Michael Köhlmeier erzählt in „Zwei Herren am Strand” von Strategien gegen die Depression
„Beide hielten sie nicht viel von der Philosophie, schon gar nicht von der deutschen, aber Nietzsches Meinung, dass der Gedanke an Selbstmord ein starkes Trostmittel sei, mit dem man über manch böse Nacht hinwegkomme, teilten sie; obwohl keiner von ihnen die Stelle benennen konnte, wo das geschrieben stand. Damit dieses radikalste Trostmittel nicht irgendwann als einziges übrig bliebe, darum hatten Churchill und Chaplin beschlossen, einander immer wieder zu treffen, denn wenn es einen gäbe, der den anderen von diesem Weg abhalten könne, dann er oder er.”
Depression, besonders die bipolare mit manischen Episoden gepaarte Variante, trifft nicht selten kreative Menschen. Denken wir an Edvard Munch, Ernest Hemingway und Virginia Woolf.
Michael Köhlmeier nähert sich dieser Künstlerkrankheit mit großer Empathie. Zwei Persönlichkeiten der neueren Geschichte stehen im Fokus seines aktuellen Romans mit dem Titel „Zwei Herren am Strand“, die Briten Winston Leonard Spencer Churchill (1874–1964) und Charles Spencer Chaplin (1889–1977). Sie verbindet nicht nur der Name, sondern ein räudiger Begleiter, der Schwarze Hund Depression. Dass sie in ihren guten Phasen, die Weltgeschicke des 20. Jahrhunderts entscheidend gestalteten, deutet auf die andere Seite der Medaille. Der zweimalige Britische Premier Churchill war einer der alliierten Köpfe im Kampf gegen Deutschland. Der 14 Jahre jüngere Charlie Chaplin bleibt als Filmkünstler unvergessen. Beide kämpften nicht nur mit den ihnen eigenen Mitteln gegen den äußeren Feind Hitler, sondern auch gegen einen inneren Feind.
Davon berichtet ein Ich-Erzähler, der aus diversen Quellen schöpft, authentischen wie erfundenen. Dies gelingt Köhlmeier auf überzeugend verwirrende Weise, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lässt. Seine Leser kennen diese Taktik bereits aus seinen anderen Romanen, etwa aus „Abendland“, wo er einen skrupellosen Deutschen auf fatale Weise den Herero-Aufstand auslösen lässt.
Dass Churchill und Chaplin unter Depressionen litten ist hingegen historisch belegt und bildet die Grundlage des Romans, der zu Beginn von ihrer ersten Begegnung im Jahr 1927 berichtet. Diese ereignete sich in Malibu im Strandhaus der Hearstgeliebten Monica Davies. Allerdings nicht im glamourösen Getümmel der Party dieser Schauspielerin sondern auf einer dunklen Terrasse. Die beiden Herren wechseln einige Worte, die zu einem Strandspaziergang führen, während dessen sich ein langes Gespräch entwickelt. Anonym, denn sie stellen sich einander nicht vor, öffnen sie einem vermeintlich unbekannten Gegenüber ihr Inneres. Ihr Verständnis füreinander vertiefen sie in anschließenden Talk-Walks, therapeutischen Spaziergängen, in deren Verlauf sie zu Verbündeten gegen ihr Leid werden und zum gegenseitigen Nothelfer.
Zuvor hatte jeder mit eigenen Methoden gegen die Depression gekämpft. Churchill versuchte, den Schwarzen Hund mit Alkohol und Landschaftsmalerei zu überlisten. Chaplin suchte bei Frauen sein Heil und in einer skurrilen Schreibtherapie. Das Rezept dieser „Methode des Clowns“ habe er von seinem Freund Buster Keaton. „Ich muss dabei nackt sein. Ich darf nichts mit der Welt zu tun haben. Ich muss allein mit mir sein. (…) Ich liege auf dem Bogen Papier und schreibe einen Brief. (…) An mich selbst schreibe ich einen Brief. (…) Aber ich schreibe nicht, wie man üblicherweise schreibt, (…) Ich drehe mich dabei. (…) Wie ein Uhrzeiger. Auf dem Bauch drehe ich mich. Und schreibe dabei. (..) In einer Spirale, um genau zu sein. Von außen nach innen. Es ist wie ein Mahlstrom. So soll es sein.“ Allerdings nützen diese Methoden nicht immer im Widerstand gegen die Krankheit, unter der beide schon seit früher Kindheit litten.
Sie begleitet auch den Erzähler. Er und sein Vater kennen sie seit dem Tod der Mutter nur zu gut. Auch sie haben die Methode des Clowns zu ihrem Lebensprinzip gemacht, allerdings die unmittelbare. Daneben beschäftigte sich der Vater, im Brotberuf Beamter, mit dem Leben Winston Churchills, dem er als Kind begegnet war. Zwischen ihm und William Knott, „the very private Private Secretary to a very prime Prime Minister“, entstand eine Korrespondenz, aus der ein riesiges Konvolut an Briefen hervorging.
Diese Hinterlassenschaft, Berichte und existente wie nicht-existente Biographien nutzt der Erzähler für seine Ausführungen, dabei zitiert er manche Quelle. Köhlmeier komponiert daraus einen Roman, dessen Aufbau von häufigen Sprüngen in Chronologie und Perspektive gekennzeichnet ist. Das wirkte auf mich bisweilen sehr abrupt. Außerdem machte das Abarbeiten der biographischen Stationen mir das Lesen lang. Interesse weckten der erste wie der letzte Teil des Romans. Dazwischen störten mich Redundanzen, wie der allgegenwärtige Begriff „Schwarzer Hund“, der wie nun jeder Leser durch stetes Repetieren gelernt hat, auf Samuel Johnson zurückgeht. Auch die Bezeichnung der beiden fiktiven Sekretäre, William Knott und Kono Toraichi, als „very privat Privat Secretary“ verliert durch zahlreiche Wiederholungen an Originalität.
Überzeugt haben mich die Begegnungen der beiden Männer, ihre Dialoge, ihre Angst umeinander und ihr gegenseitiges Verständnis. Wenn Köhlmeier Churchills Frau, dessen äußere Veränderungen beim Herannahen einer depressiven Episode schildern lässt, zeigt sich wie tiefe Kenntnis zu einer gelungenen literarischen Umsetzung führen kann.
Eine weitere interessante Rezension findet sich auf dem Blog von Florian Hunger und beim LongListLesen auf dem grauen Sofa.
Michael Köhlmeier, Zwei Herren am Strand. Hanser Verlag. 1. Aufl. 2014———–
Wer sich für das Leben von Churchill und Chaplin interessiert, dem seien folgende Lektüren empfohlen:
Winston Churchill, My Early Life, 1930.
id., Marlborough: His Life and Times, 1933 bis 1938, 4 Bände.
id., The Second World War, 6 Bände, erschienen 1948 bis 1954. Eduard Thorsch (Übers.): Der Zweite Weltkrieg: Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre, 2003.
Sebastian Haffner, Winston Churchill, 1967.
Christian Graf von Krockow: Churchill: Eine Biographie des 20. Jahrhunderts, 1999.
John Keegan: Winston Churchill: A Life, 2002.
Thomas Kielinger, Winston Churchill: Der späte Held, 2014.
Churchills Gemälde im Millenium Gate Museum in Atlanta
Nachdrucke von Churchills Gemälden
———
Charly Chaplin jr., Mein Vater Charlie Chaplin, 1961.
Charles Chaplin, Die Geschichte meines Lebens, 1964.
Robert Payne: Der große Charlie. Eine Biographie des Clowns. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989.
Stephen Weissmann,: Chaplin: A Life, 2011.
David Robinson: Chaplin: His Life And Art, 2013.
Charlie Chaplin-Official Website
Liebe Atalante,
da haben wir uns ja zeitlich ganz synchron mit einer „Zwei Herren”-Besprechung beschäftigt! (Ich werde auch sofort Deinen Beitrag auf meiner Longlist-Seite verlinken.) Nur unsere Leseeindrücke sind ein wenig unterschiedlich, denn ich mochte auch die mittleren Teile, die, die den stärkeren biografischen Bezug haben und uns Einblicke geben in Arbeit und Denken der beiden Protagonisten. Und beindruckt bin ich eben gerade von den Spiegelungen in den beiden Geschichten, von den Paaren, die sich immer gegenüberstehen und die eben sich auch paarweise in der Methode des Clowns versuchen und der — mir fällt hier kein wirklich guter Begriff ein, vielleicht so: — eher rationalen Methode. Und Spiegelungen gibt es ja viele weitere, wenn der Vater beispielsweise in Churchills Buch über seinen Ahnen Bezüge zu Hitler erkennt, wenn erzählt wird, dass Chaplin nicht nur äußerliche Ähnlichkeiten habe mit Hitler, sondern auch wie ein Diktator über seine kleine Filmwelt herrsche.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, schon interessant, wie unterschiedlich ein Roman wirken kann. Während das deutsche Feuilleton durchgehend positiv reagiert hat, kam beispielsweise von der NZZ ja auch einige Kritik ‑in solchen „Grenzfällen” frage ich mich immer, woran das wohl liegen mag-.
Ich hatte hohe Erwartungen an diesen Roman Köhlmeiers, gerade weil mir „Abendland” und „Madalyn” sehr gut gefallen haben. Das Motiv der Spiegelungen wird für mein Empfinden überstrapaziert. Das Abarbeiten der biographischen Details, beispielsweise die Aufzählung der Filmtitel mit Kurzbeschreibungen in Kap. 10, hätte von mir aus wegfallen können. Ebenso wie die ein oder andere Churchill Anekdote. Eine kürzere Form hätte mir mehr zugesagt.
P.S. den Verweis auf’s LongListLesen hatte ich vergessen, er wird noch ergänzt.