Von Folter an Mensch und Natur, der Metamorphose einer Störschneiderin, einem weißen Schwarzen, einem Unglück und zu viel Dissonanz
Der Vormittag des 1. Wettbewerbstages hinterlässt einen harmonischen Eindruck, ungewohnt für mich, die ich nach zwei Jahren Pause endlich wieder Zeit habe, die Lesungen und Diskussionen zu verfolgen. Ja, ja, früher war mehr Disput, Geplänkel und Gemecker unter den Kritikern und zu den Texten. Aber auch mehr Humor. Heute gibt es neue Köpfe, neue Konstellationen, und eindeutig eine andere Art mit mangelndem Konsens und Konflikten umzugehen. Was nicht in allem schlecht ist. Vielleicht lag es auch einfach an den drei ersten Texten des Wettbewerbs. Keiner ließ mich abschweifen. Die beiden ersten gefielen mir sogar ausgesprochen gut.
Den Anfang machte Raphaela Edelbauer. Als einzige Österreicherin ist ihr die Startposition zu Recht zugefallen. Zu fürchten braucht sie sie nicht, denn ihr Text ist interessant und gut erzählt.
„Das Loch“ handelt von den Zerstörungen, die ein Bergwerk anrichtet und angerichtet hat. Dass Edelbauer keine schöne Geschichte erzählen will, wird klar, als sie die Anfänge des Bergwerks im Jahr 1890 schildert. Pferde mussten geblendet werden, um unter Tage zu arbeiten. Die Grausamkeiten mehrten sich unter den Nazis, nur richteten sie sich jetzt gegen Menschen. Es waren Internierte aus Mauthausen, die in den Stollen Flugzeuge montierten. Was ihnen danach angetan wurde, das barbarische Massaker, schildert der Ich-Erzähler.
Dieser Bergwerks-Techniker kommt als Notretter. Er soll das Loch auffüllen, damit „die Kirche im Dorf bleiben kann“ und die Bewohner unbehelligt von dem, was um sie herum geschah, weiterleben können. Durch das Beharren der Bewohner auf ihre Verblendung verbinden sich die vergangenen mit den aktuellen Ereignissen. Der drohende Zerfall ihrer Wohnhäuser soll durch das Stabilisieren der Stollen abgewendet werden. Die Substruktionen werden zugeschüttet wie die Erinnerung an die Ermordung der Zwangsarbeiter. Dass dadurch die Natur und damit ihre Heimat zerstört werden, nehmen sie in Kauf. Der Ich-Erzähler ist Erfüllungsgehilfe dieser ökologischen Folter und beschreibt die Konsequenzen seiner Einspritzungen mit brutaler Kälte. Er legt sich einen Schutz-Zynismus zu, nur die Begegnungen mit einer jungen Frau scheinen diesen aufzubrechen.
Mir gefällt dieser Text, besonders die Parallelsetzungen. Den dazugehörigen Roman würde ich sofort und gerne weiterlesen.
Auch bei der Jury kam er gut an. Insa Wilke gefiel die Figur des Ich-Erzählers und die Parallelen. Das Loch interpretierte sie als Metapher für das defizitäre kollektive Schuldbewusstsein. Sie kritisierte allerdings den zu schnellen Übergang von der historischen Episode des Massakers zur Angst der Bewohner und zum Begehren des Protagonisten. Hubert Winkels monierte die Perspektive des Ich-Erzählers. Als Berichterstatter könne er nicht gleichzeitig das Geschehen bewerten. Auch die angedeutete Erotik passe nicht zu dieser Figur, der ein Innenleben fehle. Nora Gomringer findet die Unheilsgeschichte gekonnt erzählt als Teil einer großen Verdrängungskultur. Stefan Gmünder lobte den distanzierten Protokollstil.
Gegen die positiven Stimmen wandte sich Hildegard Keller. Sie fragte, an wen sich der Ich-Erzähler richte. Die Sprache sei zu poetisch für einen Ingenieur. Michael Wiederstein störten die vielen unstimmigen Beschreibungen, die Geschichte mit der Frau wirke zudem aufgesetzt. Schließlich erläuterte Klaus Kastberger, dessen Kandidatin Edelbauer ist, deren Text. Er lobte die starken Bilder, besonders die geblendeten Pferde seien ein starker Einstieg, der in Erinnerung bleiben werde. Das kritisierte Stilgemisch sei eine wesentliche Qualität des Textes, der ganz in der Tradition österreichischer Literatur stehe. Die Autorin mache aus dem Loch ein menschliches Gebilde. Sie führe komplexe Sachverhalte, wie Geschichte, Natur, den menschlichen Körper zusammen in einer hochpräzisen Sprache.
Ob man den Ich-Erzähler wie Gomriger als vom Loch erotisiert betrachten möchte, sei dahingestellt. Gomringers Satz „Alle Männer sind Auffüllungstechniker“ ist jedoch unbedingt zitierenswert und ebenso amüsant, wie die von ihr medienwirksam zur Schau getragenen Mama und Mutti Shirts.
Leider wird der Text nicht den ersten Preis erlangen. Dagegen sprechen die permanenten Einwände Wilkes, denen ihr Sitznachbar Kastberger mit Blicken in träumerisches Ennui auswich. Schließlich gab er zu, längst aus der Diskussion ausgestiegen zu sein, denn „Es sei egal, von welcher Seite man die Wahrheit anbohrt.“ Die Diskussionsfreudigkeit, so Gmüdner, spräche für den Text. Das findet meine Zustimmung. Allerdings wäre es auch traurig, wenn bereits bei der Auftaktlesung die Redelust erschlafft gewesen wäre.
Martina Clavadetscher, Kellers Kandidatin, schloss mit ihrem Videoporträt, das in einer Naturszene verbrennungstechnische Details erläuterte, scheinbar passgenau an den Text ihrer Vorgängerin an.
Ihr Text „Schnittmuster“ handelt von einer intimen Szene. Sie schildert den Tod der 92-jährigen Luisa. Zuletzt lebte sie in einem Pflegeheim, früher arbeitete sie als Schneiderin, als Aushilfe, war verheiratet, hatte Kinder und Enkelkinder. Diese treten an ihr Sterbebett, neben Anderen, Freunden, Bewohnern und Angestellten des Heims. Die Tote beobachtet dies alles und macht sich ihre Gedanken. Sie, die ihrer Enkelin nichts erzählen wollte, als diese mit einem Rekorder an ihrem Bett saß, fängt nun an zu reden. Die Störschneiderin plaudert aus dem Nähkästchen. Sie erzählt von dem Los der Frau, schiebt es auf die schöne Haut, die die Männer zu Übergriffen verlockt. Clavadetscher zeigt die aktuelle MeToo-Debatte als immerwährendes Schicksal und Gegenstand der Totenklage, die allerdings wehrhaft ausfällt. Ihre Protagonistin macht sich ihr Talent zu Nutze, sie hat „ein zweites Kostüm in Petto“, wenn „das Alte-Menschen-Mäntelchen“ zerstört ist.
Auch dieser Text von der Metamorphose einer wehrlosen Frau zu einem Fressfeinde abschreckenden Falter imponiert mir sehr.
Michael Wiederstein sprang gleich auf das Frauenthema an und zog Parallelen zu Zaimoglus Eröffnungsrede. Allerdings fand er die beiden Erzählebenen nicht immer gut ineinander verschränkt, die Metaphorik überfrachtet und riet zur Kürzung der Szene im Krematorium.
Nora Gomringer empfahl die Schlussszene an den Beginn der Geschichte zu stellen, war aber von der Perspektive der sprechenden Seele eingenommen. Klaus Kastberger kürte den ersten Satz zum besten des Bewerbs: „Das letzte Schnappen macht den Unterschied.“ Gut gefielen ihm der exzessive Umgang mit Details, kontrastiert vom einlullenden Ton des Schweizer Mütterchens. Es irritierte ihn lediglich, daß die Tote noch spricht, während die Leiche brennt. Interessant war in der Diskussion Wilkes Einwand, der Text handele nicht von der Front zwischen Männern und Frauen, sondern von dem unter Frauen vereinbarten Verhalten gegenüber männlichen Übergriffen. Gmünder war auch dieser zweite Text zu überladen, von Themen wie von sprachlichen Versatzstücken. Winkels erstaunte der Quietismus, den diese Tote trotz der Härte ihres Lebens zeigt. Keller bezeichnete den Text als eine „Erzählung auf der Schwelle“.
Die Kritiker reagierten auf Clavadetschers Text positiv mit vereinzelten Kritikpunkten. Die Diskussion verlief sehr verhalten, was an der guten Qualität des Textes liegen mag. Positiv fiel wie bereits bei der ersten Lesung auf, daß Insa Wilke die Rolle der Bachmannjurorin neu interpretiert, indem sie die Autoren direkt anspricht. Das finde ich sympathisch.
Den Abschluss des Vormittags bildete die Lesung von Stephan Lohse. Der Kandidat Hubert Winkels stellt sich im Video vor, indem er zwei andere Personen interviewt. Das finde ich merkwürdig. Die beiden Interviewpartner sollen wohl atmosphärisch auf die postkoloniale Thematik einstimmen.
Sein Text „Lumumbaland“ erzählt von einem in prekären Verhältnissen Heranwachsenden. Eigentlich heißt er Philipp, doch seine Verehrung der historischen Figur bewirkt die Namensänderung. Lumumba sitzt mit seinem Freund in der Sahara, dem brachliegenden Ödland einer nicht minder öden Siedlung. Sie rauchen einen Joint und Lumumba erzählt von seinen Sorgen wegen Ramona und vom großen Lumumba. Dessen Traum „die Weißen werden Schwarze sein und die Schwarzen Weiße“, die Hoffnung auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, teilt auch er.
Die Erzählung ist eine Mischung aus Coming-of-Age-Story und Postkolonialismus, die ihre gemeinsame Basis im Freiheitsdrang haben. Die temporeiche und sehr dialoglastige Geschichte löst in mir dennoch kein großes Interesse aus.
Insa Wilke hingegen war hochbegeistert von dem in ihren Augen sehr gut erzählten Text. Lohse schaffe es über Orte Personen zu beschreiben und sie alleine durch Dialoge zu charakterisieren. Die Jugendlichkeit der Protagonisten erlaube ihnen komplizierte Dinge in einfachen Worten auf den Punkt zu bringen. Die Montage der historischen Passagen sei Lohse besser gelungen als seinen Vorgängerinnen. Gmünder schließt sich an, er habe gerne mit Lumumba auf dem Hügel gesessen. Er freute sich über den Humor und vernimmt die Trommeln des Aufruhrs in den beiden Jungs. Zurückhaltender äußerte sich Gomringer, der Anfang gefalle ihr, aber sonst gebe der Text zu wenig her. Auch Keller suchte das Potential des Textes. Winkels gefiel das Lässige und die Genauigkeit der Sprache, deren bisweilen lautmalerische, sinnliche Qualität . Kritischer äußerte sich Kastberger, den der flott erzählte Text an Tschick erinnerte. Die eingesprengten historischen Passagen empfand er langweilig bis störend, belehrend wie Wikipedia-Einträge. Auch Wiederstein war nicht überzeugt, ihn störten vor allem die stereotypen Figuren.
Lohse hat mit seinem Text drei Kritiker gewinnen können, die begeisterungsfähige Insa Wilke, seinen Mentor Winkels und Stephan Gmünder. Von Kastberger und Wiederstein kamen Widersprüche, Gomringer und Keller fehlte das Verständnis.
Am Nachmittag lasen mit Anna Stern und Joshua Groß zwei junge Autoren. Anna Stern startete mit einem für mich durch den Titel interessanten Videoporträt. „Dialog zwischen dem ersten und dem zweiten Ich“, doch im folgenden erkannte ich dazu leider keinen Bezug.
„Warten auf Ava“ erzählt von einer jungen Frau, die nach einem Bergunfall im Koma liegt. Am Klinikbett erhält sie Besuch von Menschen, die in unterschiedlichen Beziehungen zu ihr stehen. Von ihrem Freund, mit dem sie sich kurz vor ihrem Aufbruch gestritten hat, und von dem wir erfahren, daß Ava schwanger ist. Von Kollegen, mit denen sie den Forschungsaufenthalt in den Bergen verbrachte. Doch es taucht auch ein Mann auf, der eigentlich schon längst tot ist. Ihm wurde der Berg, der Ava in Gefahr brachte, zum Verhängnis. Er stürzte dort 1951 mit einem Flugzeug ab und war der einzige Überlebende. Der Text vereint also ebenfalls eine vergangene und eine gegenwärtige Geschichte. Stern streut zudem literarische Bezüge und Zitate ein. Viel konnte ich mit Ava und denen, die auf sie warten, nicht anfangen, manches Detail, z.B. einen Embryo als Fischlein zu bezeichnen oder besonders der abschließende Spruch „Found you, lost me“ ist für mich nahe am Kitsch.
Unverständlich schien der Text auch Winkels, trotz der literarischen Referenzen, die er gerne erklärte. Wilke bekannte, erst durch die Lesung der Autorin den Text verstanden zu haben, nun aber begeistert zu sein. Er zeige verschiedene Weisen mit Trauer umzugehen. Kastberger war vollkommen gelangweilt und desinteressiert an der Geschichte. Gomringer störte das Verrätselte des Textes. Gmüdners Statement „Der Text und ich sind Fremde geblieben“, wandelte Keller als Sterns Mentorin in „Der Text und ich sind Freunde geworden“. Doch ihre weiteren Erklärungen zum Spiel mit der Zeit halfen nicht. Auch der Versuch ihn mit einem Angriff auf die bereits gehörten Texte zu verteidigen scheiterte. Alleine in Insa Wilke fand sie eine weitere wohlgesonnene Stimme.
Wilke präsentierte mit Joshua Groß ihren ersten Bachmann-Kandidaten. Sein Video startete mit dem schönen Satz „Köpfe in Treibhäusern ziehen“. Wie die geblendeten Pferde Edelbauers ist das bei mir ein Bild, das bleibt. Die restlichen Videosequenzen störten mich zum Glück nicht dabei, es mir weiter auszumalen. Auch der Text selbst begann mit einer bildhaften Wortschöpfung, Thermomix-Synapsen-Smoothies, so fühlt der junge Protagonist, der sich in der Hitze Miamis, Selbstreflektionen hingibt. Nebenbei läuft ein Basketball-Match, er lernt Claire kennen, später im Club deren Freundin Charlotte. Diese dröhnt sich zu, wird von ihm erst an die frische Luft und dann in den Krankenwagen verfrachtet.
Puh, wir selbst sind zu viel Dissonanz, wird Borchert ganz zu Recht zitiert. Ich fühlte mich für diesen Text nicht geeignet.
Keller mochte den Sound und die Weltsicht. Winkels gefiel das Existentialistische. Er meinte, in seiner Jugend Ähnliches erlebt zu haben. Gomringer stellte die Keller-Frage, „Mit wem haben wir es hier zu tun?“ Wilke erklärte, der Text handele von sozialer Mutation und von Erfahrungslosigkeit als zentraler Konflikt der Zeit. Gmünder stand dem Text positiv gegenüber, warnte aber vor Überbewertung. Wiederstein erinnerte er an die Popliteratur der Neunziger und er fand einige Formulierungen auf Schlagerniveau.
Kastberger schien der Autor besser zu gefallen als der Text. Er lobte Unbekümmertheit, Impetus und Kraft des „Kleinen Bruders von Clemens Setz“. Der Text wirke auf ihn wie Science Fiction, ein Stichwort das Wilke gerne aufnahm, um das unglaubliche Wissen des Autors zu betonen. Ich kann da nicht mitgehen und stimme eher der zurückhaltenden Gomringer zu, die sich angesichts des sprachlich nicht innovativen Textes als schwerfällige Leserin empfand.
Für mich war es ein guter erster Tag mit interessanten Texten am Vormittag. Die Jurydiskussion könnte etwas mehr Esprit und Schlagabtausch vertragen, um aus der Aneinanderreihung von Statements heraus zu kommen. Aber das wird sicher noch. Morgen.