Im Baignoire der Herzogin — (Bd. 3,1)
„Von all den Grotten aber, auf deren Schwelle leichtsinnige Anteilnahme an den Werken der Menschen die neugierigsten, unnahbaren Göttinnen lockte, war die berühmteste jenes halbdunkle Gebilde, das unter dem Namen Baignoire der Fürstin von Guermantes bekannt war.“ S. 50f.
Durch einen Ministerialkollegen seines Vaters erhält der junge Erzähler zwei Billets für einen Galaabend in der Oper und damit die Chance der gesuchten Gesellschaft näher zu kommen. Zugleich erwartet ihn eine Vorstellung mit der von ihm einst so verehrten Berma, die auch diesmal wieder in Racines Phèdre auftritt. Allerdings ist das nebenrangig, viel stärker interessiert ihn der Auftritt all der Fürsten, Prinzen, Prinzessinnen, Herzoginnen, kurz des Pariser Adel und seiner Apanage, denn diese bewegen sich in dem großen Theater so als sei es ihr privater Salon. Man grüßt von Loge zu Loge, winkt sich zu und tuschelt über den neusten Klatsch. Die Aufführung wird zum Beiwerk. Die wahren Stars sitzen im Publikum und schmücken ihre Plätze dekorativer als Stuck und Malereien den prachtvollen Innenraums. Der Erzähler fühlt sich in mythische Gefilde versetzt. Nicht direkt in den Himmel, sondern zunächst in das Reich der Wasserwesen, der Nixen und Nymphen, die die Parterreloge, das Baignoire, der Herzogin bevölkern. Der Erzähler sitzt zwar nicht unter diesen Privilegierten, er beobachtet das Treiben in den Meeresgrotten von seinem Sperrsitzplatz aus, und doch befindet er sich auf einer „Abzweigung, die aus einem gewöhnlichen Abend meines alltäglichen Lebens hinausführte, einen möglichen Durchgang zu einer neuen Welt“ S. 47. Er fühlt sich angezogen von den halbnackten Körpern der Wassernymphen, deren „schimmernde Gesichter erschienen, hinter dem lächelnden, leichten Rieseln und Schäumen ihrer Federfächer, unter einem von Perlen durchflochtenen Purpurhaar, das sich im Wogenschlag der Brandung gewellt zu haben schien.“ „Glitzernde Augen der Wassergöttinnen“, erspäht er, „strahlende Meerjungfrauen, bärtige Tritonen, die an Felsvorsprüngen über dem Abgrund hingen, ein Sofa rot wie ein Korallenriff.“ S. 50f.
Diese Grotte steuert so manch schillerndes Unterwasserwesen an. „Mit vorgestrecktem Hals, schräg geneigtem Kopf und mit seinem großen, runden, fest an das Glas des Monokels geklebten Auge verschob sich der Marquis von Palancy langsam im durchscheinenden Dunkel und schien das Publikum im Parterre ebensowenig zu sehen wie ein Fisch, der ohne das leiseste Bewußtsein von der Menge neugieriger Zuschauer hinter der Glasscheibe eines Aquariums vorbeischwimmt.“ S. 55
Noch ist es eine Felsnische, in deren Hintergrund die „Halbgötter des Jockey-Clubs“ schwebten, „die in diesem Augenblick, …, die Männer waren, an deren Stelle ich mich am liebsten befunden hätte.“ S. 68. Doch plötzlich entdeckt er, daß es sich um den wahren Götterhimmel handeln muss, zu dem er als ein „jeder individuellen Existenz baren Protozoons“ hinaufblickt. „Und wenn ich zu ihrer Loge hinaufschaute, war es, viel eher als bei der mit leblosen Allegorien bemalten Saaldecke, als ob ich dank des plötzlichen, wunderbaren Aufreißens die Wolkenschicht, die sie sonst verhüllt, die Versammlung der Götter erblickt hätte, wie sie gerade dem Schauspiel der Menschen zuschauten, unter einem roten Baldachin, in einer schimmernden Lichtung zwischen zwei Pfeilern, die den Himmel trugen.“
Da fällt plötzlich der Blick der Herzogin von Guermantes auf ihn, und es ist um ihn geschehen. „Von einer Göttin zu einer Frau geworden, die mir plötzlich noch tausendmal schöner vorkam, hob die Herzogin die weißbehandschuhte Hand, die sie auf der Logenbrüstung hatte ruhen lassen, sie winkte mir freundschaftlich zu, gleichzeitig fühlten sich meine Blicke von der ungewollten Glut und den Feuern aus den Augen der Fürstin gekreuzt, die sie ohne es zu wissen, in Brand versetzt hatte, einfach weil sie sich umwandte, um zu sehen, wen ihre Kusine grüßte; sie aber, die mich erkannt hatte, ließ den blitzenden, himmlischen Funkenregen ihres Lächelns auf mich niederfallen.“ S. 76