William Faulkners grandioser Roman „Absalom, Absalom!“ in der Neuübersetzung von Nikolaus Stingl
„Vielleicht ist Geschehen nichts Einmaliges, sondern gleicht dem Gekräusel auf Wasser, nachdem der Kiesel versunken ist, und das Gekräusel geht weiter, breitet sich aus, der Teich ist durch eine schmale Wasser-Nabelschnur mit dem nächsten Teich verbunden, (…)“
Ein neues Leseprojekt, obwohl immer noch vier Bände Proust vor mir liegen? Gewagt. Aber man muss Gelegenheiten ergreifen, wo sie sich bieten. Diese geht auf Birgit zurück. Bei einem unserer letzten Literaturtreffen sprach sie davon William Faulkners „Absalom, Absalom!“ lesen zu wollen. Auch sie hatte erst kürzlich im Schweizer Literaturclub die Diskussion über Nikolaus Stingls Neuübersetzung verfolgt. Nach kurzer Überlegung entschloss ich mich, ihr ein gemeinsames Lesen vorzuschlagen. Schließlich waren wir zu dritt und bildeten eine Extraausgabe unserer Runde, sozusagen einen Literaturkreis im Literaturkreis. Wir portionierten die schwere Kost und trafen uns insgesamt dreimal.
Schon der erste Abend war für mich nicht nur erhellend, sondern auch absolut notwendig, denn mit den ersten beiden Kapiteln habe ich ganz schön gehadert. Unverdaulich wie „Ulysses“, mit dem ich es vor Jahrzehnten viel zu jung versucht habe, erschien mir Faulkners Meisterwerk. 1936 erstmals erschienen, erzählt der Roman die Geschichte einer Familie aus dem amerikanischen Süden während des Bürgerkriegs. „Absalom, Absalom!“ gilt heute als einer der bedeutendsten Literaturwerke des 20. Jahrhunderts und verhalf 1950 Wilhelm Faulkner zum Literaturnobelpreis. Einmalig ist nicht nur Faulkners Sprache und Stil, sondern auch der Aufbau des Romans. Die Konstruktion aus verschiedenen Erzählstimmen, Rückschauen, Briefen und Bewusstseinsströmen, die ein auktorialer Erzähler eher unterbricht als zusammenhält, verlangt seinen Lesern einiges ab.
Erzählt wird von den verschiedenen höchst unterschiedlichen Charakteren immer dieselbe Geschichte. Sie handelt von einem jungen Fremden, Thomas Sutpen, der 1833 mit einer Wagenladung schwarzer Sklaven aus Haiti nach Jefferson kommt. Unweit des Städtchens erwirbt er sich ein großes Areal, auf dem er mit seinen Sklaven in mehreren Jahren harter Arbeit das Anwesen „Sutpen’s Hundred“ errichtet. Anschließend heiratet er die Tochter eines braven Bürgers und zeugt mit ihr zwei Kinder. Seine Frau Ellen ist die ältere Schwester von Rosa Coldfield, der Erzählerin des ersten Kapitels. Ihrer Version der Geschichte lauscht Quentin Compson, dessen Großvater mit Sutpen befreundet war.
Die 64 Jahre alte Rosa hat den 20-jährigen Quentin nicht ohne Hintergedanken zum Zuhörer gewählt. „Vielleicht werden Sie sich eines Tages an das hier erinnern und darüber schreiben.“ Neu ist ihm dieser Stoff nicht, das wird schnell klar. Ich hingegen fühle mich so, als säße ich im Gasthaus eines fremden Ortes und hörte am Nebentisch das Neueste über einen berüchtigten Dorfbewohner. Alle wissen, worum es geht und wer gemeint ist, aber ich bleibe außen vor, alleingelassen mit bruchstückhaften Informationen über Unbekannte.
So erfahre ich von Rosa, daß ihr Neffe Henry, also der Sohn dieses Sutpen, den Verlobten seiner Schwester am Vorabend der Hochzeit erschoss. Kurios, denn er war mit ihm befreundet, sie studierten an derselben Universität und kämpften vier Jahre im Bürgerkrieg.
Wieso lässt Rosa Quentin im Jahr 1909 zu sich kommen, um ihm diese in Jefferson altbekannte Geschichte noch einmal zu erzählen? Immerhin liegt Sutpens Ankunft in der Stadt fast 80 Jahre zurück. Diese Frage stellt sich Quentin. Diese Frage stellt sich mir als Leserin.
Rosa enthüllt zunächst wenig. Als Kind durfte sie die verheiratete Schwester und deren Kinder, die fast in ihrem Alter waren, nur in Begleitung des Vaters oder der Tante besuchen. Warum, verstand sie nicht, so sehr sie auch den Erwachsenen lauschte. Ein ähnliches Gefühl entsteht bei mir. Immerhin entnehme ich dem ersten Kapitel, daß Sutpen Rosa nicht geheiratet hat. Sutpen, den Rosa als Kentaur in Erinnerung hat, als Schwefelgestank verbreitenden Dämon, der mit seiner „Bande halbwilder Nigger“ die Gegend in Unruhe versetzte. Die Begegnung mit diesem Ungeheuer sei ihre Buße für den Fluch, der auf ihrer Familie liege. Was diesen auslöste, wird noch nicht enthüllt. War es die Bereitschaft ihres Vaters Sutpen in die achtbare Familie aufzunehmen?
Um Sutpen rankt sich ein Legendenstoff, von dem der Leser auf den ersten Seiten des folgenden Kapitels erfährt. Wie hören, wie er seine Plantage anlegt, nackt, nur vom Schlamm vor den Strahlen der Sonne geschützt, um den einzigen Satz Kleidung zu schonen. Wir hören, wie er um Ellens Hand anhält. Auf seinem Ritt nach Jefferson kommt ihm die aufgebrachte Bürgerwehr entgegen, doch Sutpen macht sie zu seiner Eskorte. Er schreckt vor nichts zurück. Woher die Wagenladung mit der opulenten Einrichtung für sein Haus stammt, weiß niemand. Man munkelt, er habe ein ganzes Dampfboot geraubt. Skrupellos, manipulativ und gefährlich scheint Sutpen zu sein. „Wenn die Gelegenheit besteht und es sein muss, kann und wird dieser Mann alles tun.“ Anklagen und Haftbefehle empfindet er als „eine akute Verdauungsstörung der öffentlichen Meinung“, mehr nicht. Gegen die Angst und das Misstrauen heiratet er 1838, fünf Jahre nach seinem ersten Erscheinen. Nun hat er „die tadellos beleumundete Ehefrau und den unantastbaren Schwiegervater“. Zur Hochzeit jedoch kommt kaum einer.
Vielfältig sind die Versionen, die erzählt werden, abhängig vom Wissen der jeweiligen Person und von ihrem Willen dieses preiszugeben. Rosa Coldfield, die nachgeborene Tochter eines geizigen Krämers glaubt Quentin zu enthüllen, warum Gott die Niederlage des Südens zuließ. Neben ihren Schilderungen hört Quentin Compson von seinem Vater, was der Großvater, der alte General Compson, ihm vor Jahren von Sutpen berichtete. Quentin schließlich teilt diese Informationen an einem Winterabend im gemeinsamen Zimmer seinem Freund Shreeve mit, der schließlich mit seiner Phantasie die Fehlstellen füllt.
Sutpen ist der Dreh- und Angelpunkt. Ehrgeizig strebt er die Gründung einer Dynastie an. „Ein Mann“, so Faulkner, „der Söhne wollte und den die Söhne zerstört haben“. In ihrem Brief an Quentin schreibt Rosa: „Er war das lichtgeblendete Spukbild seiner eigenen Qual, durch die glühende Dämonenlampe von unterhalb der Erdkruste und daher umgekehrt, seitenverkehrt, nach oben geworfen.“
Sutpens Qual, sein Trauma, von dem er sich durch die Schaffung von Besitz und Familie befreien wollte, lag Jahrzehnte zurück. Ungerechtigkeit und Ungleichheit sind tief mit der Geschichte der Südstaaten verbunden und wurzeln in Sklavenhandel und Rassismus. Vor vielen Jahren, Thomas Sutpen war noch ein Junge, klopfte er an das Portal einer Villa, er sollte dem Plantagen-Besitzer eine Nachricht überbringen. Doch der schwarze Butler, ein „Nigger-Sklave im Affenkostüm“ verwehrte den Eintritt und wies den zerlumpten weißen Jungen zum Hintereingang.
„Wenn Du es mit denen aufnehmen willst, musst du dir verschaffen, was sie haben und weswegen sie tun, was er tut. Du brauchst Land und Nigger und eine schönes Haus, um es mit ihnen aufnehmen zu können“, rät ihm seine Schwester.
Und doch scheitert Sutpen, seine eigenen Nachkommen zerstören den dynastischen Traum. Dabei glaubte er den Fehler rechtzeitig erkannt und ausgemerzt zu haben. Die Frau aus erster Ehe in Haiti hatte keine spanischen Wurzeln, sondern afrikanische wie so oft an diesem Knotenpunkt des transatlantischen Dreieckshandels „auf halbem Weg zwischen dem dunklen, unergründlichen Kontinent, aus dem man gewaltsam das schwarze Blut, die schwarzen Knochen, schwarzes Fleisch und Denken und Sicherinnern und Hoffen und Begehren geraubt hat, und dem kalten bekanntem Land“.
Doch Charles, der gemeinsame „unreine“ Sohn, trifft auf seine „reinweißen“ Kinder Henry und Judith. Eine innige Beziehung, die tödlich endet. Die Söhne werden zu Werkzeugen der Eltern. Sutpens Dynastie setzt sich nur durch Charles Sohn mit einer Mulattin fort. Dieser zeugt einen Sohn mit einer „Negerin“, der schließlich auf Sutpen’s Hundred von seiner letzten „Sklavin“ und schwarzen Tochter Clytie aufgenommen und der einzig überlebende Nachfahre der Sutpen’schen Sippe bleibt.
Faulkner führt das Scheitern Sutpens auf Rassismus und Ungerechtigkeit zurück. Er weiß, „dass es ein Land gab, sauber aufgeteilt, geordnet und übersichtlich mit Menschen, die je nach dem, welche Hautfarbe sie zufällig hatten oder was sie zufällig besaßen, sauber aufgeteilt, geordnet und übersichtlich darin lebten“.
Sutpens Trauma führt er ad absurdum, wenn die „schwarze Sutpen“ einem Weißen den Zugang zum Haus verwehrt und dessen Enkelin zwecks Zeugung weißer Nachkommen von Sutpen mit Perlen geködert wird. Unweigerlich denkt man an die Westküste Afrikas, die erste Station des Dreieckshandels, wo Europäer gegen wertlosen Tand schwarze Sklaven kauften. Eine der Ursachen für die Geschichte des Südens, auf der Faulkner seinen Roman gründet.
Der Leser sieht sich an der Seite des Kanadiers Shreeve. „Ich will es nach Möglichkeit nur verstehen, und ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken kann. Es ist nämlich etwas, was es bei uns nicht gibt. (…) Wir leben nicht unter besiegten Großvätern und befreiten Sklaven (oder habe ich das verwechselt, und deine Leute sind frei, und die Nigger haben verloren?)“
Das Unverständnis und die vielen Fragen, die der Roman während der ersten Kapitel aufwirft, machen zunehmend der Neugier und der Spannung Platz. Alles löst sich nicht, es bleibt Raum für Diskussionen und für die Wahl, welcher Version man folgen möchte. Am Ende ist man vertraut mit dem Kosmos dieser Geschichte und möchte den Roman genau deswegen sofort noch einmal lesen.