Was ein amerikanisches Journalisten-Trio beeindruckt
Großartig las sich der Ankündigungstext des Verlags. Als dem Skurrilem zugeneigte Historikerin bekam ich sofort Lust, diese Sammlung der „seltsamsten, abgelegensten (sic!) und sonderbarsten Orte“ zu studieren.„Liebevoll ausgestattet“ versprach sie, die trübe Jahreszeit unterhaltsam und anregend zu erhellen. Doch das Bunte ist in Wirklichkeit meist grau, das erkannte schon der Erzähler in Marcel Prousts Erinnerungswerk, sobald er zu den Orten gelangte, von denen er geträumt hatte.
So ergeht es mir auch im Atlas Obscura. Als Lehnstuhlreisende benötige ich fast eine Lupe, um die wenig qualitätvollen Fotografien zu erkunden, die oft in geringem Format abgebildet sind. Die schlechte Papierqualität vergeigt die Optik noch mehr und nicht nur das. Das beige Recyclingpapier verströmt einen Geruch, der das Blättern verleidet. Normalerweise sind dies Kriterien, die in meinen Rezensionen keine Rolle spielen. Ein großformatiges, auf Ausstattung angelegtes Handbuch sollte in seinem Auftritt jedoch auch olfaktorisch tadellos sein, sonst gibt’s keinen Platz auf dem Coffeetable.
Das rote Lesebändchen des von den amerikanischen Journalisten Joshua Foer, Dylan Thuras und Ella Morton verfassten Werks, das Orte jenseits der „immer gleichen Nullachtfünfzehn Attraktionen“ entdeckt haben will, markiert Battleship Island (S. 205), eine Betonruineninsel nahe Nagasaki, die an ein Klingonenschiff erinnert. Die Verlagsankündigung der von Kristin Lohmann, Claudia Amor und Johanna Ott ins Deutsche übertragenen Ausgabe erwähnt hingegen die „geheimnisvollen“ deutschen Orten. Es handelt sich um 24 Sehenswürdigkeiten, von denen alleine fünf in München zu finden sind, darunter die Eisbachwelle im Englischen Garten (S. 58) und die Gebeine der Heiligen Munditia in der Peterskirche (S. 59). Wer hätte das gedacht? Ebenso fragwürdig ist, warum ausgerechnet die von der Naziideologie instrumentalisierten Externsteine (S. 60) in dieses Kompendium eingegangen sind?
Die Einträge wirken wie Wikipedia-Kurzfassungen, eilig zusammengetragen und wahllos mit dem erstbesten Foto garniert. Erklärt wird kaum, hinterfragt nichts. Was nützt der Eintrag der Krumlauer Rakotzbrücke (S. 71) ohne den Hinweis, daß es sich um ein historisierendes Surprise eines Landschafts-Parks handelt, der von den großartigen Gartenarchitekturen des Fürsten von Pückler-Muskau inspiriert wurde? Was der Verweis, das Volk nenne sie Teufelsbrücke?
Verwundert blättere ich weiter, entdecke in Griechenland, der Wiege der abendländischen Kultur, nur vier kaum bekannte Orte, darunter den Heiligen Berg Athos (S. 74), in Italien immerhin zehn mehr. Neben altbekanntem, wie dem Parco dei Mostri in Bomarzo (S. 80) oder dem Gabinetto Segreto im Neapler Museo Nazionale (S. 83), ganz zu schweigen von der Blauen Grotte (S. 83), immerhin auch Unbekanntes, wie die unterirdische Tempelanlage der Damanhur (S. 77), erbaut in den Jahren 1978 bis 1992. Der Rest ist Geschichte und hinlänglich bekannt, jedenfalls in den Grenzen des alten Europas. Zu entdecken gibt es dort allerdings etwas in schottischen Gefilden, genauer in Dumbarton, die Hundeselbstmordbrücke (S. 30), wo unwiderstehlicher Nerzduft vielen Vierbeinern zum Verhängnis wird. Glücklichere Artgenossen haben auf dem Hundefriedhof von Edinburgh Castle (S. 30) ihre haarigen Häupter zur letzten Ruhe gebettet.
Die Europäischen Entdeckungen nehmen immerhin gut ein Viertel des knapp 500 Seiten umfassenden Handbuchs ein, das, wie das Inhaltsverzeichnis offenbart, nach Kontinenten und Ländern vorgeht. Die Einteilung entspricht dem zugrundeliegenden Konzept und ist bisweilen skurril. So unterteilen die Verfasser Europa in die vier Bereiche Großbritannien und Irland, Westeuropa, Osteuropa und Nordeuropa und Skandinavien. Im Anhang finden sich neben Bildnachweis und alphabetisch geordnetem Index ein Themenregister. Dieses ist nur bedingt hilfreich, da die Kategorien weder stringent noch logisch gewählt sind. Hier stehen „Burgen und Schlösser“ neben „Selbst erbauten Schlössern und Burgen“. „Mumien und Gebeine“ erhalten Konkurrenz von „Religiöse Reliquien“ und „Körperteile ohne Körper“. „Wunder der Natur“ scheint etwas Anderes zu sein als „Verrückte Flora und Fauna“ oder „Gesteinsformen“. Nicht selten sind die Bezeichnungen völlig nichtssagend, wie „Kuriositäten in der Stadt“ oder „Sehr große Dinge“. Man hätte manches einsparen können, nicht zuletzt auch die ausufernd pathetischen Danksagungen. Anstatt dessen hätte man in besseres Papier investieren sollen, denn es gibt durchaus einiges zu entdecken, wenn es nur nicht so riechen würde.
Nicht zuletzt aus diesem Grund sei auf die Internet-Präsenz dieses Projekts verwiesen: https://www.atlasobscura.com