Proust — Faubourg Saint-Germain

Hôtel de Guermantes


Der drit­te Band trägt den Ti­tel „Guer­man­tes“, den Na­men des Adels­ge­schlechts, des­sen Her­zo­gin der Er­zäh­ler einst als über­na­tür­li­che Er­schei­nung in der Kir­che wahr­ge­nom­men hat­te. Wir er­in­nern uns nur zu gut an die Wie­der­erwe­ckung die­ser Emp­fin­dung im ers­ten Band der Re­cher­che. An­lass für die­sen Rück­blick bie­tet der Um­zug der Fa­mi­lie in ei­ne Woh­nung im Sei­ten­flü­gel des Hô­tel de Guer­man­tes. Die­ses im Fau­bourg Saint-Ger­main ge­le­ge­ne Stadt­pa­lais weckt in Mar­cel viel­fäl­ti­ge Er­in­ne­run­gen. Sie krei­sen um den Na­men Guer­man­tes, der die kaum be­kann­te Per­son in ein un­er­reich­ba­res Idol ver­wan­del­te. Jetzt rückt sie in räum­li­che Nä­he und gibt sich da­durch der Ge­fahr preis, ih­ren Zau­ber im All­täg­li­chen zu ver­lie­ren. Der Er­zäh­ler be­fürch­tet die oft er­fah­re­ne Dis­kre­panz zwi­schen Vor­stel­lung und Rea­li­tät auch hier. Doch zu­nächst bleibt Ma­dame de Guer­man­tes ei­ne Er­in­ne­rung, die den jun­gen Mar­cel mit syn­äs­the­ti­scher Kraft nach Com­bray ver­setzt. Nicht nur die leuch­ten­den Farb­spie­le von Mauve bis Ge­ra­ni­en­ro­sa, die im Licht der Kir­chen­fens­ter Feu­er fan­gen, auch die Luft Com­brays in ih­rer Früh­lings­fri­sche und der un­ver­gess­li­che Weiß­dorn­duft meint der Er­zäh­ler wahr­zu­neh­men. Selbst die Tau­ben auf dem Dach schei­nen als Bo­ten des Kind­heits­glücks di­rekt von dort nach Pa­ris ge­flo­gen zu sein. Das fer­ne Schloß der Guer­man­tes bei Com­bray mit all sei­nen Wand­tep­pi­chen und wert­vol­lem In­te­ri­eur ma­te­ria­li­siert sich in die­sem Stadt­pa­lais, in dem Hand­wer­ker und Putz­ma­cher, klei­ne Ge­schäf­te und Bür­ger an­ge­sie­delt sind. Durch den Um­zug wird Mar­cel zwar nicht Teil der Welt der Guer­man­tes, aber er rückt in die Nä­he ih­res Mys­te­ri­ums. Die Neu­gier der Kö­chin Fran­çoi­se, die in leut­se­li­gem Klatsch Kon­tak­te knüpft, hilft ihm da­bei. Zu die­sem Zweck ver­setzt sich der Er­zäh­ler in die Welt Fran­çoi­ses, er be­schreibt das Le­ben der Dienst­bo­ten, dar­un­ter mit köst­li­cher Iro­nie das sa­kro­sank­te Ri­tu­al der Mit­tags­mahl­zeit, „je­ne Art von fei­er­li­chem Pas­sah­mal (…), das nie­mand un­ter­bre­chen darf, ei­ne hei­li­ge, „ihr Mit­tag­essen“ ge­nann­te Hand­lung, S. 18“.

Gleich­zei­tig be­tont er die sym­bio­ti­sche Be­zie­hung der Haus­an­ge­stell­ten zur Fa­mi­lie des Er­zäh­lers, de­ren ge­sell­schaft­li­chen Sta­tus sie auch für sich an­nimmt und den sie in der neu­en Nach­bar­schaft ge­wahrt wis­sen möch­te. Ei­nen Ver­bün­de­ten fin­det sie in Ju­pi­en, dem Wes­ten­ma­cher, des­sen me­lan­cho­lisch bli­cken­de Au­gen sei­ne Ge­sichts­zü­ge do­mi­nie­ren. Man meint in die­ser klei­nen Cha­rak­ter­skiz­ze ein Selbst­por­trät Prousts zu er­ken­nen, „…sei­ne Au­gen, de­ren mit­lei­di­ger, ver­zwei­fel­ter und ver­sun­ke­ner Blick gleich­sam über­quoll, un­ter gänz­li­cher Auf­he­bung des Ein­drucks, den oh­ne ihn sei­ne di­cken Wan­gen und sei­ne blü­hen­de Ge­sichts­far­be ge­macht hät­ten, den Ge­dan­ken auf­kom­men, er sei sehr krank oder so­eben von ei­nem schwe­ren Trau­er­fall heim­ge­sucht wor­den. Nicht nur konn­te da­von kei­ne Re­de sein, viel­mehr wirk­te er, so­bald er sprach, in ma­kel­lo­ser Wei­se üb­ri­gens, eher spöt­tisch und kalt.…Als Ent­spre­chung viel­leicht zu je­ner Über­flu­tung sei­nes Ge­sichts durch die Au­gen (…) stell­te ich tat­säch­lich sehr bald bei ihm ei­ne un­ge­wöhn­li­che In­tel­li­genz fest, zu­dem ei­ne der na­tür­lichs­ten li­te­ra­risch ge­präg­ten, S. 23f.“

Die an­fäng­li­chen Be­fürch­tun­gen, durch die Nä­he könn­te der Na­me Guer­man­tes an Glanz ver­lie­ren er­füllt sich bei­nah als der Er­zäh­ler er­fährt, daß es sich bei dem Pa­lais nicht um ei­nen alt­ehr­wür­di­gen Fa­mi­li­en­sitz han­de­le, son­dern um ei­ne noch nicht all­zu lan­ge wäh­ren­de Miet­sa­che. Doch als er hört, die Her­zo­gin füh­re das ele­gan­tes­te Haus im Fau­bourg Saint-Ger­main, hält er an sei­nem Ziel fest, ei­nes Ta­ges zum Sa­lon de Guer­man­tes ge­la­den zu werden.

Die­ser ers­te Ab­schnitt des drit­ten Ban­des bie­tet ei­nen Ein­blick in das Mi­lieu ei­nes vor­neh­men Pa­ri­ser Wohn­vier­tels, ge­spie­gelt durch den Blick der Dienst­bo­ten, An­ge­stell­ten und Hand­wer­ker, der, wenn auch iro­ni­siert vie­les von dem Selbst­ver­ständ­nis der je­wei­li­gen Grup­pe ver­rät. Nicht zu­letzt zeigt er die noch im­mer be­stehen­de Fas­zi­na­ti­on, die der Adel auf das „ge­mei­ne“ Volk aus­üb­te, man möch­te hin­zu­fü­gen, nicht nur da­mals, nicht nur dort.

Of­fen­sicht­lich ist die Ver­eh­rung des Adels, mit ei­nem ge­wis­sen Geist der Auf­leh­nung ge­mischt und auf ihn ab­ge­stimmt, dem Volk aus dem fran­zö­si­schen Bo­den als Erb­teil mit­ge­ge­ben und wirkt kräf­tig wei­ter in ihm. Denn Fran­çoi­se, zu der man über Na­po­le­ons Ge­nia­li­tät oder über draht­lo­se Te­le­gra­phie spre­chen konn­te, oh­ne ih­re Auf­merk­sam­keit zu er­re­gen und oh­ne da sie auch nur ei­nen Au­gen­blick ih­re Be­we­gun­gen ver­lang­samt hät­te, wäh­rend sie die Asche aus dem Ka­min hol­te oder den Tisch deck­te, brach, wenn ihr sol­che Be­son­der­hei­ten zu Oh­ren ka­men, wie daß der jüngs­te Sohn des Her­zogs von Guer­man­tes ge­wöhn­lich Fürst von Olé­ron hieß, in die Wor­te aus: „Das ist aber schön!“ und blieb ver­zückt ste­hen wie vor ei­nem far­bi­gen Kir­chen­fens­ter, S. 43.“

Lei­der läßt sich nicht sa­gen, wel­ches der vie­len Pa­ri­ser Stadt­pa­lais Proust vor Au­gen hat­te als er das Hô­tel de Guer­man­tes schuf. Es be­sitzt den Plan ei­nes „Hô­tel par­ti­cu­lier”, ei­nes mehr­stö­cki­gen Ge­bäu­des, des­sen Stra­ßen­front über ein Por­tal Zu­gang zum Eh­ren­hof und den Sei­ten­flü­geln ge­währt. Der Haupt­wohn­trakt, Corps de lo­gis, mit der im ers­ten Stock ge­le­ge­nen Eta­ge no­ble schließt den Hof ab, da­hin­ter liegt der Gar­ten. Die Fa­mi­lie Proust leb­te von 1871–1909 in ei­ner Woh­nung am Bou­le­vard Ma­le­sher­bes Nr. 9, auch dort be­fand sich die Schnei­de­rei ei­nes Wes­ten­ma­chers, so daß man ge­neigt ist auch das Pa­lais Guer­man­tes in die­ser Ge­gend an­zu­sie­deln. Rai­ner Mo­ritz, der den schö­nen klei­nen Band „Mit Proust durch Pa­ris“ ver­fasst hat, be­zwei­felt dies je­doch und ver­mu­tet ei­ne La­ge auf der an­de­ren Sei­te des Flu­ßes im Fau­bourg Saint-Honoré.

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