Out-of-Body-Experience

John Williams psychologisch intensives  Debüt „Nichts als die Nacht“

Und er dach­te an die Din­ge, an die er nicht den­ken soll­te, er­in­ner­te sich an Sa­chen, an die er sich nicht er­in­nern soll­te. Manch­mal, wenn er sich so al­lein dort sit­zen und sich er­in­nern sah, kam er sich wie ein Arzt vor, der be­ob­ach­te­te, wie ei­ne Krank­heit auf­zog, aber nichts da­ge­gen un­ter­nahm. Man hat­te ihm ge­sagt, dass es Din­ge ge­be, die er ver­ges­sen soll­te, die er ver­ges­sen musste.“

Ei­ne Au­ßer­kör­per­li­che Er­fah­rung, das Ge­fühl sei­nen Kör­per zu ver­las­sen, über ihm zu schwe­ben und sich selbst als Ob­jekt ei­ner Sze­ne­rie von au­ßen zu be­trach­ten, spielt ei­ne gro­ße Rol­le in John Wil­liams De­büt „Nichts als die Nacht“. Jen­seits der Li­te­ra­tur schil­dern Men­schen in kör­per­li­chen wie psy­chi­schen Not­si­tua­ti­on, Un­fall- und Ge­walt­op­fer, der­ar­ti­ges. Neu­ro­wis­sen­schaft­ler füh­ren dies auf die Be­ein­träch­ti­gung ver­schie­de­ner Be­rei­che des Hirns zu­rück und zäh­len es als Sym­ptom ei­ner Post­trau­ma­ti­schen Be­las­tungs­stö­rung. Es ist da­von aus­zu­ge­hen, daß  John Wil­liams dies eben­falls aus Be­ob­ach­tung oder ei­ge­nem Er­le­ben kennt, denn die vor­lie­gen­de No­vel­le schrieb er als 22jähriger Kriegs­teil­neh­mer nach dem Ab­sturz sei­nes Flug­zeugs in ei­nem La­ger in Burma.

Gleich zu Be­ginn sei­nes Buchs schickt er sei­nen jun­gen Prot­ago­nis­ten Ar­thur in ei­ne Out-of-Bo­dy-Ex­pe­ri­ence. Es ist die ers­te, wei­te­re wer­den fol­gen. Ar­thur be­fin­det sich auf ei­ner Par­ty, sieht wohl­be­leib­te Smo­king­trä­ger und ih­re knapp be­klei­de­ten Frau­en, er­kennt die De­tails der Woh­nung des Gast­ge­bers und ent­deckt schließ­lich sich selbst in ei­nem Ses­sel sit­zend. Er fühlt sich fremd und die­ser Ge­sell­schaft ganz und gar nicht zu­ge­hö­rig. Sym­pto­me, die ich zu­nächst auf das ju­gend­li­che Al­ter Ar­thurs schob. Doch schon die nächs­ten Sze­nen zei­gen, daß ein Kind­heits­er­leb­nis in Ar­thur ei­ne De­per­so­na­li­sa­ti­on her­vor­ge­ru­fen hat. Er lei­det un­ter dem Ver­lust des Iden­ti­täts­ge­fühls, fühlt sich bei sich selbst und bei an­de­ren fremd.

Er will das Ge­sche­he­ne ver­ges­sen. Um dies zu be­wäl­ti­gen, struk­tu­riert er sei­nen Tag. Doch im­mer wie­der brin­gen Dé­jà-Vus ihn au­ßer Fas­sung. Es ge­lingt ihm nicht, sei­ne „wi­der­wär­ti­ge Ein­sam­keit“ zu durch­bre­chen. In ei­nem Ca­fé be­zieht er über­emp­find­lich al­les auf sich. Selbst die Nicht­re­ak­ti­on ei­nes Kell­ners wer­tet er feind­lich. Er kehrt in sei­ne Woh­nung zu­rück und ge­rät in ein ero­ti­sches Ge­ran­gel mit der Putz­frau. Auch de­ren Ver­hal­ten deu­tet er ge­gen sich. Spä­tes­tens hier wird klar, daß der 24-jäh­ri­ge ein Pro­blem mit Frau­en hat, was über das in die­sem Al­ter üb­li­che hinausreicht.

Auch das Ver­hält­nis zu sei­nem Va­ter scheint schwie­rig. Des­sen Brie­fe lässt er lie­gen, ein frü­he­rer An­ruf ließ ihn zu­sam­men­bre­chen. Wel­ches Dra­ma hat sich in Ar­thurs Kind­heit er­eig­net? Wir er­fah­ren vom Tod sei­ner Mut­ter, die von Ar­thur wie die Gu­te-Nacht-Kuss-Sze­ne be­weist in Proust’scher Wei­se ver­göt­tert wur­de. Ei­ne Mut­ter, auf die sich wie die Sze­ne eben­so zeigt der Jun­ge nie voll­kom­men ver­las­sen konnte.

Ge­spannt war­tet der Le­ser auf ei­ne Ant­wort, wäh­rend Wil­liams ihn wei­ter an der Sei­te sei­nes Hel­den durch die Nacht schickt. In ei­ner Bar trifft der sich mit ei­nem Freund, den er ei­gent­lich nicht mag. Im Re­gen­cy trifft er den Va­ter, der die Nä­he zu sei­nem Sohn sucht. Fast ge­lingt dies. Doch das plötz­li­che Er­schei­nen ei­ner Frau, die auf fa­ta­le Wei­se der Mut­ter äh­nelt, blo­ckiert die An­nä­he­rung. Ar­thur treibt es in die Nacht, in die „mons­trö­se Un­per­sön­lich­keit ei­ner Men­schen­men­ge“. Ed­ward-Hop­per-Mo­men­te der An­ony­mi­tät und Ver­lo­ren­heit be­herr­schen sein In­ne­res. Da trifft er in der Bar ei­ne Schön­heit, trinkt mit ihr, fühlt sich ver­traut und be­glei­tet sie nach Hause.

Zu­vor of­fen­bart ein Flash­back Ar­thurs Kind­heits-Ka­ta­stro­phe. Das ent­rück­te Ge­sicht ei­ner Nacht­club-Tän­ze­rin er­in­nert ihn an die Mut­ter und ka­ta­pul­tiert ihn in das zu­rück­lie­gen­de Ge­sche­hen. Die De­tails und auch die Fol­gen möch­te ich nicht vor­weg­neh­men. Ar­thurs wei­te­res Schick­sal lässt Wil­liams of­fen. In mei­nen Au­gen be­freit die Ka­thar­sis sein Ich, doch das ist rei­ne Interpretation.

John Wil­liams 1948 erst­mals auf­ge­leg­tes De­büt, von dem er sich laut Nach­wort lan­ge di­stan­zier­te, ist ein psy­cho­lo­gisch in­ter­es­san­tes Werk, das in­ten­si­ve In­nen­sich­ten zeigt. Vie­le Vor­aus­deu­tun­gen be­feu­ern die span­nungs­ge­la­de­ne At­mo­sphä­re, in der so­gar der Re­gen „Strie­men“ und „Hie­be“ aus­teilt. Auf­fal­lend sind Wil­liams’ Me­ta­phern. Wenn er das Er­wa­chen ei­ner trau­ma­ti­schen Er­in­ne­rung als „ein Knur­ren des dunk­len Un­ge­heu­ers“ be­schreibt, ist dies nach­voll­zieh­bar. Wenn er vom „blin­den Bauch des Nichts“ spricht, bleibt das Bild rät­sel­haft. So­gar in die­ser dra­ma­ti­schen Ge­schich­te taucht ein we­nig Hu­mor auf, wenn Ar­thur den Blen­der Staf­ford ent­larvt, der hin­ter ei­nem „sanf­ten, rät­sel­haf­ten Lä­cheln, so als ver­fü­ge er über un­end­li­che Weis­heit“ nur „tie­fe Lee­re“ ver­birgt. Und ein biss­chen Proust zeigt nicht nur die Zu-Bett-Geh-Sze­ne, son­dern auch die häu­fi­ge Er­wäh­nung der „ver­lo­re­nen Zeit“. „Ver­stand und Er­in­ne­rung er­laub­ten es ihm, in der Zeit zu­rück­zu­wan­dern: Wo die Zeit ver­lo­ren schien, dort konn­te er blei­ben“ oder „Ver­lo­re­ne Zeit, dach­te er, das ist die bes­te Zeit des Le­bens. Die Zeit des Som­mers, in der schil­lern­des Licht die Blät­ter der Bäu­me verwebt.“

Zu den Li­te­ra­ri­schen Vor­bil­dern fin­den sich im Nach­wort von Si­mon Strauß kei­ne An­ga­ben, da­für er­zählt es aus­führ­lich die Ent­ste­hungs­ge­schich­te. Wil­liams mag trau­ma­ti­siert ge­we­sen sein. Das vor­lie­gen­de Werk je­doch auf die­se Kriegs­er­fah­run­gen zu­rück zu füh­ren, scheint mir frag­lich. Es han­delt sich um ei­nen gut kon­stru­ier­ten mit li­te­ra­ri­schen Mit­teln ge­stal­te­ten, fik­ti­ven Text, der in ex­pres­si­ver, aber nie sur­rea­ler Wei­se, das psy­chi­sche Er­le­ben sei­nes Prot­ago­nis­ten in den Mit­tel­punkt stellt.

John Williams, Nichts als die Nacht, übers. v. Bernhard Robben, dtv, 2017

2 Gedanken zu „Out-of-Body-Experience“

  1. Vie­len Dank für die­se wun­der­ba­re und vor al­lem lehr­rei­che Re­zen­si­on! Wie konn­ten mir die An­spie­lun­gen auf Proust ent­ge­hen?! Ich ha­be die No­vel­le „Nichts als die Nacht” auch ge­le­sen und fand sie be­ein­dru­ckend. Jetzt wer­de ich noch mal dar­in blät­tern und die Proust-Stel­len suchen.
    Lie­be Grüße
    Katharina

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