In seinem Roman „Der von den Löwen träumte“ schildert Hanns-Josef Ortheil sein Schreiben und erzählt von Hemingway in Venedig
„Etwas aufschreiben? Etwas von dem, was Hemingway zu ihm gesagt hatte? Über das Schreiben? Über Gott? Über das Beten? Vielleicht war es gar keine schlechte Idee. An welche markanten Sätze erinnerte er sich denn? O, da gab es viele.“
Derartige Gedanken mögen im Kopf desjenigen schwirren, der ein Buch über Hemingway schreiben will. Er muss den berühmten amerikanischen Schriftsteller gekannt haben, gut gekannt. Vielleicht ein Freund, der wie Hemingway ein Schriftsteller ist. Doch der Freund, den Ortheil in „Der von den Löwen träumte“ Hemingway zugesellt, und der dies denkt, ist ein junger Fischer aus Venedig. Er ist sogar eine Hauptfigur des Romans. Die zweite ist Hemingway, der im Jahr 1948 die Lagunenstadt in Begleitung seiner vierten Ehefrau Mary besuchte. Auch sie taucht in Ortheils Version dieser biographischen Begebenheit auf, spielt allerdings nur eine kleine Rolle neben Paolo, der Hemingway bei den Erkundungen der Wasserstraßen Venedigs begleitet.
Das Titelbild illustriert die Situation. Eine Flusslandschaft mit Boot, blätterlose Büsche und Bäume am Ufer, am Bildrand ein Gebäude. Hemingway, der im Herbst seines Venedig-Aufenthalts 49 Jahre zählt, sitzt im Bug eines kleinen Boots, er hält ein Gewehr. Im Heck steht ein junger Mann, er hält das Ruder.
Die Hauptfiguren des Romans sind eindeutig männlich. Zwar kündigt der Klappentext Hemingways Liebe zu einer achtzehnjährigen Venezianerin an, doch diese bleibt wie alle Frauen des Buchs eher blass.
Nicht die Liebe, sondern das Schreiben spielt die Hauptrolle in Ortheils Roman. Er ist eng verknüpft mit „Über den Fluss und in die Wälder“, dem Venedig-Roman Hemingways. In vielen Passagen schildert Ortheil, wie Schreiben funktioniert, was einen Schriftsteller inspiriert, wie und was er notiert, wie er denkt und vor allem fühlt. Ortheil analysiert sein Handwerk und offenbart dem Leser, wie (s)ein Schriftsteller schreibt. Am bekanntesten Werk Hemingways, der Erzählung „Der alte Mann und das Meer“, zeigt er, — nota bene mit notwendiger Phantasie‑, wie Werke entstehen (könnten). Eine fulminante Zusammenfassung der Erzählung fehlt nicht. Aus ihrem letzten Satz kreiert Ortheil den Titel seines Romans.
Das Schreiben steht schon zu Beginn im Vordergrund. Auf den ersten Seiten lässt Ortheil Mary über Hemingways Schreibweise sinnieren und charakterisiert dadurch seine eigene. „Alles, was ihm auffiel, nahm er ernst, ging ihm nach, notierte seine Eindrücke, ließ sie sich setzen und machte aus ihnen nach einer Zeit der Klärung eine Geschichte (…).“
Noch vor Hemingway kommt der Leser in Venedig an und begegnet dort Sergio Carini, als Journalist ein Mann des Worts und die ideale Figur, um die Vorgeschichte Hemingways zu referieren. Carini plant ein Buch über den großen Meister. Aus diesem Grund nimmt er seinen Sohn Paolo mit ins Boot, der dieses fortan mit Hemingway teilt. Allerdings nach dessen Regeln, die auferlegte Diskretion führt nicht zu erwartbarer Distanz, sondern zu einem Vertrauen, aus dem Freundschaft entsteht.
Hemingway bezieht mit Mary das Gritti und knüpft erste Kontakte. Er verhält sich wie andere Protagonisten in anderen Romanen Ortheils. Er erkundigt sich bei Einheimischen, wo sich gut und möglichst authentisch essen und trinken lässt, und begibt sich auf Entdeckungstour. Keinesfalls will er als Tourist erkannt werden, ein typisch Ortheil’scher Topos, und schon gar nicht als Schriftsteller-Star.
Ortheils Hemingway überlässt seiner Frau das Sightseeing. Seine Museumspläne lassen eine gewisse Hybris spüren, bitte nur ein Bild und unbedingt etwas Venezianisches. Inkognito erkundet er Venedig, auf Nebenwegen durch kleine Gassen und Kanäle. Paolo führt ihn durch die verschlungene Lagunenstadt. Hemingway führt den Gehilfen im Gegenzug in die Geheimnisse der alkoholischen Genüsse und seiner Literatur ein.
Um mit der Stadt und ihren Menschen vertraut zu werden, will er sie sensorisch erkunden, Gerüche und Geschmäcker gehören zum Geheimnis einer Gegend. Zu diesen „Momenten des Fußfassens“ zählen auch die heimlichen Fahrten mit dem Fischerboot.
Das wachsende Vertrauen zwischen Paolo und dem Schriftsteller führt Hemingway zu Paolos Familie. Forciert wird dies durch einen Schachzug Martas, Paolos Schwester. Sie stößt in ihrer Vielseitigkeit nicht nur diese Handlungsebene an, sondern fungiert zugleich als Marys venezianische Gesellschafterin und als Adrianas English-Miss. Da ist sie, Adriana Ivancich, die Tochter aus einem noblen Palazzo, die mit Marta zur Schule ging und schon bald Hemingway auf die Jagd und in Bars begleiten wird.
Adriana, die angekündigte „venezianische Verlockung“ Hemingways, das Vorbild für die Renata in „Über den Fluss und in die Wälder“, ist wie diese zu jung für ihrem amerikanischen Begleiter. Als Hemingway sie zum ersten Mal auf einer Brücke erblickt, erinnert sie ihn an die schönen schwarzhaarigen Venezianerinnen von Veronese und Tintoretto.
Ortheil schildert seine Szenen mit wechselnden personalen Erzählern. Neben seinen beiden Hauptfiguren, Hemingway und Paolo, liegt diese Funktion auch bei Sergio oder Mary. Sergio spekuliert aus der Distanz über das Gemüt des Schriftstellers. Hemmt diesen „Etwas Psychisches. Eine bedrohliche Lähmung. Etwas, das im schlimmsten Fall einen schweren Zusammenbruch auslösen konnte.“?
Ortheils detaillierte Beschreibungen erzeugen Atmosphäre. Sei es eine abendliche Fahrt über den Canal Grande, „Einige Zimmer in den Häusern zu beiden Seiten waren bereits erhellt. Das Licht war tiefgelb und füllte das Netzwerk der Räume wie flüssiger Honig.“ oder der Blick auf die Lagunenlandschaft, „Die sattgrünen Wiesen hatten weiche, pelzartige Ränder, und überall gruben sich helle Wasserrinnen durch die feuchtbraunen Äcker. Die großen Salzwiesen blinkten violett, und in der Ferne schimmerten die weiten Meerestiefen so hell, dass sie bis ins Weiße, Blendende übergingen. (…) Manchmal hinterließen sie kleine Wellen, sie zischten an den Ufern entlang oder schwappten, von den Windstößen getrieben, über die Wiesen und torkelten in ihre niedrigen Bettstellen.“ Allerdings fehlen auch nicht die gewohnten Ortheil’schen Ingredienzien, sei es das Einrichten eines Schreibplatzes oder penible Erläuterungen zu Speisen und Getränken, von der Zusammensetzung eines Montgomery bis zur fachgerechten Anleitung Austern zu öffnen. Zwischen Selbstverpflegung mit „guter Salami“ und Valpolicella kehrt er auch gerne in Harry’s Bar, Ciprianis Locanda auf Torcello und authentischen Privatküchen ein. Als weitere Zutaten finden sich neben Gondeln und Risotto Erinnerungen an Hemingways Kindheit und seine frühen Jahre.
Durch die wechselnden Erzähler entsteht der Eindruck, daß nicht nur die Perspektiven wechseln, sondern auch die Identitäten. Umso mehr, als der Autor und seine Figuren große Schnittmengen in ihrem Denken und Schreiben zeigen. Das gilt nicht nur für den Schriftsteller Hemingway, sondern auch für den Journalisten Sergio, der ein Buch über den Venedig-Aufenthalt Hemingways schreiben will, sowie gegen Ende des Romans für Paolo. Im Denken und Handeln, beim Reden und Fühlen, ja sogar im Essen und Trinken sind die Figuren kaum voneinander abzugrenzen. Einzig bei einem Streit mit seiner Ehefrau Mary, meint man plötzlich einen raubeinigen Hemingway fluchen zu hören.
Abgesehen von dieser Szene bleibt Mary blass, und auch die anderen Frauenfiguren in diesem Roman entwickeln wenig Persönlichkeit. Sie sind auf Rollen beschränkt. Adriana ist schön, Marta schlau und Elena Carini, Sergios Ehefrau und die Mutter von Marta und Paolo, kommt aus der Küche kaum heraus.
Dem Schreiben als Hauptthema widmet sich Ortheil hingegen mit Leidenschaft. Wir erfahren, wie wichtig die Aufmerksamkeit fürs Detail ist. „Präzises Sehtraining ist eine gute Vorübung für präzises Schreiben“. Detailliert beschreibt Ortheil die Natur, Plätze und Fassaden, aber auch Innenräume. Einen besonderen Blick legt er auf die Malerei, die er nicht wegen ihrer Berühmtheit betrachtet, sondern als Angebot für Entdeckungen nimmt. All diese Wahrnehmungen notiert sich sein Schriftsteller. Die notierten Beobachtungen verbinden sich schließlich während des Schreibens an einem Roman mit der Fiktion. Diese Arbeitsweise, zu der Ortheil sich in Interviews und Büchern bekennt, schreibt er in seinem Roman Hemingway zu.
Ortheil erlaubt sich Vermutungen, in welchen Schreibphasen und in welcher Verfassung Hemingways Venedig-Roman entstanden sein könnte, und lässt den jungen Paolo darüber sinnieren. „Ungeduldig und gereizt wie er (Hemingway) oft ist, war er seinen ersten Impulsen gefolgt und hatte nicht einmal daran gedacht, sie zu kaschieren oder gar zu verwandeln“. Auf den Vorwurf, daß Hemingway seine Begegnung mit Adriana für den Roman ausschlachte, erwidert dieser, „All das habe ich zusammen mit Adriana erlebt, und vieles von diesen Erlebnissen kann ich im Roman verwenden und beschreiben. (…) Ich schreibe nicht über sie, ich schreibe über Renata, und die ist eine andere Person“. Auf der letzten gemeinsamen Fahrt über die Lagune entwickelt Paolo die Idee zu einem ganz anderen Stoff, eine Erzählung von einem alten Mann und dem Meer. Ortheil erfindet also einen Fischerjungen, der Hemingway von seiner Schreibblockade befreit. Mehr als das, Paolo inspiriert ihn zu einer Erzählung, die zu seiner berühmtesten werden wird. Eine Fiktion, die den Schriftsteller wiederbelebt.
„Der von den Löwen träumte“ gewährt, wenn auch zum Teil ästhetisierte wie idealisierte, Blicke auf Venedig und biographische Begebenheiten Hemingways, zugleich bietet der Roman Einblicke in das literarische Schreiben der Schriftsteller Ernest Hemingway und Hanns-Josef Ortheil. Das ist sein großes Plus.
„Solange ich schreibe, brauche ich keine Abwechslung. Das Schreiben ersetzt alles, ich habe viele Jahre auf dieses Glück gewartet und werde es jetzt nicht leichtfertig verspielen.“
Hanns-Josef Ortheil, Der von den Löwen träumte, Luchterhand Literaturverlag 2019