Michael Ondaatje erzählt in „Kriegslicht“ eine spannend verschlungene Identitätssuche
„Ich wusste nicht genügend über Agnes Vergangenheit, aber wie gesagt, nie hatte ich als Kind einen Hund gehabt, und nun hielten wir die Tiere in den großen, halbdunklen Räumen dieses geborgten Hauses in Schach, und ihre langen Schnauzen stießen warm an unsere Herzen. (…)
Und als sie sich zum Schlafen zusammenrollten, legten wir uns neben sie auf den Boden, es war, als bedeuteten diese Tiere um uns her das Leben, wonach wir uns sehnten, die Gesellschaft, die wir uns wünschten, ein wilder, unnötiger, wesentlicher und unvergessener menschlicher Augenblick im London jener Jahre.“
Das London jener Jahre hatte gerade den Zweiten Weltkrieg überstanden, mit schweren Schäden, aber als Sieger. Doch die Stadt und ihre Bewohner bewegten sich noch im „Kriegslicht“. Zwischen zerbombten Häusern, dem Halbdunkel der Straßen und dem Nebel über dem Fluss war vieles schwer zu enträtseln.
Diese Verlassenheit, in der sich Geheimnisse gut verbergen lassen, bekommen auch der 14- jährige Nathaniel und seine Schwester Rachel zu spüren. Ihre Eltern hatten verkündet, das Land zu verlassen und die Geschwister während dieses Jahres in der Obhut eines Freundes zu lassen. Nathaniels und Rachels Vertrauen ist erschüttert und wird später durch einen überraschenden Fund fast ganz gebrochen.
Geborgenheit schenken ihnen nun Menschen, die bisher Fremde waren. Es sind der Falter, so nennen sie den Freund der Eltern, der sich nun um sie kümmert, und dessen zwielichtiger Bekannter, der Boxer, der ein ähnliches Schicksal mit ihnen teilt. Seine Familie hatte ihn „mit sechszehn an die Boxringe in Pimlico verkauft“. Durch seine Frauenbekanntschaften finden die Geschwister auch weibliche Bezugspersonen, zum Beispiel die junge, abenteuerlustige Olive. Allesamt waren sie ebenso verlassene Wesen, wie die „zweifelhafte Population nichtregistrierter ausländischer Hunde“, die der Boxer in die Hunderennen schmuggelte.
Verlassen wirkt auch Agnes, das Mädchen, dem Nathaniel bei einem seiner Jobs begegnet. Sie wird seine erste Liebe und scheint seine Heimatlosigkeit zu teilen während ihrer nächtlichen Treffen in verlassenen Häusern. Eines dieser Domizile liegt in der Agnes-Street, seitdem ist „Agnes“ ihr „Nom de Plume“. Eines Tages nimmt er sie mit auf eine Schmuggelfahrt des Boxers über die Themse. Die zuvor von ihm so sorgsam getrennten Welten der Kindheit und des Erwachsenwerdens verbinden sich.
Nathaniel, der Ich-Erzähler, notiert diese Erinnerungen erst Jahre später. Im ersten Teil verharrt er vollkommen in der Perspektive des damals Vierzehnjährigen, eines ahnungslosen Jungen, den jede neue Erfahrung vor ein neues Rätsel stellt. Ähnlich ergeht es dem Leser in diesem Abschnitt des Romans, der durch die in vielen Geschichten versteckten Geheimnisse große Spannung aufbaut. Im zweiten Romanteil nimmt Nathaniel uns mit ins Außenministerium, wo er mittlerweile arbeitet und sich Zugang zu Dokumenten verschafft, die ihm nach und nach die Vergangenheit enthüllen.
Ondaatjes Konstruktion aus geheimnisvollen Handlungssträngen, die die Spannung vorantreiben, und deren schrittweiser Enträtselung führt zu einem Buch, das auch Nathaniels Mutter geschätzt hätte. Sie bevorzugte Romane, „in denen die Handlung manchmal wild abschweifte, um dann doch in den letzten zwei, drei Kapiteln mühelos zu einem Ende zu finden.“
Dennoch lässt der Autor manches offen, was ganz und gar kein Nachteil ist. So bleibt der Vater von Nathaniel und Ester, der Ehemann Roses, bis zum Ende, das „Gespenst in ihrer Geschichte“.
Nicht zuletzt diese „ungeklärte“ Figur zeigt, daß die Frage der Identität für Ondaatje im Vordergrund steht . Wodurch wird sie geprägt? Wie erinnern wir uns an unsere Vergangenheit? Welche Rolle spielt unsere Herkunft? Fragen, die nicht nur die zerrissenen Figuren des Romans oder ihre Zeitgenossen umtreiben. „Zu was für einer Familie gehörten wir nun? Im Nachhinein gesehen, waren wir in unsere Anonymität gar nicht so verschieden von den Hunden mit ihren gefälschten Papieren.“
Der junge Nathaniel stellt seine zweifelnden Fragen nicht nur an die Vergangenheit, sondern auch an die Zukunft. „Hatte diese zukünftige Frau, die ich mir vorstellte, etwas zu tun mit dem, was sie für sich selbst wünschte?“
Gegen Ende stellt er mit Blick auf seine Mutter die Schicksalsfrage: „Werden wir mit der Zeit zu dem, was uns ursprünglich bestimmt war? (…) Womöglich hatte sie so ein Leben schon immer gewollt, hatte sie geahnt, dass sie irgendwann zu dieser Reise aufbrechen würde.“