Proust — Liebesträume

Die Metamorphosen der Madame de Guermantes — (Bd. 3, 1)

GuermantesDie Er­in­ne­rung an ei­ne Per­son, die für uns von Be­deu­tung war, ver­än­dert sich im Lau­fe der Zeit. Je län­ger wir die­sem Men­schen nicht be­geg­nen um so stär­ker wan­delt er sich zum Ide­al, das mit der all­täg­li­chen Per­son kaum noch übereinstimmt.

So er­geht es auch dem Prot­ago­nis­ten, der im Pa­ri­ser Pa­lais der Guer­man­tes wohnt und da­mit in un­mit­tel­ba­rer Nä­he die­ses Adels­ge­schlech­tes, des­sen Na­me ihn schon in Com­bray mit Ehr­furcht er­füll­te. Als er Ma­dame de Guer­man­tes, der Frau des Her­zogs, zu­fäl­lig auf der Stra­ße be­geg­net, ist es ihm un­mög­lich, sein Bild von die­ser Frau mit dem Ide­al in Über­ein­stim­mung zu brin­gen, wel­ches ihn seit ih­rem An­blick in der Kir­che von Com­bray be­setzt. Das Her­aus­ra­gen­de wird un­ver­se­hens zu et­was All­täg­li­chem, es voll­zieht sich ei­ne Des­il­lu­si­on, die er sich als Me­ta­mor­pho­se zu er­klä­ren ver­sucht. Wie bei Ovid aus ei­ner Nym­phe ei­ne Pflan­ze oder ei­ne Quel­le wer­den kann und die­se da­durch ih­ren ur­sprüng­li­chen Lieb­reiz ver­liert, so ver­wan­delt die rea­le All­tags­si­tua­ti­on den Zau­ber der Her­zo­gin. Die­ser stellt sich je­doch wie­der ein, so­bald nur noch Er­in­ne­rung die­ses Bild zu­sam­men­setzt. Ge­hirn und Ge­fühl re­kon­stru­ie­ren die be­gehr­te Pro­jek­ti­on. Und doch ver­ur­sacht je­de neue Be­geg­nung wie­der Ent­täu­schung. Die Ba­na­li­tät des All­tags zer­stört das Ide­al. Der Fas­zi­nier­te be­ob­ach­tet bei Ma­dame de Guer­man­tes ei­nen Hang zur mo­di­schen Klei­dung, die ihm si­gna­li­siert, daß sie auf das Ur­teil der Pas­san­ten Wert legt. „Die­se so tief un­ter ihr ste­hen­de Rol­le der ele­gan­ten Frau“, ent­spricht nicht sei­ner Vor­stel­lung von ih­rer her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­keit. Erst als er sie in der Oper er­blickt, nimmt die Klei­dung für ihn ei­nen an­de­ren Stel­len­wert ein. Er deu­tet sie als Zei­chen für die Auf­he­bung der Me­ta­mor­pho­se. Die Ro­be mit dem pai­let­ten­be­setz­ten Ober­teil of­fen­bart die wah­re Ge­stalt der Ma­dame de Guer­man­tes, die Ägis ver­rät die Mi­ner­va. Sie er­scheint als Göt­tin, die bei sei­nem An­blick al­ler­dings wie­der zur Frau wird und ihn lä­chelnd grüßt.

Der jun­ge Mar­cel ist ver­liebt und dies so­fort un­glück­lich, da er ahnt, daß die­se Göt­tin für ihn un­er­reich­bar blei­ben wird. „Ich hat­te mich, in Wirk­lich­keit lei­der, da­für ent­schie­den, die Frau zu lie­ben, die viel­leicht die größ­te Zahl von ver­schie­den­ar­ti­gen Vor­tei­len auf sich ver­ei­nig­te und in de­ren Au­gen ich des­we­gen nicht hof­fen konn­te, auch nur ir­gend­ein An­se­hen zu ge­nie­ßen; denn sie war eben­so reich wie der Reichs­te, der da­ne­ben nicht auch noch ad­lig war, ganz zu schwei­gen von ih­rem per­sön­li­chen Charme, durch den sie ton­an­ge­bend und un­ter al­len ge­wis­ser­ma­ßen die Kö­ni­gin war.“

Wie­der ein­mal hält ihn ei­ne me­lan­cho­li­sche Lie­be in Lie­bes­träu­men ge­fan­gen. Er ver­sucht die Her­zo­gin auf der Stra­ße ab­zu­pas­sen, un­ter­nimmt zur glei­chen Zeit sei­ne Spa­zier­gän­ge, war­tet an den Ecken, die sie pas­sie­ren wird, war­tet ver­geb­lich, muss sein War­ten ver­ber­gen, will nicht auf­fal­len und han­delt da­durch viel­leicht ver­kehrt, wenn er bei ei­ner der we­ni­gen Be­geg­nun­gen, ih­re Auf­merk­sam­keit er­regt, je­doch den Gruß nicht er­wi­dert. Sein Ver­such nicht auf­dring­lich zu er­schei­nen, könn­te sie als Un­höf­lich­keit deu­ten, was ihn be­drückt. „War­um ver­spür­te ich den glei­chen Schau­er, heu­chel­te ich die­sel­be Gleich­gül­tig­keit, wand­te ich die Au­gen auf die glei­che zer­streu­te Wei­se ab, wie am Vor­tag, wenn in ei­ner Sei­ten­stra­ße und un­ter ei­ner klei­nen ma­ri­ne­blau­en To­que ei­ne Vo­gel­na­se im Pro­fil auf­tauch­te, längs ei­ner ro­ten Wan­ge, die von ei­nem ste­chen­den Au­ge quer durch­schnit­ten wur­de, gleich­sam die Er­schei­nung ei­ner ägyp­ti­schen Gottheit?“

Sei­ne Angst durch­schaut zu wer­den wächst, Fran­çoi­se wis­sen­der Blick, wenn er mor­gens die Woh­nung ver­lässt, könn­te aus ei­ner Be­mer­kung der Be­diens­te­ten der Her­zo­gin re­sul­tie­ren, die sich ab­fäl­lig über den „Mis­se­tä­ter“ ge­äu­ßert ha­ben mag.

Hat­te er zu Be­ginn Ma­dame de Guer­man­tes noch ge­gen die bis­he­ri­gen Lie­ben, Al­ber­ti­ne, Gil­ber­te, gar ge­gen un­be­kann­te reiz­vol­le Mäd­chen ab­ge­wo­gen, ist die­ser Ver­gleich nun ganz sei­ner Über­zeu­gung un­ter­le­gen, daß die­se Guer­man­tes egal in wel­cher Form sie ihm auch er­scheint, sei­ne Göt­tin ist. „Was ich lieb­te, war die un­sicht­ba­re Per­son, die das al­les in Be­we­gung setz­te, war sie, de­ren Feind­se­lig­keit ich hät­te ver­ja­gen wol­len.“ Und doch scheint er aus­sichts­los in sei­nem un­er­füll­ba­ren Ver­lan­gen. „Ich lieb­te Ma­dame de Guer­man­tes wirk­lich. Das größ­te Glück, das ich von Gott hät­te er­bit­ten kön­nen, wä­re ge­we­sen, daß er al­le nur mög­li­chen Ka­ta­stro­phen auf sie nie­der­ge­hen las­se und daß sie, (…) , zu mir kom­me, um bei mir Zu­flucht zu suchen.“

Er be­schließt über ei­nen Um­weg, durch den Be­such bei ih­rem Nef­fen Ro­bert de Saint-Loup, in ih­re Nä­he zu ge­lan­gen. Viel­leicht er­wähnt ihn Saint-Loup bei sei­ner Tan­te, viel­leicht kann er so­gar ei­ne Be­geg­nung ar­ran­gie­ren? Auch wenn die­ser Be­such und die ent­ste­hen­de Freund­schaft zu Ro­bert ihn zu­nächst von sei­nem Ziel ab­zu­len­ken scheint, ist sei­ne Sehn­sucht stets ge­gen­wär­tig. „Es war, als ha­be ei­ne ge­schick­ter Ana­tom ei­nen Teil mei­ner Angst ent­fernt und ihn durch ei­nen glei­chen Teil un­kör­per­li­chen Schmer­zes er­setzt.“ Es stellt sich die glei­che Me­lan­cho­lie ein, die ihn schon frü­her be­setzt hielt, der ge­rings­te An­lass weckt sei­ne Er­in­ne­rung. „Ein wei­cher Luft­hauch, der vor­über strich, schien mit ei­ne Bot­schaft von ihr zu brin­gen wie einst von Gil­ber­te auf den Fel­dern von Méséglise.“

Saint-Loup ver­spricht ihn bei sei­ner Tan­te ein­zu­füh­ren, doch ein Zwi­schen­fall macht Saint-Loups bal­di­gen Be­such in Pa­ris un­wahr­schein­lich. Auch Mar­cels Zeit ist be­grenzt, da er zu ei­nem er­neu­ten Auf­ent­halt in Bal­bec auf­bre­chen wird. Um zu­vor von Ma­dame de Guer­man­tes emp­fan­gen zu wer­den, er­in­nert er Ro­bert an sei­ne Be­geis­te­rung für die Kunst Elstirs. Da drei sei­ner Wer­ke sich im Pa­lais Guer­man­tes be­fin­den, bit­tet er ihn ei­ne Be­sich­ti­gung zu arrangieren.

Wie­der in Pa­ris zö­gert un­ser Held sei­ne Spa­zier­gän­ge auf­zu­neh­men. Er fürch­tet Ma­dame de Guer­man­tes zu be­geg­nen, als ob sie ihm al­le sei­ne Be­mü­hun­gen an­se­hen könn­te. Doch er kann sei­nen Wunsch nicht be­zwin­gen und er­fin­det Recht­fer­ti­gun­gen, die ihn nö­ti­gen das Haus zu ver­las­sen. Wie­der weiß er bei den zu­fäl­li­gen Be­geg­nun­gen nicht, ob er grü­ßen soll. Sei­ne Hem­mun­gen schei­nen ge­wach­sen zu sein. Er­schien die Her­zo­gin ihm vor sei­ner Ab­rei­se nach Don­ciè­res als ei­ne Ge­stalt aus dem an­ti­ken Göt­ter­him­mel, so er­scheint sie ihm nun in ih­rem Kleid aus hell­ro­tem Samt gleich­sam im „mys­ti­schen Licht“ ei­ner „Hei­li­gen aus der ers­ten Zeit der Chris­ten­heit“ und da­mit un­er­reich­bar wie bei der ers­ten Be­geg­nung im Licht der Kir­che von Combray.

Die­se emp­fun­de­ne Un­er­reich­bar­keit be­stä­tigt sich auch in der Rea­li­tät. Saint-Loup kann ihm vor­erst kei­ne Ein­la­dung bei sei­ner Tan­te ver­schaf­fen, denn die­se sei „gar nicht mehr so nett“.