Proust – Theater und Dichtung

Gescheitert ist es noch nicht unser Leseprojekt. Nur meine Anmerkungen haben eine Zeit lang pausiert. Sie mussten warten bis all’ die Ablenkungen sich gelegt und wieder etwas mehr Ruhe eingekehrt ist. Gelesen habe ich trotzdem und notiert, sonst wären meine Eindrücke vielleicht durch viele andere überlagert worden. Um mich nochmals einzustimmen, auf den ersten Teil von „Im Schatten junger Mädchenblüte“ habe ich den bei Dumont erschienene Bildband von Eric Karpeles, „Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit“ zur Hilfe gezogen. Kurze Textpassagen aus der Recherche sind dort in chronologischer Abfolge den Abbildungen der zitierten Kunstwerke gegenübergestellt. Eine schöne Ergänzung und Auffrischung.

Enttäuschung und Erregung — (Bd. 2, 1)

Man­che Phan­ta­sien ver­lie­ren ih­ren Zau­ber so­bald sie Rea­li­tät wer­den. In ei­ner Nach­mit­tags­ma­ti­nee er­füllt sich für Mar­cel der lang ge­heg­te Wunsch ei­nes Thea­ter­be­su­ches. Er sieht end­lich die von ihm ver­ehr­te Ber­ma in ei­ner ih­rer Pa­ra­de­rol­len, der Phèd­re des gleich­na­mi­gen Stücks von Ra­ci­ne. Doch „Ach! Die­se ers­te Ma­ti­nee war ei­ne gro­ße Ent­täu­schung.“ Das schö­ne Ge­fühl der Sehn­sucht war grö­ßer als die Freu­de der Befriedigung.

La Ber­ma wähl­te Proust als Ali­as für Sa­rah Bern­hardt, in den frü­hen Ver­sio­nen der Re­cher­che tauch­te die Schau­spie­le­rin noch un­ter ih­rem Klar­na­men auf. Zu­dem ge­ben die Be­schrei­bun­gen des Äu­ße­ren und der Ges­ten deut­li­che Hin­wei­se auf die Künst­le­rin. Auch für die Bern­hardt war Phèd­re ei­ne ih­rer be­deu­tends­ten Rol­len. Die­ses an­ti­ki­sie­ren­de Stück des Dra­ma­ti­kers Ra­ci­ne be­sitzt er­heb­li­che Re­le­vanz für Proust. Es the­ma­ti­siert die für Proust so wich­ti­ge Mut­ter-Sohn-Be­zie­hung, macht Flucht zu ei­ner Er­schei­nungs­form der Lie­be und spielt mit ho­mo­se­xu­el­len Me­ta­phern. Vie­le Zi­ta­te und An­spie­lun­gen auf die­ses Werk Ra­ci­n­es durch­zie­hen die Recherche.

Ein wei­te­rer Traum er­füllt sich für den jun­gen Mar­cel als er end­lich sei­nem Schrift­stel­ler­idol Berg­ot­te be­geg­net. Auf ei­nem Din­ner bei Swann sieht er die­sen Mann zu­nächst oh­ne sei­ne li­te­ra­ri­sche Hül­le, qua­si wie vor dem Ba­de­zim­mer­spie­gel nach dem mor­gend­li­chen Bad, en na­tu­re. In Mar­cels Wahr­neh­mung schiebt sich die pro­fa­ne Fi­gur mit der Schne­cken­na­se über die ed­le Grö­ße des Schrift­stel­lers Berg­ot­te und führt zur Ernüchterung.

Doch im Ge­spräch über­win­det Mar­cel die Äu­ßer­lich­kei­ten und fin­det das in­ne­ren We­sen Berg­ot­tes. Er ge­steht die­sem, wie er die jah­re­lan­ge Lek­tü­re sei­ner Bü­cher emp­fun­den hat, was den Dich­ter für ihn ein­nimmt. Berg­ot­te ver­traut Mar­cel sei­ne Ein­schät­zung des Ge­müts­zu­stan­des von Swann an, die­ser lei­de stark un­ter dem durch die Hei­rat mit ei­ner Dir­ne ver­ur­sach­ten ge­sell­schaft­li­chen Abstieg.

Gleich­zei­tig spie­gelt Berg­ot­te für uns Le­ser den Schrift­stel­ler Proust. Die Kri­tik an Stil und Ei­gen­ar­ten im Werk des Ers­te­ren kön­nen als Cha­rak­te­ris­ti­ka des so­eben Ge­le­se­nen ver­stan­den werden.

Ne­ben die­sen bei­den Bei­nah-Ent­täu­schun­gen fin­den sich zwei er­re­gen­den Erlebnisse.

Die ero­ti­sche Ran­ge­lei mit Gil­ber­te hin­ter dem Lor­beer­bo­s­ket, die an Apoll und Daph­ne den­ken lässt und si­cher Mar­cel und Gil­bert, oder auch Al­bert, meint. Auf je­den Fall ein Ge­gen­über oh­ne „e“, dem sei­ne Rol­le in die­sem Ring­kampf bes­ser ge­stan­den hät­te. Ei­nen klei­nen Hin­weis auf die Rich­tig­keit die­ser In­ter­pre­ta­ti­on er­gibt sich, wenn man die An­lei­tung zur Un­ter­schrift „Gil­ber­tes“ be­folgt. „…das ver­schlun­ge­ne G, das sich über ein i oh­ne Punkt lehn­te, wie ein A aus­sah, wäh­rend die letz­te Sil­be durch ei­nen ge­well­ten Schnör­kel in un­be­stimm­ter Wei­se ver­län­gert schien…”.

Die­sem An­ein­an­der­ge­ra­ten, das in Mar­cel ei­nen Fie­ber­sturm ver­ur­sacht, folgt ei­ne Ein­la­dung zum Nach­mit­tags­tee bei Gil­ber­te. Die In­itia­ti­on in die Welt der Swanns ist vollzogen.

Zwi­schen die­sen Sze­nen ma­chen wir die Be­kannt­schaft mit dem Mar­quis de Nor­pois. Er er­scheint zu ei­nem Abend­essen bei Mar­cels El­tern und er­weist sich als di­plo­ma­ti­scher Rat­ge­ber, Ora­kel und Kom­men­ta­tor zu­gleich. In die­ser Rol­le er­klärt er Mar­cel das Spiel der Ber­ma und die li­te­ra­ri­sche Mit­tel­mä­ßig­keit ei­nes Berg­ot­te. Nor­pois be­stärkt den Jun­gen in sei­nem Wunsch Schrift­stel­ler zu wer­den, ent­hält sich je­doch je­des Kom­men­tars zu des­sen frü­her Kirch­turm­pro­sa. So­gar bei den Swanns ver­kehrt er. Doch als Mar­cel ihm ge­gen ei­ne Für­spra­che bei Mme Swann bei­na­he sei­ne See­le ver­kauft hät­te, weist Nor­pois die Rol­le des Me­phis­to­phe­les zu­rück. Na­tür­lich dis­kret schwei­gend wie es sich für ei­nen Di­plo­ma­ten ziemt.

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