„Proust Pharao“ von Michael Maar
Für Proustadepten wie für Proustneulinge gleichermaßen interessant ist die 2009 im Berenberg-Verlag unter dem Titel Proust Pharao erschienene Essay-Sammlung. In sieben zum Teil revidierten und erweiterten Texten, darunter zwei Erstveröffentlichungen, setzt sich Michael Maar auf kenntnisreiche und unterhaltsame Weise mit Marcel Proust und der Recherche auseinander. Angereichert ist der schön gestaltete Band mit Porträtphotographien, die den Schriftsteller in verschiedenen Lebensphasen zeigen.
Bereits der erste titelgebende Text ist eine Eloge an Proust, dem es wie keinem anderen gelang „der inneren Wahrheit bis in die letzte Verästelung nach” zu forschen. Indem Proust aufzeigt wie die Gefühle funktionieren, bietet er seinem Leser ein Instrumentarium zur Selbsterforschung. Gleichzeitig erweist er sich als großer Poet in der Beschreibung von Natur und Landschaft, sowie als Gesellschaftskomödiant, der das Treiben der Pariser Salons mit viel Ironie schildert, wodurch er nicht zuletzt auch einen kritischen Blick auf sich selbst wirft. Denn ein bisschen Proust finde sich in jeder seiner Figuren, meint Maar.
Die fast schon soziologisch anmutenden Zeit- und Milieuschilderungen in der Recherche erinnern Maar an die Werke Thomas Manns. Aufschlussreiche Parallelen zwischen Mann und Proust und zwischen ihren Romanen zieht Maar in „Potiphars Frau“. Zauberberg wie Recherche sind enzyklopädische Märchenromane mit der Zeit als Leitmotiv. In beiden wird viel musiziert und unglücklich geliebt, wenn auch mit ganz unterschiedlichen schriftstellerischen Mitteln.
Die Objekte dieser Liebesleidenschaften sind zwar stets bei beiden Autoren hübsche junge Frauen, gemeint waren jedoch nicht weniger hübsche junge Männer. Diese Camouflage enttarnt Maar in „Wer starb als erster für Albertine“. Neben der Quellenlage in den Briefen und den Spiegelungen der Liebesaffairen Prousts in den Personen der Recherche, erfahren wir, daß der Grundstein für das chronisch unglückliche Liebeserleben eventuell sehr früh in Prousts Leben gelegt wurde. Als 21-jähriger erlitt Proust den Tod des von ihm geliebten gleichaltrigen Edgar Aubert. „Offensichtlich war Aubert der erste bei dem Proust erfahren musste, wie die Liebe verzögert hypertrophieren kann, wenn nur sicher gestellt ist, dass sie unerfüllt bleibt.“
Dass die Recherche trotz ihres Anteils an Fiktion in Teilen auch als Schlüssselroman lesbar ist, zeigt Maar unterhaltsam und mit detektivischem Spürsinn in „Die Zofe der Madame Putbus“. Eine Unstimmigkeit im Datum brachte ihn auf die Identität des Vorbildes, das ebenso wie die weibliche Romanfigur Autos, Baccara, Wein und Pferderennen bevorzugt, doch ein Kammerdiener war, der seine Vorlieben als Chauffeur auch beruflich ausleben konnte.
Es folgt eine Hommage an Prousts Haushälterin Céleste Albaret, die ihm neun Jahre lang seinen Milchkaffee zubereitete und mehr Vertraute und Seelenverwandte als Hausmamsell war. Prousts ungewöhnlichen Tagesablauf, seine skurrilen Hygiene-Gewohnheiten sind in ihren Erinnerungen nach zu lesen. Diese enstanden erst viele Jahre nach seinem Tod. Proust, sich seines Nachruhms gewiss, riet ihr vergeblich Tagebuch zu führen.
Wie Prousts Asthmaleiden, das ihn seit seinem neunten Lebensjahr begleitete und Ursache seines frühen Todes war, auch das Entstehen der Recherche beeinflusste, ist in „Stechapfelträume und Tod“ dargestellt. Dass Proust 1905 nach dem Tod seiner Mutter mit dem Schreiben begann, ist bekannt, weniger, daß der Arzt Paul Sollier, Leiter des Sanatoriums in Billancourt, Proust bei seinem Kuraufenthalt dazu ermutigte. Ob Sollier auch bewusst war, wie sehr der Verfasser dieser fiktiven Autobiographie sich dabei auf eine Gratwanderung zwischen Wahrheitsdrang und Verschleierung begab, ist nicht bekannt. Michael Maar zeigt diese durch das lebenslange Verstecken der sexuellen Neigung bedingte Zwiespältigkeit in „Spargel mit Fissuren“.
Nach der Lektüre stimmt man Maar in seiner Titelwahl unbedingt zu. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist das Große Haus, nach dem der ägyptische König hieß und das dem legendären Leuchtturm von Pharos Taufe stand. Als phare säumt es noch heute die französische Küste. Proust Pharao – leuchtend für alle, die durch den Nebel navigieren. Und wer von uns navigierte nicht durch ihn.“