Ayelet Gundar-Goshen konstruiert ihren neuen Roman „Die Lügnerin“ nach dem Aschenputtelprinzip
„Die Faustschläge beeindruckten weder die beiden Beamten ihm gegenüber noch den Holztisch. Der hatte in seinem Leben schon so viele Hiebe einstecken müssen, mal von den Verhörten, mal von den Verhörenden, dass er seit Langem jede Hoffnung auf Rettung verloren hatte. Seine Brüder vom Fließband standen in öffentlichen Büchereien, bei der Post, einer hatte es sogar ins Einwohnermeldeamt geschafft, aber dieses Exemplar hatte Pech gehabt und war im Polizeirevier an der Hauptstraße gelandet.“
Die 1982 geborene Israelin Ayelet Gundar-Goshen kennt als Psychologin das menschliche Verhalten und die Fallstricke, in die es sich gelegentlich verfängt. Ebenso beherrscht sie als Drehbuchautorin die Konstruktion eines spannenden Plots. Bewiesen hat sie dies in ihrem vorletzten Roman „Löwen wecken“, der was nahe liegt zur Zeit als TV-Serie produziert wird. Diese Karriere, wenn man es so bezeichnen möchte, könnte auch dem aktuellen Werk, „Die Lügnerin“ , bevorstehen. Das Ergebnis wird jedoch bestenfalls in der All-Age-Abteilung zu finden sein. Allerdings ist es nicht nur die jugendliche Hauptfigur, die den Roman der gleichaltrigen Zielgruppe zuordnet.
Die 17-jährige Nuphar, ein von äußeren wie inneren Problemen geplagter Teenager, jobbt in den Ferien an der Eistheke. Dort muss sie eines Tages nicht nur ihre ehemals beste Freundin und deren neue Clique der beliebtesten Kids der Schule bedienen. Sie trifft nach dieser Demütigung zudem auf einen selbstherrlichen Semi-Prominenten. Vor sieben Jahren war er der Sieger einer Casting-Show, doch jetzt erkennt ihn noch nicht mal die Eisverkäuferin. Sein angeknackstes Ego geht mit der vermeintlichen Beleidigung eine gefährliche Mischung ein und explodiert. Die nicht minder an Selbstzweifeln leidende Nuphar läuft weg. Es kommt zu Geschrei und Handgemenge, andere eilen herbei und flugs entsteht der Verdacht der versuchten Vergewaltigung. Nuphar widerspricht nicht, den Medien stopft der Skandal das Sommerloch, die Lüge nimmt ihren Lauf.
Auch ein Zeuge stoppt sie nicht. Lavie, im gleichen Alter wie Nuphar und wie sie ein Außenseiter konfrontiert die Lügnerin mit seiner Erkenntnis. So werden sie bereits auf Seite 52 zum Paar, was 30 Seiten zuvor wenig subtil angelegt wurde. „Im vierten Stock stand Lavie, der Löwe, und fixierte die Straße. Im Hinterhof stand Nuphar, die Seerose, und strich ihr Kleid glatt. Und keinem der beiden kam es in den Sinn, dass er nicht als Einziger unter einem zu anspruchsvollen Namen litt. Vielleicht wäre ihnen leichter ums Herz gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass irgendwo – auf der anderen Seiter des Erdballs oder vier Etagen weiter oben – ein Mensch von ähnlichen Seelenschmerzen gequält worden wäre.“ Doch dies ist es nur eine der vielen vorhersehbaren Entwicklungen in diesem Roman.
Durchsichtig sind auch die Motive der Figuren, die Gundar-Goshen dennoch erklärt. Nuphars Schrei während der Verfolgung erläutert die Psychologin mit folgenden Sätzen: „In ihrem Schrei lag die Kränkung, die der Mann ihr zugefügt hatte. In ihrem Schrei lag die Kränkung, die sie selbst sich zugeführt hatte. In ihrem Schrei lag die Enttäuschung dieses Sommers und all der Sommer davor.“ Neben derart didaktisch aufbereiteter Tiefgründigkeit wählt die Autorin gerne blumige Töne, die wie ein Gegenprogramm erscheinen. Da dringt „durch das Fenster (…) das Seufzen der in Duft getauchten Stadt“ und die Müllmänner picken „flink und leise wie Putzervögel auf dem Rücken eines Nilpferdes (…) zwischen den Speckfalten der Stadt herum, um sie sauber zu halten“. Wen wundert es dann noch, wenn ein Holztisch im Verhörraum mit seinem Schicksal hadert. Derart ausgestattet könnte das Jugendbuch seinen Lauf nehmen. Löwe und Seerose werden ein Paar, die Lüge als Missverständnis enttarnt, und der rehabilitierte Sänger erhält eine zweite Chance und kommt auf Nuphars 18. Geburtstag ganz groß raus.
Doch die Autorin hat mit ihrem Lügenroman mehr vor. Schließlich sollen in ihm viele Varianten der Lüge ans Licht, wenn nicht sogar alle. Dazu braucht es jedoch mehr Personal, das wie in der x‑ten Staffel einer Serie deren drohendes Dümpeln herauszögern soll. Im Folgenden treten auf, ein falscher Taubstummer, eine schöne Schwester, ein verstorbener Helden-Opa, ein täuschender Tätowierer. Alles Lügner, auch wenn diesen „nicht jede Lüge verwerflich“ erscheint.
Nach 200 Seiten errichtet Gundar-Goshen in Teil zwei ihres Roman sogar ein weiteres Lügengebilde. Darin verwandelt sich eine unscheinbare Alte nach dem gleichen Aschenputtelprinzip wie zuvor mittels Aufmerksamkeit und guter Kleidung in eine interessante Frau. Sie heißt Raymonde und stammt aus Marokko. Im Seniorenheim gewinnt sie eine Schoa-Überlebende zur Freundin. Als diese stirbt, schlüpft Raymonde in deren Rolle. Als Rivka reist sie nach Polen und erzählt Schulklassen vom Lagerleben. Auf einer dieser Reisen begegnen sich Nuphar und Raymonde. Die beiden Lügnerinnen binden die Romanteile zusammen, lösen aber nicht den Konflikt. Dies gelingt erst etliche Wirren weiter, nach einer Verfolgungsjagd am sentimentalen Ende.
„Die Lügnerin“ kann leider nicht an die Raffinesse von Gundar-Goshens Vorgänger anknüpfen. Dies liegt nicht nur am Umgang mit dem Thema, auch sprachlich konnte mich der mit vielen Redundanzen, merkwürdigen Bildern und sinnfreien Sentenzen versehene Roman nicht für sich gewinnen.
„Dein Körper kann jemanden in sich aufnehmen, wenn du es möchtest, und obwohl das natürlich nichts ändert, ändert es möglicherweise doch alles.“