T.C. Boyle vereint in seinem neuen Roman „Terranauten“ Ökologie und Gruppendynamik
„Nichts rein, nichts raus“ so lautet das Prinzip, dem das Setting in T.C. Boyles neuem Roman „Die Terranauten“ zugrunde liegt. Als Projekt Ecosphere 2 sollen acht Menschen autark zwei Jahre in einer Gewächshaus-Welt leben oder besser überleben. Inspiriert hat Boyle ein ganz ähnliches Unternehmen, das in den 90er Jahre in der Sonora Wüste unweit von Tucson gestartet wurde. Biosphere 2 lief über die Planzeit von zwei Jahren, aber nicht in vollkommener Abgeschlossenheit und damit entgegen den Vorschriften. Dies lag nicht an der existentiellen Dringlichkeit von Nahrungsbeschaffung oder Sauerstoffversorgung, sondern an einem simplen medizinischen Notfall, der eine, wenn auch nur kurzzeitige, Öffnung der Schleuse verlangte. Das 1994 gestartete Folgeexperiment war sogar schon nach sechs Monaten zu Ende. Ausschlaggebend für den Abbruch dieses Menschenversuchs war ein Mitglied der Außencrew. Er irritierte seine eingeschlossenen Kollegen derart, daß das Projekt scheiterte. Sein Name ist Steve Bannon.
Auch ohne einen solchen desaströsen Provokateur stellt dauerndes Zusammenleben eine Gruppe vor große Herausforderungen. Dieser psychologische Aspekt interessiert mich sehr. Wie verhalten sich Menschen in einer Zwangsgemeinschaft, aus der es kein Entrinnen gibt? Das Thema ist nicht nur Forschungsgebiet der Psychologie und brachte klassischen Studien zur Gruppendynamik hervor. Auch in der Literatur wurde es immer wieder aufgegriffen, man denke an Goldings „Herr der Fliegen“. Natürlich ist es auch aus der Trivialkultur nicht weg zu denken. Big Brother oder Dschungelcamp bedienen Abenteuerlust und Voyeurismus gleichermaßen, menschliche Eigenschaften, mit denen sich viel Geld verdienen lässt.
Dies wissen auch die Strippenzieher in Boyles Roman, der Ort und Handlungszeit bis ins Detail von seinen Vorbildern übernimmt. Die Teilnehmer dieses Medienspektakels, das vordergründig die Möglichkeiten des Überlebens ohne Fremdressourcen auf einem anderen Planeten oder nach einer ökologischen Katastrophe erforschen soll, werden nicht nur nach ihren Fähigkeiten, sondern auch nach ihrer Attraktivität ausgewählt. Dies vermutet Linda, eine der Kandidatinnen, vor dem Einschluss der acht Terranauten. Sie zählt schließlich nicht den Ausgewählten im Gegensatz zu ihrer besten Freundin Dawn. In Ecosphere 2 trägt sie den Namen Eos, Göttin der Morgenröte, ist weiß, blond und gut proportioniert, Linda als koreanische Komodo-Lady hingegen klein und vollschlank. Diese zwei Frauen und Ramsay, der Kommunikationsbeauftragte in Ecosphere 2, macht Boyle zu seinen Erzählern. Aus der Rückschau, aber nur selten rückblickend, treiben sie die Handlung voran. Wechselweise lesen wir ihren Bericht, der meist dort einsetzt, wo der Vorredner endete. Als Ich-Erzähler geben die Drei Einblicke in ihre Innenwelten und schildern den Fortgang des Geschehens. Dieses ist äußerst spannend. Wie alle Beteiligten des Projekts will auch der Leser vieles erfahren, nicht zuletzt, wie es ist, mit einem begrenzten und immer gleichen Speiseplan zurecht zu kommen. Boyle schildert im Detail, aber ohne zu langweilen, das Einleben der Crew, ihre täglichen Routinen, ihre Aufgaben die Innenwelt intakt zu halten sowie ihre Kontakte zur Außenwelt über Telefon und Besucherfenster. Wir verfolgen durch Linda von außen und durch Dawn und Ramsey von innen, wie sich Zwischenmenschliches entwickelt und was aus Zurückgelassenem wird.
Boyle ist ein Meister des Fährtenlegens und wendet die Handlung stets in unvermutete Richtungen. Manchmal allerdings vergibt er auch Chancen und lässt Konflikte nicht eskalieren. So verläuft die sich anbahnende Rivalität um Dawn zwischen Techniker Tom und Ramsay im Sande. Vielleicht fiel sie der Kürzung der Hörbuchvariante, der ich mit Genuss gelauscht habe, zum Opfer? Sie wurde von August Diehl, Ulrike C. Tscharre und Eli Wasserscheid eingelesenen. Oder fehlte Boyle auf seinen ereignisreichen 600 Seiten einfach der Platz für mehr Politik und Psychologie?
Die Wirkkräfte und Auswirkungen von Manipulation stellt er auf unterhaltende wie hellsichtige Weise dar. Mehr erfahren wir vielleicht im Bericht über die nächste Ecosphere oder im Tagebuch der echten Terranautin Jane Poynter, „The Human Experiment“.