Mücken, Mythen, Mussolini

Antonio Pennacchis „Canale Mussolini” — Oral History als Epos

Was bit­te, was sa­gen Sie? War­um sie dann bis hier­her ge­kom­men sind? Ja, we­gen dem Hun­ger, ich bit­te Sie, aus wel­chem Grund denn sonst? We­gen dem Hun­ger ist ei­ner zu al­lem bereit (…).

Der Ro­man, Ca­na­le Mus­so­li­ni, ver­wan­delt so­fort. Er macht aus dem Le­ser ei­nen Zu­hö­rer und ver­setzt ihn vom Ses­sel in ei­nen Stall, wo Frau­en, Kin­der, Män­ner sich am Abend ver­sam­meln. Das an­we­sen­de Vieh wärmt, eben­so das Glas Wein, al­le lau­schen ei­nem Ein­zi­gen, der eben­so wie die Frau­en ei­nen Fa­den spinnt, den Filò ei­ner lan­gen Geschichte.

An­to­nio Pen­n­ac­chis Epos be­ginnt vor hun­dert Jah­ren und er­zählt von Not und Mut der Fa­mi­lie Per­uz­zi. Kein Ge­heim­nis bleibt den Zu­hö­rern ver­bor­gen, denn der Er­zäh­ler, selbst ein Mit­glied der viel­köp­fi­gen Sip­pe, kennt sie al­le. Auch von der be­son­de­ren Be­zie­hung der Per­uz­zi zum Fa­scio weiß er ei­ni­ges zu be­rich­ten. Da gibt es nichts dran zu rüt­teln, sie wa­ren Schwarz­hem­den von An­fang an.

Die al­ten Per­uz­zi zeu­gen 17 Kin­der, nichts Un­ge­wöhn­li­ches zu ih­rer Zeit. Das ers­te, Te­mi­s­to­cle, wird 1898 ge­bo­ren, und dann folgt fast je­des Jahr ein wei­te­res. Als Klein­päch­ter die­nen sie in der Po­ebe­ne un­ter­schied­li­chen Her­ren und kön­nen je­de Hand ge­brau­chen. Doch vie­le Hän­de ha­ben viel Hun­ger. Er wur­de nicht ge­rin­ger, als die Ein­künf­te zu­rück ge­hen. Die von Mus­so­li­ni aus­ge­ge­be­ne Quo­ta 90 führt schließ­lich zum exis­ten­ti­el­len Ru­in der Per­uz­zi. Ihr letz­ter Päch­ter, Graf  Zor­zi Vila, ver­jag­te sie, nicht oh­ne ih­nen vor­her das letz­te Stück Vieh weg zu­neh­men. Der jun­ge Adel­chi will dies mit ei­ner Pis­to­le ver­hin­dern, aber das bringt ihn nur in den Knast. Auf nach Rom, die äl­te­ren Brü­der schwin­gen sich aufs Fahr­rad, Rosso­ni wird ihn schon wie­der raushauen.

Es ist das Jahr 1931, der Du­ce sitzt be­reits im Pa­laz­zo Ve­ne­zia und ne­ben ihm Rosso­ni. Der Se­kre­tär hat­te als so­zia­lis­ti­scher Streik-Red­ner auf den Dorf­plät­zen der Pa­da­na be­gon­nen. Dort er­wies ihm Per­uz­zi einst ei­nen Dienst. Als es auf ei­ner Kund­ge­bung zu ei­ner Prü­ge­lei kam, eil­te er ihm mit sei­nem Fuhr­werk zur Hil­fe. Sie lan­de­ten im Ge­fäng­nis und seit­dem ver­bin­det sie ei­ne Freund­schaft, die auch die Nach­kom­men des al­ten Per­uz­zi ein­be­zog. Sein Zweit­äl­tes­ter, Pe­ri­c­le, ist seit der Grün­dung 1919 Mit­glied des Fa­scio,1922 nimmt er mit sei­nen Brü­dern am Marsch auf Rom teil und er­weist der Be­we­gung auch spä­ter ge­wis­se Diens­te. So er­staunt es nicht, daß die Per­uz­zi tat­säch­lich Ge­hör im Pa­laz­zo Ve­ne­zia fin­den. Der klei­ne Bru­der kommt frei, aber ge­gen die Zor­zi Vila kann auch Ros­si­ni nichts aus­rich­ten. Als Lö­sung bie­tet er den Per­uz­zi die Um­sied­lung in die Pon­ti­ni­schen Sümp­fe.

Zu­sam­men mit 30 000 an­de­ren Klein­bau­ern aus Ve­ne­ti­en, Fri­aul und der Emi­lia wer­den sie Neu­sied­ler im Agro Pon­ti­no. Seit der An­ti­ke wi­der­setz­ten sich die ma­la­ria­ver­seuch­ten Sümp­fe je­dem Ver­such der Tro­cken­le­gung. Der Ca­na­le Mus­so­li­ni, tau­sen­de Eu­ka­lyp­tus­bäu­me und noch mehr Flie­gen­git­ter mach­ten sie zu be­wohn­ba­rem Land, das sich un­ter den Hän­den der flei­ßi­gen Cis­pa­da­ni­er in äu­ßerst frucht­ba­re Äcker ver­wan­deln wird. Cis­pa­da­ni­er, so wur­den die Neu­an­kömm­lin­ge von den Be­woh­nern der um­lie­gen­den Hü­gel ge­nannt, was die­se noch er­nied­ri­gen­der fan­den als Po­len­ta­f­res­ser. Aber was, so dach­ten sie, kön­ne man schon von Ma­rok­ka­nern, die Oli­ven es­sen, er­war­ten. Die Hang­be­woh­ner se­hen mit Stau­nen und Neid, wie in der einst ma­la­ria­ver­seuch­ten Ebe­ne, Städ­te und Stra­ßen er­baut wer­den, an de­nen Bor­ghi und Ge­höf­te ent­ste­hen. Auch die Per­uz­zi be­zie­hen ei­nes der be­reits fer­tig er­rich­te­ten Po­de­re.

Mit den Jah­ren ver­mehrt sich die Zahl der Po­de­re Per­uz­zi, man ver­stän­digt sich so­gar mit den Oli­ven­fres­sern und hei­ra­tet un­ter­ein­an­der. Und doch füh­len sich die Sied­ler im­mer noch als Pa­da­ner. Als sie in den Kriegs­jah­ren, die auch un­ter den Per­uz­zi Sol­da­ten­diens­te for­dern, den Trost der Kir­che be­nö­ti­gen, ver­lan­gen sie nach ei­ge­nen Pries­tern. Es soll­ten Ve­ne­zia­ner sein, die ih­re Spra­che ver­ste­hen. Man schickt ih­nen tat­säch­lich Lands­leu­te, wie Don Fe­der­i­co, ei­nen ehe­ma­li­gen Haupt­mann des 1. Welt­krie­ges oder Don Bro­di­no, der zu ei­nem Süpp­chen nie nein sagt. Die Krie­ge of­fen­ba­ren das Macht­ge­ba­ren Mus­so­li­nis, der einst ge­gen das ita­lie­ni­sche Ko­lo­ni­al­stre­ben in Äthio­pi­en ein­trat, und sich nun als Ver­tre­ter des Im­pe­ri­ums zu Glei­chem be­rech­tigt sieht. Pen­n­ac­chi schil­dert die­sen Wi­der­spruch und er schil­dert eben­so oh­ne Scheu die Gräu­el­ta­ten in Abessinien.

Dies ist nur ei­ner der vie­len Hin­wei­se, die den Vor­wurf wi­der­le­gen, es han­de­le sich um ei­nen ge­schichts­re­vi­sio­nis­ti­schen Ro­man, der die Ära Mus­so­li­ni ver­harm­lo­se oder gar ver­herr­li­che. Das Ge­gen­teil ist der Fall. Ca­na­le Mus­so­li­ni ist ein his­to­ri­scher Ro­man, im bes­ten Sin­ne des Wor­tes. Er schil­dert die Ge­schich­te ei­ner Fa­mi­lie ein­fa­cher Leu­te und zeigt wie sie ver­führt wur­den. Der kom­men­tie­ren­de Er­zäh­ler mä­an­dert sich durch Jah­re und Ge­scheh­nis­se in schel­men­haft, iro­ni­schen Ton und kri­ti­scher Sicht­wei­se. Manch­mal ver­gleicht er pro­vo­ka­tiv die fa­schis­ti­schen Zu­stän­de mit den ak­tu­el­len der nicht nur ita­lie­ni­schen Politik.

Der Er­zäh­ler sitzt in ei­nem Filò, dies be­dingt den ein­fa­chen Satz­bau, die Rück­grif­fe und Wie­der­ho­lun­gen, aber auch die le­ben­di­gen Dia­lo­ge, die An­spie­lun­gen und der­ben Scher­ze. Pen­n­ac­chi bet­tet die Fa­mi­li­en­chro­nik in ein Stück ita­lie­ni­sche Ge­schich­te ein. Sein His­to­ri­en­epos, das der eins­ti­ge Fa­brik­ar­bei­ter und be­ken­nen­de Lin­ke, im Vor­wort als sein Meis­ter­werk be­zeich­net, er­hält nicht nur durch die Na­mens­ge­bung der äl­tes­ten Per­uz­zi­söh­ne, Te­mi­s­to­cle und Pe­ri­c­le An­klän­ge an die grie­chi­sche Tra­gö­die. Im letz­ten Teil die­ses drei­tei­li­gen Werks voll­endet sie sich im Lie­bes­ver­häng­nis des Par­i­de, das am En­de auch die Iden­ti­tät des Er­zäh­lers ent­hüllt. Pen­n­ac­chi ver­eint vie­les in sei­nem Ro­man, für den er 2010 den Pre­mio Stre­ga er­hielt. Wir fin­den ma­gi­schen Rea­lis­mus, bi­bli­sche Sze­nen, Na­tur­kun­de, Tech­nik und Po­li­tik, und wir er­fah­ren so ei­ni­ges in die­sem un­ter­halt­sa­men Filò, der zu­dem ziem­lich schlau ist.

An­to­nio Pen­n­ac­chi, Ca­na­le Mus­so­li­ni, Carl Han­ser Ver­lag, 1. Aufl. 2012

 

Wei­ter­füh­ren­de Literatur:

Schie­der, Wolf­gang: Der ita­lie­ni­sche Fa­schis­mus 1919–1945. Mün­chen 2010

Mat­tio­li, Aram; Steinacher, Ge­rald: Für den Fa­schis­mus bau­en: Ar­chi­tek­tur und Städ­te­bau im Ita­li­en Mus­so­li­nis. Zü­rich 2009

10 Gedanken zu „Mücken, Mythen, Mussolini“

  1. Das ist ei­ne span­nen­de Ge­schich­te, die Du hier vor­ge­stellt hast, denn es gibt of­fen­sicht­lich, ge­ra­de für Nicht-Ita­lie­ner, ei­ne gan­ze Men­ge zu ler­nen über die ita­lie­ni­sche Ge­schich­te, die uns un­ab­hän­gig von den Ro­ma­nen doch eher ver­schlos­sen blie­be — wer re­cher­chiert schon auf ei­ge­ne Faust?
    Da wir sehr oft nach Süd­ti­rol rei­sen hat mich vor zwei jah­ren Sa­bi­ne Gru­bers Ro­man „Still­bach oder die Sehn­sucht” sehr be­ein­druckt, denn er­zählt Gru­ber ne­ben den pri­va­ten Ge­schich­ten ih­rer Prot­ago­nis­ten auch die po­li­ti­schen Pro­ble­me der Süd­ti­ro­ler seit dem ers­ten Weltkrieg.
    Al­so vie­len Dank für Dei­nen schö­nen Lesetipp!
    Claudia

    1. Schön, daß es viel­leicht ein Le­se­tipp für Dei­ne nächs­te Ita­li­en­rei­se ist, Clau­dia. Mit­te Mai er­scheint die Ta­schen­buch­aus­ga­be des Ro­mans. Noch schö­ner, daß Du mir „Still­bach” in Er­in­ne­rung ge­bracht hast. Die­sen Ro­man ha­be ich vor ei­ni­ger Zeit ei­nem nicht all zu fern Ver­wand­ten ge­schenkt, er war­tet so­zu­sa­gen auf mich. 😉

  2. Dass mit dem Ta­schen­buch ist ein gu­ter Tipp! Viel­leicht le­se ich dann im Som­mer­ur­laub im Tren­ti­no nur ita­li­en- und berg­af­fi­ne Bü­cher (Blas­mu­sik­pop ha­be ich mir nach ei­ni­gen eu­pho­ri­schen Blog­be­spre­chun­gen schon für den Ur­laub zu­rück­ge­legt, dann kann ich vom Buch auf­schau­en und mir die Ber­ge be­gu­cken). Und da passt ja Pen­nachi wun­der­bar dazu.
    „Still­bach” kann ich auch nur emp­feh­len, weil an den Fi­gu­ren die Ge­schich­te und ih­re Ver­wer­fun­gen und Kon­flik­te — die zum teil quer durch die Fa­mi­li­en gin­gen — so ganz plas­tisch deut­lich wird, si­cher­lich so ähn­lich wie in „Ca­na­le Mus­so­li­ni” auch.
    Vie­le Grü­ße, Claudia

  3. Dan­ke für die an­re­gen­de Besprechung.
    Das Buch hat mir mei­ne Schwes­ter vor Mo­na­ten emp­foh­len; da ich mei­ne Bü­cher i.d.R. aus der Sta­Bi be­kom­me, hab ich es dort auf die Wunsch­lis­te set­zen las­sen; Er­geb­nis: Ei­ne Wo­che spä­ter war es da — und so­fort aus­ge­lie­hen, bis heu­te, ist doch auch ein gu­tes Zei­chen. Wird schon ir­gend­wann klappen.

    1. Das ist auf je­den Fall ein gu­tes Zeichen.
      In un­se­rer Stadt­bü­che­rei wur­de der Ti­tel auf mei­nen Vor­schlag hin an­ge­schafft, er hat­te seit­dem wohl nicht vie­le Le­ser. Das ist ein schlech­tes Zei­chen. Fragt sich nur für wen? 😉

  4. @Claudia Wenn es um „Ita­li­en” und „Ber­ge” ge­hen soll, emp­feh­le ich dir „Der Stein­gän­ger” von Da­vi­de Lon­go. In Ca­na­le Mus­so­li­ni ha­be ich schon ein biss­chen rein­ge­guckt, ein­fach ir­gend­wo auf­ge­schla­gen und ein paar Sei­ten ge­le­sen. Ich glau­be, das wird ein rich­tig schö­ner Schmö­ker — und mal gu­cken, viel­leicht schen­ke ich mein HC-Ex­em­plar der Bibliothek. 🙂

      1. Wenn du dich tren­nen kannst, wür­de ich mich über ein an­de­res Buch freu­en. Wenn nicht, ist das auch ok, ich hab es jetzt, be­vor es zur Post geht, je­den­falls noch ein zwei­tes mal gelesen.

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