ge­nen For­de­run­gen in die exis­ten­ti­el­le Not treibt.

Nicht nur ih­re Ein­sam­keit er­kennt kei­ner, eben­so ver­bor­gen bleibt ih­re grenz­wer­ti­ge Per­sön­lich­keit, die sich im Um­gang mit den Kin­dern un­gut aus­wirkt. Loui­ses Ver­steck­spie­le en­den bei Mi­la und Adam stets in hel­ler Ver­zweif­lung. Die Kin­der­frau scheint durch die kind­li­che Re­ak­ti­on ih­ren ei­ge­nen Ge­fühls­zu­stand zu kom­pen­sie­ren. Fehl­ver­hal­ten be­straft sie mit grau­sa­men Dro­hun­gen oder Gewalt.

Dies al­les bleibt von den El­tern un­be­merkt, die es ge­nie­ßen „wie ver­wöhn­te Haus­kat­zen“ um­sorgt zu wer­den. Paul schätzt die Frei­heit, die Loui­se ihm und sei­ner Frau schenkt. Doch all­mäh­lich spürt er den Wi­der­spruch und ver­ab­scheut zu­neh­mend das Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis zu der Kin­der­frau. Als sie zu viert die Groß­el­tern auf dem Land be­su­chen und dort ein ech­tes Fa­mi­li­en­le­ben füh­ren, er­kennt er die Über­for­de­run­gen durch die ei­ge­nen An­sprü­che. Doch zu­rück in Pa­ris bleibt al­les wie es ist.

In kur­zen Ka­pi­teln stellt Leï­la Sli­ma­ni die Pro­ble­me un­ter­schied­li­cher Le­bens­wel­ten ein­an­der ge­gen­über. In ein­zel­nen Sze­nen wirft sie Schlag­lich­ter auf das Ver­hält­nis von Loui­se zu den Kin­dern, zu My­ri­am und Paul. Da­zwi­schen er­zählt sie in Ka­pi­teln, die als ein­zi­ge Über­schrif­ten tra­gen, von der pri­va­ten Loui­se. In al­len sucht der Le­ser nach Grün­den für die un­vor­stell­ba­re Tat. Ge­spickt mit Omi­na, sei­en es die grau­sa­men Spie­le oder Ge­schich­ten, die Loui­se er­zählt, oder My­ri­ams dunk­le Vor­ah­nun­gen, bie­ten sie vie­le Hin­wei­se. Doch ob Wahn, Ver­zweif­lung oder Ra­che Loui­se zur Mör­de­rin macht, lässt der Ro­man of­fen und bie­tet so Raum für Interpretation.

Viel Dis­kus­si­ons­stoff lie­fert auch die im Ro­man ein­ge­wo­be­ne Ge­sell­schafts­kri­tik, wes­halb er sich aus­ge­zeich­net für Li­te­ra­tur­krei­se eig­net. Die Mut­ter­schaft be­schreibt Sli­ma­ni in ih­rer gan­zen Zwie­späl­tig­keit. Dem woh­li­gen dar­in Auf­ge­hen beim „Le­ben in ei­nem Ko­kon, ab­ge­schlos­sen von der Welt und den an­de­ren“ stellt sie mit schar­fem Blick die un­gu­ten Sei­ten die­ser Le­bens­pha­se ge­gen­über. Sie hin­ter­fragt die Glücks­ver­spre­chen des El­tern­seins, vor al­lem we­gen der im­mer noch tra­di­tio­nel­len Rol­len­ver­tei­lung. Da­zu kom­men die Pro­ble­me der Kin­der­be­treu­ung. My­ri­am und Paul schei­tern am An­spruch auf ei­ne staat­li­che Lö­sung und an den Kos­ten ei­ner ver­nünf­ti­gen pri­va­ten. Als wich­tigs­ten Punkt be­nennt Sli­ma­ni die Si­tua­ti­on der Aus­ge­beu­te­ten, die nicht als An­ge­stell­te ar­bei­ten, son­dern wie Leib­ei­ge­ne die­nen. „Man sieht sie an und man sieht sie nicht. Ih­re An­we­sen­heit ist so in­tim wie un­auf­dring­lich.“ Loui­se, die nicht als Per­son mit ei­nem ei­ge­nen Le­ben und Be­dürf­nis­sen wahr­ge­nom­men wird, steht als Ex­em­pel für vie­le am Ran­de der Le­ga­li­tät be­schäf­tig­ten Pflegekräfte.

Leï­la Sli­ma­nis „Dann schlaf auch du“ ist ein ge­sell­schafts­kri­ti­scher, psy­cho­lo­gi­scher Ro­man und ei­ne äu­ßerst span­nen­de Lek­tü­re. Ei­nes je­doch ist der Ro­man kei­nes­falls, ein Ge­schenk für wer­den­de Eltern.

Über­setzt wur­de er von Ame­lie Tho­ma, die hof­fent­lich schon am De­büt Sli­ma­nis sitzt, des bis­her nur im Ori­gi­nal er­hält­li­chen „Dans le jar­din de l’ogre“.

Leï­la Sli­ma­ni, Dann schlaf auch du, übers. v. Ame­lie Tho­ma, Luch­ter­hand Ver­lag 2017

2 Gedanken zu „Unsichtbar und unverzichtbar“

  1. Ha­be den Text kürz­lich in der Bi­blio­thek mit­ge­nom­men. Ich muss sa­gen, dass nach dem „En­de” am An­fang mir die hun­dert Sei­ten bis die Kon­flik­te sich spür­bar zu­spit­zen ein we­nig zu lang­at­mig wa­ren. Ich glau­be das hät­te sich, will man den kur­zen Text nicht wei­ter straf­fen, gut durch häu­fi­ge­res Wech­seln zwi­schen den Zeit­ebe­nen lö­sen lassen…

  2. Hal­lo Sö­ren, dan­ke für dei­nen Kommentar.

    Sli­ma­ni stellt in die­sem ers­ten Ab­schnitt des Ro­mans die Fi­gu­ren und ih­re Kon­flik­te vor. In­ter­es­sant war für mich, wie da­durch ih­re Am­bi­va­lenz deut­lich wird. Die per­sön­li­che Schuld tritt so hin­ter die Miss­stän­de der Gesellschaft.

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