Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem neuen Roman „Das Kleid meiner Mutter“ von der Generación Cero, den Persönlichkeitsrechten des Schriftstellers und dem „nicht wissen, was Wirklichkeit und Fantasie war“
„Es ist ein Roman über Spanien und Deutschland, über Sprachverlust ebenso wie die Ohnmacht der Worte, über den Wunsch, sich die Maske aus Haut vom Gesicht zu reißen und ein anderer zu werden. Wer sonst vermag das? Nur die Kunst, in besonderem Maße die Literatur: Allein durch sie sind wir in der Lage, uns anderen Menschen anzuverwandeln, in ihre Körper, ihre Seelen zu schlüpfen, durch ihre Augen zu sehen.“
Die Rede ist von „Das fließende Licht“, dem Roman des Schriftstellers Gert de Ruit, einer der Hauptfiguren im vorliegenden Roman. Doch auf diese neueste Veröffentlichung Anna Katharina Hahns scheint die Charakterisierung ebenso zu passen.
Anna Katharina Hahn hat mich bereits mit ihren Vorgängerromanen beeindruckt, darunter Am schwarzen Berg, in dem sie die Psychologie einer Beziehung mit politischen Ereignissen und Literaturhistorie verknüpft. Was dort Stuttgart 21 und Hölderlin, sind in Das Kleid meiner Mutter die Verlorene Generation in Spanien und ein anonymer Autor. Nach der Romantik weisen Hahns stilistische und literaturhistorische Reminiszenzen nun Spuren von Magischem Realismus auf.
In Madrid, der Hauptstadt des durch die Eurokrise ruinierten Spaniens, herrscht Aussichtslosigkeit unter den jungen Akademikern. Die Generación Cero bekämpft ihren Frust mit abendlichen Treffen auf der Puerta del Sol, wo die Jugendlichen gegen ihre Lage demonstrieren oder sich mit Alkohol betäuben. Auch Anita, die junge Ich-Erzählerin, und ihre Clique La Plaga treffen sich regelmäßig zu solchen Bottelons und vertreiben mit Boccaccio-Geschichten ihre Langeweile. Gegen andere Abendvergnügungen spricht der Geldmangel. Anita, Ana Maria Martínez Madrugada, ausgebildete Erzieherin aber arbeitslos, wohnt bei ihren Eltern. Ihr Bruder Ángel sucht seit kurzem Glück und Geld in Deutschland. Er hat in Germanistik promoviert, doch verdient nicht als Dozent, sondern auf dem Bau die paar Euro, die er zur Unterstützung nach Madrid schickt. Alle legen zusammen, damit die Familie ihre Wohnung und das Wochenendhäuschen halten kann.
In diese prekäre Lage tritt gleich zu Beginn des Romans der Tod und mit ihm das Phantastische. Anstatt die erforderlichen Abläufe zu regeln, lässt Anita die verstorbenen Eltern einfach vor dem offenen Schlafzimmerfenster sitzen. Um nicht aufzufliegen, schlüpft sie bisweilen selbst in das Kleid und in die Rolle der Mutter, ja sogar in die des Bruders. Obwohl sie beiden gar nicht zum Verwechseln ähnelt, gelingt die Täuschung bei der Nachbarin und auch bei Ángels Freundin Marisol, die wieder zurückerobert werden muss. Als Anita kurz darauf die an ihre Mutter gerichtete SMS-Verabredung mit einem Unbekannten entdeckt, beschließt sie sich auch diesem Date zu stellen. Der geheimnisvolle Mann wird sich als Gert de Ruit entpuppen, ausgerechnet der Autor, dessen neuestes Werk Anitas Vater Oscar kurz vor seinem Tod rezensiert hat. Doch bevor Anita und de Ruit sich gegenüber stehen, entführt Hahn ihre Leser auf verschiedene Erzähl-Ebenen, angereichert mit unterschiedlichsten Binnentexten.
Dazu zählen die Rezension zu „Das fließende Licht“, aber auch ein Märchen von de Ruits Mutter, ein Interview mit seiner spanischen Übersetzerin und ein Brief derselben an ihren ehemaligen Geliebten, den Literaturredakteur Oscar Martínez Gómez.
Während Anitas Eltern dank des steten Luftzugs oder der Magie zu Puppengestalten schrumpfen, erinnert sie sich an ihre Kindheit. Besonders an einen Sommer ohne Vater in Dénia, als eines Nachts die Mutter verschwunden war. Oder an eine Orange, die ihre Mutter für sie wie eine Seerose filetierte, was als wiederkehrendes Motiv noch weitere Identitäten entlarvt.
Identität ist das versteckte Thema des Romans. Darf ein Schriftsteller sie verschleiern? Kann er seine Privatheit wahren? Oder muss er als der Verfasser von Büchern, die andere lesen, sich auch als Person entblättern? Anna Katharina Hahn gesteht ihrem fiktiven Autor Anonymität zu. Mehr als daß ihr Gert de Ruit 1930 in einem süddeutschen Weingärtnerdorf geboren wurde, wissen dessen Leser nicht. Wozu auch? „Wie er aussieht, wo er lebt oder mit wem er schläft, das braucht doch niemand zu wissen, um sein Werk zu lieben.“
Das Werk soll im Vordergrund stehen, nicht die Person des Autors oder deren Marketingpotential. Eine Forderung, die aktueller nicht sein könnte, wie die Aufregung um die Identität von Elena Ferrante zeigt.
Literarisch herausragend postuliert dies Anna Katharina Hahn in ihrem neuen Roman, der mit unterschiedlichen Erzählstimmen, eingestreuten Texten und magischen Momenten, das Rätsel de Ruits schließlich löst, und den ich für den Deutschen Buchpreis nominiert hätte.
Gerne hätte ich Anna Katharina Hahn mindestens auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gesehen.
Also, lest ihren neuen Roman, er wird Euch nicht enttäuschen!
Da stimme ich Dir nicht nur uneingeschränkt zu, für mich war Hahn die Favoritin für den diesjährigen Preis.