Balbec, Venedig, Florenz, Champs-Élysées, Bois de Boulogne — (Bd. 1, 3)
An stürmischen Tagen befällt den jungen Marcel Fernweh nach Balbec, einem Küstenort in der Normandie, der in aller heraufbeschworenen Phantasie bizarrer erscheint als er sich in Wirklichkeit erweisen sollte. Ein Phänomen, welches er auch beim Klang der italienischen Städtenamen Venedig und Florenz empfindet. Die Erwartung stellt ihm diese Orte „schöner und anders dar, als normannische oder toskanische Städte es in Wirklichkeit sein können“. Mit der Lektüre von Kunst- und Reiseführern taucht er ein in diese Welt fern der Realität. „Selbst unter einem ganz realen Gesichtspunkt nehmen die Gegenden, nach denen wir uns sehnen, in jedem Augenblick unseres wirklichen Lebens sehr viel mehr Raum ein als das Land, in dem wir uns befinden.“ Doch seine Krankheit verhindert die Reise.
Anstatt italienischer Renaissancebauten muss er mit den Gartenanlagen der Champs-Élysées vorlieb nehmen. Es scheint ihm unerträglich. Man könnte in Erinnerung an bereits Gelesenes auch sagen, es ist eigentlich nicht sein Genre. Dort erwartet ihn eine Geschichte, die an Swanns Liebe erinnert. Der jugendliche Marcel lernt Gilberte, die Tochter von Swann und Odette, beim Spiel kennen. Im steten Wechsel von Treffen und Trennung wird Gilberte zu seinem Sehnsuchtsobjekt. Die Plätze und Wege in den Champs-Élysées zu seinen neuen Sehnsuchtsorten. Kleine Geschenke des Mädchens, eine Murmel, eine Schrift Bergottes werden zu fetischhaften Symbolen, ebenso wie ein Stadtplan von Paris, der diese Bedeutung durch die auf ihm verzeichnete Wohnstrasse der Swanns erlangt. In der Nähe dieser Straße und an anderen von den Swanns oft frequentierten Orten zieht es Marcel, wenn er seine Angebetete nicht am gewohnten Ort findet. Trifft er sie, fühlt er sich „in Kontakt mit dem Geheimnis ihres mir unbekannten Seins“. Auf diesen Pilgerfahrten zu Gilberte begleitet ihn selbstverständlich Françoise, in ihrer Funktion als Kindermädchen und als Informantin in Sachen Gilberte. Diese Gänge und das tägliche Warten auf Briefe werden Marcel zur Obsession. In seinem unheilbar verliebten Zustand werden auch Swann und noch mehr Mme Swann zu Objekten seiner Beobachtungsbegierde. Mme Swann folgt er in den Bois de Boulogne, „aus dem plötzlich in weichem Pelz und mit schönen Tieraugen eine eilige Spaziergängerin auftaucht“. Odette, die unter dem Duft der Bäume in der Allée des Acacias wie „gewisse, elegante Damen“ ihre Identität offenbart. „Frauen, die alleine sein oder wenigstens den Anschein erwecken möchten als wollten sie es sein“, in „Stoffen und Zutaten, die andere Frauen nicht trugen“. Marcel fühlt sich bei ihrem Anblick so bewegt als erblicke er Gilberte. Das Tuscheln einiger Herren, die sich unverblümt an ihr Zusammensein mit Odette erinnern, ignoriert er. Sie blendet ihn mit ihrer souveränen Erscheinung, „angetan, wie das Volk sich eine Königin denkt“, wenn auch „mit dem Lächeln einer Kokotte“. Marcel zieht vor ihr den Hut und ist sich gleichzeitig bewusst für sie keine wesentlichere Bedeutung zu haben als die Enten im Park.
Ein Zeitsprung leitet den Schluss dieses Kapitels ein. Der gealterte Erzähler versucht noch einmal den Zauber dieser Gegend nach zu empfinden. Doch dies gelingt ihm nicht. Er erkennt, „welcher Widersinn darin liegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz ihnen fehlen muß, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann.“
Historisches — Photographien
Champs-Élysées
Während der Neugestaltung der Gartenanlage des Tuilerienschlosses unter Ludwig XIV. (1638–1715) wurde im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts eine breite von Ulmen gesäumte Allee angelegt. Dieses in der Folgezeit zur Prachtstraße verlängerte und ausgebaute Anfangsstück trägt seit Beginn des 18. Jahrhunderts den Namen Champs Élysées. Benannt nach den Gefilden der Heroen, dem mythologischen Elysion, dienten die sich an die Allee anschließenden offenen Gärten den Proustschen Helden als Spiel- und Tummelplatz. Der Treffpunkt war zur Zeit der Recherche im Stil eines englischen Landschaftsparks angelegt, mit Pavillons, Panoramen, Theatern, Cafés, Konzerträumen und mehr.
Der Ohrwurm gleichen Namens hätte vielleicht auch Proust gefallen, immerhin geht es um die Liebe. 😉
Bois de Boulogne
Seit dem 13. Jahrhundert als königliche Domäne vor allem der Jagd vorbehalten, wurden dort im 18. Jahrhundert zahlreiche Lustschlösser erbaut. Sie dienten dem Adel als Orte des Kunstgenuss und anderer Vergnügungen. Unter Napoleon III. (1808–1873) wird das Areal aufgeforstet, Seen und Wasserspiele integriert und Alleen angelegt. Während der Belle Époque wird der Bois nicht zuletzt durch das Hippodrom zum Treffpunkt der Gesellschaft. Mit den Damen der Demimonde ließ sich dort natürlich besonders gut lustwandeln.