Das 19. Kapitel
Das letzte Kapitel birgt eine Überraschung. Nicht weil es die Fragen endlich beantwortet, sondern weil Murakami die japanische Gesellschaft analysiert. Schon im 11. Kapitel klang eine leichte Kritik an. Hier stellt er nun in einer Bahnhofsszene Stress und Anonymität der Massengesellschaft eindrücklich dar. Wir erleben getriebene, gehetzte Menschen. Pendler, die es täglich mehrere Stunden kostet, ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Nah aneinander gepresst wahren sie die Distanz durch einen inneren Schutzschild, den sie auch in freien Momenten kaum ablegen können. Einsamkeit in der Masse wird so gleichermaßen Schutz wie Schaden. Welche Gefahr eine solche Gesellschaft birgt, zeigt sich am Bahnhof, der Schleuse für „ein wogendes Menschenmeer“. „Keinem noch so mächtigen Propheten würde es gelingen, diese wild brandenden Wogen zu teilen.“
Auch Tsukuru sieht sich als verlorenes Individuum, dessen Bestimmung im perfekten Funktionieren liegt. Der Bahnhof verkörpert für ihn „Professionalität, Präzision und Effizienz“, dort fühlt er sich angekommen. Er, der kein Ziel hatte, der seine Heimat aufgegeben und in Tokio keine neue gefunden hatte. „Tsukuru Tazaki hat kein besonderes Ziel. Das schien das Leitmotiv seines Lebens zu sein. Es gab keinen Ort, zu dem es ihn hinzog, und auch keinen, an den es ihn zurückzog.“ „Er lebte sozusagen auf der Flucht vor seinem eigenen Leben. Tokio war die ideale Stadt für Menschen, die die Anonymität suchten.“
Hat Murakami mit Tsukuru einen Antihelden geschaffen? Ein gut funktionierendes Wesen, das motivationslos dem Willen der Anderen ausgeliefert ist? Symbolisiert er die Massengesellschaft Japans?
Tsukuru sieht auch in Eri eine Flüchtige. Sie allerdings hat ihr Ziel gefunden.
Der Blick auf seine Uhr erinnert ihn an den Vater, von dem er dieses teure mechanische Wunderwerk geerbt hat. Dadurch mahnt der Vater, der ihm Zeit seines Lebens fremd geblieben war, den Sohn an die traditionellen Werte.
Tsukuru blickt im Lauf des Abends auf die Gruppe der Fünf Unzertrennlichen zurück. Shiros Angst vor dem Ende dieser Harmonie, der Druck, den sie deswegen verspürt haben mag, sowie sexuelle Spannungen könnten zu der schrecklichen Beschuldigung geführt haben.Vielleicht hatte sie ihn, so wie Eri, falsch eingeschätzt, als gelassene und starke Persönlichkeit, die eine derartige Verleumdung unbeschadet überstehen kann? Obwohl er damals wie heute keineswegs so empfindet, kann Tsukuru Shiro, der eindeutig Schwächeren, verzeihen. Vielleicht konnte sie sich nur auf diese Weise dem „bösen Geist“ erwehren, dem sie letztendlich doch zum Opfer fiel.
Kaum hat Tsukuru das Trauma seiner Vergangenheit bearbeitet, steht das nächste Problem an. Was Sara von ihm will, darum sollte er sich nun schnellstens kümmern, denn wir befinden uns im letzten Kapitel seiner Pilgerreise. Morgen werden sie sich treffen, eindeutig zu spät für das Buch. So lässt er es wieder einmal mitten in der Nacht klingeln, um dann doch aufzulegen, zunächst das Telefon dann die Schallplatte mit der altbekannten Melodie. Er denkt jedoch nicht an Sara, sondern an den finnischen See, finnische Vögel, Eris Shampoo und ihre Brust. Gegen die Beklemmung der Melancholie, die sich auf seine Brust legt, nimmt er einen Cutty Sark. Da klingelt das Telefon, er reagiert nicht, lässt auch einen zweiten Anruf unbeantwortet und versinkt immer tiefer in die alte Depression. Sehnende Sätze wie aus einem Loreroman verdeutlichen die Tristesse, „Sara, dachte Tsukuru. Ich möchte deine Stimme hören. Mehr als alles andere. Aber ich kann jetzt nicht mit Dir sprechen“. Einzig Eris Ermutigung für Sara einen Bahnhof zu bauen, an dem sie halten kann, spenden ihm Mut für den nächsten Tag. „Wenn Sara sich für mich entscheidet, dachte er, mache ich ihr einen Heiratsantrag. Und gebe ihr alles, was ich zu geben habe. Damit wir uns nicht im tiefen Wald verlaufen, wo die bösen Kobolde uns fangen.“
Hach ja, und wenn sie sich kriegen sollten, könnten sie mit sechsfingrigen Klaviervirtuosen die Welt beglücken. Aber wahrscheinlich habe ich einfach nur Bahnhof verstanden.
Weisheit: „Manche Dinge werden einem gegeben, andere werden einem genommen.“
Musik: wie immer
Whiskey: Cutty Sark