Sibylle Lewitscharoffs Trostgestalt mit Löwenmähne
„Am linken Ohr des Löwen zeigte sich ein kleiner Makel im Fell, offenbar eine Verletzung, die Blumenberg bisher noch gar nicht aufgefallen war.“ (S. 148)
Er „war dazu da, sein, Blumenbergs, Vertrauen in die Welt, zumindest bei Nacht, zu festigen.“ (S. 126)
Wer auf Artigo, einer kunsthistorischen Datenbank, die Stichworte Löwe und Hieronymus eingibt, erhält eine Vielzahl bildkünstlerischer Interpretationen dieses Sujets. Eine literarische legt Sibylle Lewitscharoff in ihrem Roman „Blumenberg“ vor. Und nicht nur das. Hans Blumenberg (1920–1996), der als Philosoph an der Universität Münster lehrte, wird von ihr zum Heiligen stilisiert. Zu einem agnostischen Heiligen wohlgemerkt, der nicht an Bibeltexten, sondern an seinen eigenen Gedanken feilt. Dann eines Nachts im professoralen Gehäus, vulgo Arbeitszimmer, materialisiert sich ein Löwe, oder besser, er erscheint. Das Materielle bleibt fraglich, bis zum Schluss. Denn außer ihm nimmt kein anderer das Tier war, kein anderer normaler Mensch, eine Nonne ausgenommen, was dem literarischen Blumenberg und dem Leser zu Denken geben sollte. Oder besser zu Glauben?
Die Geschichte dieser Erscheinung ist gekonnt und vergnüglich erzählt. Im ersten Teil des Romans habe ich sie auch gerne gelesen. Dazu trug die Rätselei um die Vielzahl der literarischen und kunsthistorischen Zitate bei, die Fabulierkunst und der subtile Witz der Autorin. Besonders die Schilderung des Studentenmilieus der Achtziger und die vier studentischen Exempel laden ein zur Nostalgie. Ja, so war’s. Strebsam, verklemmte Studentenjünger, feministisches WG-Teetrinken, Kneipenbarden und Glückssucher. Auf den grünen Zweig schafft es nur einer, doch auch der beißt wie die anderen drei viel zu früh ins Gras.
Lewitscharoffs Blumenberg hingegen, dessen reales Vorbild übrigens etliche Miniaturen zum Löwen an und für sich verfasst hat, philosophiert ausführlich über seinen Löwen. Fünf entsprechend durchnummerierte Leokapitel erscheinen im Roman. Blumenberg, der in Realität doch eher der eigenen Philosophie als dem christlichen Glauben zugeneigt war, interpretiert die Erscheinung als Auszeichnung von OBen.
Das finde ich trotz aller dichterischen Freiheit fraglich. Mir persönlich würde es wenig gefallen, wenn ein Roman mich erwecken würde oder gar dazu verdonnern als fromme Nonne Klosterhecken zu stutzen. Aus diesem Grund fiel meine anfängliche Begeisterung zum Erde hin etwas ab. Klar, es gibt noch jede Menge Zitatenschätze zu entdecken. Von Platon bis Heidegger, alte und moderne Dichter, auch zeitgenössische Schriftstellerkollegen wie Mosebach und Genazino blitzen um die Ecke. Dies alles häuft sich zu einer sehr gelehrsamen Sache um am Ende den Weg aller Gläubigen zu gehen. In einer Höhle, gestaltet von Platon, Dante und Beckett, lagern die Verstorbenen des Romans, unter ihnen der Philosoph mit seinem Begleiter. In diesem Wartezimmer nach OBen vollzieht sich schließlich eine mystische Transformation, die allen esoterisch Aufgeschlossenen viel Freude machen mag.
Ob auch „Blumenberg, Sohn einer Jüdin,…, katholisch getaufter Agnostiker, der in der Zeit der Not, als keine Universität ihn aufnahm, einige Semester am Frankfurter Jesuitenkolleg,…, hatte studieren dürfen und nie aus der Kirche ausgetreten war“ (S. 87) sei dahin gestellt.
Vorsorglich entschuldigt sich die Autorin in ihrem Nachwort beim Verstorbenen. Das bringt mir das Buch wieder näher. Auch nimmt sie sich nie vollkommen ernst. Und den Löwen, Blumenbergs Trost- und Heilsbringer schon gar nicht. Der war vielleicht doch nur ein übergroßes Kuscheltier, in Trostangelegenheiten somit bestens versiert.
Sibylle Lewitscharoff erhält für ihren Roman den diesjährigen Wilhelm-Raabe-Literaturpreis.
Zudem war sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises vertreten.