François Garde erinnert in seinem ersten Roman „Was mit dem weißen Wilden geschah” an einen außergewöhnlichen historischen Fall
„Ich schaue Narcisse an, der das Meer anschaut. Seit nunmehr vier Monaten verbringen wir gemeinsam unsere Tage. Aus dem einst stummen weißen Wilden, der Furcht einflößte und zugleich verängstigt war, ist ein freundlicher und diskreter Reisegefährte geworden, der keinerlei Aufmerksamkeit erregt.
Und was ist mit mir? Hat mich dieses Abenteuer verändert? Meine Beobachtungen haben einige meiner Gewissheiten erschüttert. Was ist ein Wilder? Und falls Narcisse wirklich durch und durch ein Wilder geworden war, an welchem Tag, zu welcher Stunde wird er wieder ein Mitglied unsere Zivilisation sein? Was lehrt uns seine Lehrzeit über das Lernen? Und wer von uns beiden ist der Lehrling?
Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich weiß nur, dass die Geschichte von Narcisse keine schlichte Anekdote ist.“
Ein weißer Wilder muss in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Handlungszeit des vorliegenden Romans, wie ein Paradoxon geklungen haben. Wilde galten bestenfalls als edel und schön. Viele der so bezeichneten Menschen ferner Regionen wurden wie skurrile Souvenirs ihren Ursprungsländern entrissen und in Europa zur Schau gestellt. Nur Einzelne kamen freiwillig. Eines in Aussehen und Verhalten war ihnen jedoch gemeinsam, sie waren nicht weiß.
Anderssein und Fremdheit sind die übergeordneten Themen des Romans Was mit dem weißen Wilden geschah. Sein Autor, François Garde, wurde 1959 geboren und war als Regierungsbeamter lange Zeit in Übersee tätig. Er stellt in seinem ersten Werk, das zunächst wie ein Abenteuerroman anmutet, grundlegende Fragen. Was ist Identität? Wie formen Heimat und Herkunft unsere Persönlichkeit? Was ist Zivilisation?
Der Geschichte, die Garde sich zum Thema wählt, liegt eine historische Begebenheit zu Grunde. Das Unglück eines Matrosen, der bei der Wassersuche so weit ins Landesinnere vordrang, daß er bei seiner verspäteten Rückkehr weder Schiff noch Kameraden antraf. Narcisse Pelletier, der 18-jährige Junge aus der Vendée, blieb alleine, zurückgelassen an einem menschenleeren Strand Australiens.
Seine Verzweiflung, sein Überlebenswille und seine Hoffnung, Elemente einer Robinsonade, nimmt Garde auf. Neben diesen Schilderungen führt der Autor einen zweiten Erzählstrang ein. Alternierend zu den Abenteuern des Matrosen finden sich die Briefe des französischen Forschungsreisenden Octave de Vallombrun an seinen Geldgeber, den Präsidenten der Société Geographique, dem französischen Gegenstück zur Royal Society, der salopp gesagt federführenden Forschungsgemeinschaft dieser Zeit. Die Konstruktion verbindet äußerst kurzweilig Abenteuerroman mit der subjektiven Sicht eines Forschers. Der Leser erfährt, wie Narcisse durch die Hilfe einer indigenen Gruppe überlebt. Wie er mit der Zeit ihre Sprache lernt und weit wichtiger auch die sozialen Gewohnheiten dieser Menschen. Schließlich besitzt er nicht nur tätowierte Zeichen auf der Haut, sondern auch die Kenntnis, wie man in diesem fremden Klima lebt. Seine Assimilation mit den Gefährten der neuen Heimat lässt ihn die alte vergessen. Aus dem jungen Mann aus Saint-Gilles-sur-Vie wird der Aborigine Amglo.
Aus diesem Glück im Unglück wird er siebzehn Jahre später jäh herausgerissen. Seeleute entdecken Amglo am Strand, greifen ihn auf und verschleppen ihre bizarre Beute nach Sydney. Hier setzt nun der Bericht Vallombruns ein, der auf Anfrage des Gouverneurs dazu beiträgt, die Herkunftsnation Pelletiers zu bestimmen. Der Forscher, dessen Wunsch nach neuen Entdeckungen sich auf seiner bisherigen Fahrt noch nicht erfüllt hat, übernimmt die Aufgabe Pelletier wieder nach Frankreich zu geleiten. Hofft er doch aus dessen Erfahrungen ethnographisches Kapital zu schlagen, mit dem er die Mitglieder der Société beeindrucken kann. Immerhin hat Narcisse viele Jahre als Aborigine gelebt. Davon erfährt der Leser, und bleibt darin, wie sich im Laufe des Romans zeigen wird, Octave de Vallombrun voraus.
Spannend schildert Garde wie der Gestrandete von einer alten Aboriginefrau angenommen wird. Nicht nur Nahrung und Wasser verdankt er ihrer Fürsorge, sie pflegt ihn auch als er krank wird. Der Matrose, physisch und psychisch auf sie angewiesen, wird wieder zum Kind. Er überwindet seine auf Superioritätsdenken gegründete Abneigung und akzeptiert die Gruppe, die sein Überleben garantiert. In diesen Passagen des Romans leuchtet Garde nicht nur die innere Verfassung Pelletiers, oder besser Amglos, aus, er bereichert sie auch durch viele ethnographische Details über Nahrungsbeschaffung, soziale Rollen, Sexualverhalten, Kindererziehung und Begräbnisriten.
Davon hätte auch Octave de Vallombrun gerne erfahren. Wie er in seinen Briefen berichtet, wertet er die von ihm übernommene Rückführung Narcisses weniger als edle Tat. Er betrachtet den weißen Wilden als Forschungsobjekt, aus dessen Verhalten er auf die Sitten und Gebräuche der Ur-Einwohner schließen könne. Doch dieser schweigt. Parler, c’est comme mourir.
Vallombrun erkennt, daß er nichts von Narcisse erzwingen kann. Je länger dieser wieder in Frankreich ist, um so mehr scheint er seine Erfahrungen bei den Aborigines zu verdrängen. Vallombrun zweifelt mitunter an seinem Handeln. Aus dem auf Erkenntnisgewinn bedachten Entdecker wird in manchen Augenblicken ein reflektierender Forscher. Die Erfahrung des Fremden, die besonders eindrücklich erlebbar wird als Narcisse seine Familie besucht, lässt Vallombrun seine eigene Identität wahrnehmen. Doch Garde macht aus ihm keinen Verfechter eines modernen Menschenbildes, der sich gegen den Ethnozentrismus seiner Zeit stellt. Vallombrun drängt weder Sendungsbewußtsein noch Zivilisierungsauftrag, als er die Kinder Amglos in Australien suchen lässt. Es ist sein Ehrgeiz als Forscher, die Begegnung dieser unverfälschten Wilden mit der französischen Zivilisation zu beobachten. Ein ungeheures Unterfangen, zumal der Forscher weiß, in welcher seelischen Isolation sich der zweifach entheimatete Narcisse/Amglo befindet. Was ist nun Zivilisation und was Barbarei?
François Garde stellt in seinem 2012 mit dem Prix Goncourt für den ersten Roman ausgezeichneten Buch in vielfacher Hinsicht den Blick des Fremden in den Mittelpunkt. Er berücksichtigt Erkenntnisse und Forschungsrichtungen der dargestellten Epoche ohne kritische Positionen zu vernachlässigen. In der Kombination von Erlebnisbericht und Brief ist Garde ein historischer Roman gelungen, der diese Bezeichnung verdient.
———
Von dem historischen Narcisse Pelletier (1844–1894), dessen Schicksal bis auf die Lebensdaten und wenige Details in den Grundzügen mit der Figur in Gardes Roman übereinstimmt, künden Presseberichte aus dem Jahr 1876 und eine zeitgleich erschienene Aufzeichnung der Aussagen Pelletiers von Constant Merland. Die darin enthaltenen ethnologischen Informationen legen nahe, daß es sich bei der Aborigines-Gruppe um Sandbeach People handelte. Dieser Augenzeugenbericht wurde 2002 in Frankreich neu herausgegeben und 2009 ins Englische übersetzt. Auf ihm basieren neben dem Buch Gardes zwei weitere Romane.
Literatur:
Constant Merlan, Dix-sept ans chez les sauvages. Les aventures de Narcisse Pelletier, 1876
Narcisse Pelletier (Augenzeugenbericht aufgezeichnet von Constant Merland) (Hg. Philippe Pécot), Chez les Sauvages : dix-sept ans de la vie d’un mousse vendéen dans une tribu cannibale (1858–1875), La Roche-sur-Yon, éditions Cosmopole, 2002
Stephanie Anderson, Pelletier — The Forgotten Castaway of Cape York , Melbourne Books, 2009
Maurice Trogoff, Mémoires sauvages, Liv’Editions, 1992
Joseph Rouillé, La prodigieuse et véritable aventure d’un mousse vendéen, Offset Cinq, 2002
François Garde, Was mit dem weißen Wilden geschah, übers. v. Sylvia Spatz, C.H. Beck Verlag, 1. Aufl. 2014