Longlist-Kostproben 2016

Beziehungen, Bedrohungen, Selbsterkundungen

haendlerErnst-Wil­helm Händ­ler kon­sta­tiert im Kurz­por­trät „Der Mensch ist ein in Geld ein­ge­wi­ckel­tes Stück Fleisch“. Ein schö­ne, wenn auch grau­sa­me Me­ta­pher, die je­ne Käl­te vor­weg­nimmt, die in „Mün­chen“ herrscht.

Im sur­rea­len Am­bi­en­te ei­nes neo­mo­der­nen Ar­chi­tek­ten­hau­ses fol­gen wir Thad­dea, Ärz­tin für Psy­cho­so­ma­tik, die im schi­cken Stu­dio den ers­ten Kli­en­ten emp­fängt und dar­an schei­tert. Er ver­kör­pert mit sei­nem ver­sehr­ten Ge­sicht ge­nau die Lei­den, de­ren Be­hand­lung sie mit ih­rer Spe­zia­li­sie­rung mei­det. Viel­leicht will sie nicht an ih­ren ei­ge­nen Ma­kel, das Hum­peln, er­in­nert wer­den? Was of­fen­sicht­lich wird, da ih­re Freun­din Ka­ta, die Ar­chi­tek­tin ih­res Stadt­hau­ses in Schwa­bing und des Green­house in Grün­wald, vie­le Trep­pen ein­bau­en ließ. Sprach­lich über­zeugt mich der Aus­schnitt, aber ich ha­be kei­ne Ah­nung, wo­hin der Ro­man will.

 

lange-muellerIn Mün­chen, ge­nau­er am Flug­ha­fen und da­mit noch nicht rich­tig in ih­rer al­ten Hei­mat, be­fin­det sich die Prot­ago­nis­tin von Kat­ja Lan­ge-Mül­lers Ro­man „Dreh­tür“ .

Be­kannt ist Lan­ge-Mül­ler für ih­ren knap­pen Stil, „Weit­schwei­fig­keit mag sie gar nicht“. Lei­der zeigt der Be­ginn der Ge­schich­te das Ge­gen­teil. Da wird mit Wor­ten jon­gliert, sie wer­den zer­pflückt, ge­ra­de­zu ethy­mo­lo­gisch ana­ly­siert, was mich ein we­nig nervt. Ich will et­was über die Fi­gur er­fah­ren, die trägt den Na­men ei­nes Hun­des –das Tier der dies­jäh­ri­gen Long­list? Die Hün­din wur­de an­geb­lich nach Asta Niel­sen be­nannt. Hie­ßen nicht al­le Schä­fer­hun­de in den Fünf­zi­gern und Sech­zi­gern Asta oder Hasso?

Die al­te Asta Ar­nold, die dort an der Dreh­tür des Flug­ha­fens raucht, fürch­tet sich vor der Rück­kehr ins Deut­sche nach über 40 Jah­ren. Sie denkt, di­ri­giert von ei­ner Stim­me, die „ent­schei­det, wor­an Asta sich er­in­nert, mal quä­lend ge­nau, mal ver­klä­rend sehn­süch­tig“.

 

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Auch Tho­mas Mel­le er­in­nert sich. In Die Welt im Rü­cken“ schil­dert er ei­nen Auf­ent­halt in der Psych­ia­trie, ma­nisch-de­pres­si­ven Pha­sen, sei­ne Wahr­neh­mun­gen wäh­rend der Krank­heit. Be­ein­dru­ckend be­schreibt er „die Ta­ge aus Milch­glas, die Wo­chen aus Irr­gär­ten“. Mit Ver­glei­chen, poe­tisch und neu, er­zählt er „wie die Un­or­te, aus de­nen man wie ein Zom­bie in sie hin­ein­ge­tau­melt kam, wie­der er­träg­li­cher wer­den“. Das in­ter­es­siert mich.

 

 

 

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We­ni­ger spricht mich der Aus­zug von „Frem­de See­le, dunk­ler Wald“ von Rein­hard Kai­ser-Mühle­cker an. Der Ti­tel klingt gut, doch be­vor es in den Wald geht, sit­zen Män­ner in ei­ner Knei­pe. Ei­ner von ih­nen schwingt möch­te­gern-mar­tia­li­sche Re­den ‑nun gut, das klingt ein we­nig übertrieben‑, aber die Plä­ne die­ses Grenz­schüt­zers, der die Li­ni­en ger­ne ver­tei­di­gen möch­ten, klin­gen nicht gut. Auch wenn der Au­tor im Heft­chen mit Stif­ter und Hand­ke ver­gli­chen wird und wie Witt­gen­stein aus­se­hen mag, reizt mich das nicht.

 

 

 

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Dann doch lie­ber le­sen, was Bo­do Kirch­hoffs Paar wi­der­fährt. Die bei­den sind im „Be­griff ins Blaue zu fah­ren, auch wenn noch tie­fes Dun­kel herrscht“. Das lässt sich gut an und im­mer­hin geht es nach Ita­li­en. Me­lan­cho­lisch schie­ben sich Er­in­ne­run­gen an ver­gan­ge­ne Lie­ben da­zwi­schen. Die Land­schaft be­glei­tet die Fahrt wie ein Omen, „es war ein läng­li­cher See, nur in der Mit­te ge­krümmt, et­was un­glück­lich Ein­ge­zwäng­tes ging von ihm aus“. 224 Sei­ten Wi­der­fahr­nis“, da rei­se ich ger­ne mit.

 

 

 

size_150_image556In ei­ner mir gut be­kann­ten Ge­gend woh­nen Dag­mar Leu­polds Wit­wen“. Auch wenn die La­ge des Or­tes mit „zwei Mo­se­lar­men, die sich um den Ort her­um zur Schlei­fe run­den“ merk­wür­dig de­fi­niert ist. Vier Freun­din­nen, die nach und nach der Me­tro­po­le den Rü­cken ge­kehrt ha­ben, le­ben dort seit ge­rau­mer Zeit. Die Na­men Bea­tri­ce und Lau­ra mah­nen an Dan­te und Boc­c­ac­cio, Do­do an den selt­sa­men Vo­gel, den Dou­glas Adams so schön be­schrieb, und Pen­ny-Pe­ne­lo­pe un­ter an­de­rem an die Haupt­rol­le ei­ner ame­ri­ka­ni­schen Sitcom.

Ei­ne ab­wechs­lungs­rei­che Mi­schung scheint ga­ran­tiert, von der ich mehr er­fah­ren möch­te. Nur den Ries­ling als sau­ren Schreck zu be­zeich­nen neh­me ich der Au­torin übel. Aber, nun ja, die Da­men kom­men aus Ber­lin, da trinkt man ja auch Ries­ling mit Ma­te und Limo.

 

42546Mehr Dan­te gibt es bei Si­byl­le Le­witschar­off. Sie be­ginnt mit der Prä­sen­ta­ti­on ih­rer Haupt­fi­gur. Der Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor mit staat­li­chem sil­ber­nen Schopf hat „es als Dan­te-Ge­lehr­ter zu ei­ni­gem An­se­hen ge­bracht hat“. Mir kommt da so­fort Kurt Flasch in den Sinn. Le­witschar­offs Ge­lehr­ter or­ga­ni­sier­te ei­nen Kon­gress zur Di­vina Com­me­dia. Auf dem rö­mi­schen Aven­tin er­eig­ne­te sich dann das Un­fass­ba­re. „Das Un­ters­te hat sich zu­oberst ge­kehrt“ als sich 33 Teil­neh­mer in die Lüf­te ver­flüch­tig­ten. Nur der Sil­ber­schopf blieb üb­rig, um das „Pfingst­wun­der“ zu ver­kün­den. Bis auf das Ske­lett ab­ge­ma­gert scheint er nicht mehr ganz wohl­auf. Wan­dert er et­wa schon längst in Höl­len­krei­sen? Dies und noch viel­mehr über die Di­vina Com­me­dia wird der in­ter­es­sier­te Le­ser er­fah­ren, be­reits die ers­ten Sei­ten des Ro­mans füh­ren in Dan­tes Werk ein.

Rom fin­de ich gut, Dan­te auch, Wun­der we­ni­ger. Die Spra­che be­zeich­net die Au­torin als „in an­de­re Sphä­ren zie­len­de Wort­wahl“. Kann mich das 350 Sei­ten lang be­geis­tern? Oder le­se ich doch lie­ber das Ori­gi­nal, über­setzt von Kurt Flasch? Ach, ganz ver­ges­sen, ein Hund tritt auch in die­sem Ro­man auf.

 

Fol­gen­de Ro­ma­ne der Long­list wür­de ich ger­ne lesen:

Bo­do Kirch­hoff, Widerfahrnis

Dag­mar Leu­pold, Die Witwen

Tho­mas Mel­le, Die Welt im Rücken

Joa­chim Mey­er­hoff, Ach die­se Lü­cke, die­se ent­setz­li­che Lücke

Ar­nold Stad­ler, Rauschzeit

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Nicht be­ur­teilt ha­be ich den Aus­zug aus Pe­ter Stamms „Weit über das Land“, da er mich schon voll­stän­dig über­zeugt hat.

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