Beziehungen, Bedrohungen, Selbsterkundungen
Ernst-Wilhelm Händler konstatiert im Kurzporträt „Der Mensch ist ein in Geld eingewickeltes Stück Fleisch“. Ein schöne, wenn auch grausame Metapher, die jene Kälte vorwegnimmt, die in „München“ herrscht.
Im surrealen Ambiente eines neomodernen Architektenhauses folgen wir Thaddea, Ärztin für Psychosomatik, die im schicken Studio den ersten Klienten empfängt und daran scheitert. Er verkörpert mit seinem versehrten Gesicht genau die Leiden, deren Behandlung sie mit ihrer Spezialisierung meidet. Vielleicht will sie nicht an ihren eigenen Makel, das Humpeln, erinnert werden? Was offensichtlich wird, da ihre Freundin Kata, die Architektin ihres Stadthauses in Schwabing und des Greenhouse in Grünwald, viele Treppen einbauen ließ. Sprachlich überzeugt mich der Ausschnitt, aber ich habe keine Ahnung, wohin der Roman will.
In München, genauer am Flughafen und damit noch nicht richtig in ihrer alten Heimat, befindet sich die Protagonistin von Katja Lange-Müllers Roman „Drehtür“ .
Bekannt ist Lange-Müller für ihren knappen Stil, „Weitschweifigkeit mag sie gar nicht“. Leider zeigt der Beginn der Geschichte das Gegenteil. Da wird mit Worten jongliert, sie werden zerpflückt, geradezu ethymologisch analysiert, was mich ein wenig nervt. Ich will etwas über die Figur erfahren, die trägt den Namen eines Hundes –das Tier der diesjährigen Longlist? Die Hündin wurde angeblich nach Asta Nielsen benannt. Hießen nicht alle Schäferhunde in den Fünfzigern und Sechzigern Asta oder Hasso?
Die alte Asta Arnold, die dort an der Drehtür des Flughafens raucht, fürchtet sich vor der Rückkehr ins Deutsche nach über 40 Jahren. Sie denkt, dirigiert von einer Stimme, die „entscheidet, woran Asta sich erinnert, mal quälend genau, mal verklärend sehnsüchtig“.
Auch Thomas Melle erinnert sich. In „Die Welt im Rücken“ schildert er einen Aufenthalt in der Psychiatrie, manisch-depressiven Phasen, seine Wahrnehmungen während der Krankheit. Beeindruckend beschreibt er „die Tage aus Milchglas, die Wochen aus Irrgärten“. Mit Vergleichen, poetisch und neu, erzählt er „wie die Unorte, aus denen man wie ein Zombie in sie hineingetaumelt kam, wieder erträglicher werden“. Das interessiert mich.
Weniger spricht mich der Auszug von „Fremde Seele, dunkler Wald“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker an. Der Titel klingt gut, doch bevor es in den Wald geht, sitzen Männer in einer Kneipe. Einer von ihnen schwingt möchtegern-martialische Reden ‑nun gut, das klingt ein wenig übertrieben‑, aber die Pläne dieses Grenzschützers, der die Linien gerne verteidigen möchten, klingen nicht gut. Auch wenn der Autor im Heftchen mit Stifter und Handke verglichen wird und wie Wittgenstein aussehen mag, reizt mich das nicht.
Dann doch lieber lesen, was Bodo Kirchhoffs Paar widerfährt. Die beiden sind im „Begriff ins Blaue zu fahren, auch wenn noch tiefes Dunkel herrscht“. Das lässt sich gut an und immerhin geht es nach Italien. Melancholisch schieben sich Erinnerungen an vergangene Lieben dazwischen. Die Landschaft begleitet die Fahrt wie ein Omen, „es war ein länglicher See, nur in der Mitte gekrümmt, etwas unglücklich Eingezwängtes ging von ihm aus“. 224 Seiten „Widerfahrnis“, da reise ich gerne mit.
In einer mir gut bekannten Gegend wohnen Dagmar Leupolds „Witwen“. Auch wenn die Lage des Ortes mit „zwei Moselarmen, die sich um den Ort herum zur Schleife runden“ merkwürdig definiert ist. Vier Freundinnen, die nach und nach der Metropole den Rücken gekehrt haben, leben dort seit geraumer Zeit. Die Namen Beatrice und Laura mahnen an Dante und Boccaccio, Dodo an den seltsamen Vogel, den Douglas Adams so schön beschrieb, und Penny-Penelope unter anderem an die Hauptrolle einer amerikanischen Sitcom.
Eine abwechslungsreiche Mischung scheint garantiert, von der ich mehr erfahren möchte. Nur den Riesling als sauren Schreck zu bezeichnen nehme ich der Autorin übel. Aber, nun ja, die Damen kommen aus Berlin, da trinkt man ja auch Riesling mit Mate und Limo.
Mehr Dante gibt es bei Sibylle Lewitscharoff. Sie beginnt mit der Präsentation ihrer Hauptfigur. Der Universitätsprofessor mit staatlichem silbernen Schopf hat „es als Dante-Gelehrter zu einigem Ansehen gebracht hat“. Mir kommt da sofort Kurt Flasch in den Sinn. Lewitscharoffs Gelehrter organisierte einen Kongress zur Divina Commedia. Auf dem römischen Aventin ereignete sich dann das Unfassbare. „Das Unterste hat sich zuoberst gekehrt“ als sich 33 Teilnehmer in die Lüfte verflüchtigten. Nur der Silberschopf blieb übrig, um das „Pfingstwunder“ zu verkünden. Bis auf das Skelett abgemagert scheint er nicht mehr ganz wohlauf. Wandert er etwa schon längst in Höllenkreisen? Dies und noch vielmehr über die Divina Commedia wird der interessierte Leser erfahren, bereits die ersten Seiten des Romans führen in Dantes Werk ein.
Rom finde ich gut, Dante auch, Wunder weniger. Die Sprache bezeichnet die Autorin als „in andere Sphären zielende Wortwahl“. Kann mich das 350 Seiten lang begeistern? Oder lese ich doch lieber das Original, übersetzt von Kurt Flasch? Ach, ganz vergessen, ein Hund tritt auch in diesem Roman auf.
Folgende Romane der Longlist würde ich gerne lesen:
Bodo Kirchhoff, Widerfahrnis
Dagmar Leupold, Die Witwen
Thomas Melle, Die Welt im Rücken
Joachim Meyerhoff, Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Arnold Stadler, Rauschzeit
Nicht beurteilt habe ich den Auszug aus Peter Stamms „Weit über das Land“, da er mich schon vollständig überzeugt hat.