Pippi Pomperipossa – Die Widerstandskämpferin Astrid Lindgren

Jens Andersen zeigt in seiner Biographie, wie Astrid Lindgren mit den Waffen der Sprache streitet

Lindgren1Die bei­na­he acht­zig­jäh­ri­ge As­trid Lind­gren wur­de ge­fragt, was sie wohl ge­tan hät­te, wenn sie sei­ner­zeit nicht Schrift­stel­le­rin ge­wor­den wä­re. Ih­re Ant­wort lau­te­te: „Ich wä­re ei­ne klei­ne ak­ti­ve Wi­der­stands­kämp­fe­rin in der ers­ten Zeit der Ar­bei­ter­be­we­gung ge­wor­den. (…) Ei­ne klei­ne Vor­kämp­fe­rin für die Men­schen der da­ma­li­gen Zeit.“

Die Bio­gra­phien über As­trid Lind­gren, dar­un­ter die au­to­ri­sier­te von Mar­ga­re­ta Ström­stedt, wer­den nun durch ei­ne wei­te­re er­gänzt, die erst­mals die zahl­rei­chen hand­schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen der Au­torin be­rück­sich­tigt. Ihr Ver­fas­ser, Jens An­der­sen, Nor­dist und Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, könn­te als Dä­ni­scher Na­tio­nal­bio­graph be­zeich­net wer­den. 2005 leg­te er die Le­bens­ge­schich­te des Mär­chen­dich­ters Hans Chris­ti­an An­der­sen vor, die in­ter­na­tio­nal be­ach­tet wur­de. Sei­ne Bio­gra­phie über Kö­ni­gin Mar­gre­the II. im Jahr 2012 sorg­te vor al­lem im kö­nigs­treu­en Dä­ne­mark für Furore.

Mit As­trid Lind­gren wid­met er sich ei­ner Au­torin, der nicht nur ih­re Fi­gur Pip­pi Lang­strumpf welt­wei­te Be­ach­tung brach­te. Ge­ra­de des­we­gen stellt sich die Fra­ge, ob es über die be­rühm­te Kin­der­buch­au­to­rin noch viel Neu­es zu er­zäh­len gibt? Ber­gen Lind­grens Blö­cke und Brie­fe Un­be­kann­tes über die Mit­teil­sa­me, die auch öf­fent­lich ger­ne ih­re Mei­nung sagte?

Ein gro­ßes In­ter­es­se ist An­der­sens Buch ge­wiss, denn fast je­der ist in sei­ner Kind­heit den Fi­gu­ren Lind­grens be­geg­net. So ver­brach­te ich vie­le jun­ge Jah­re mit Pip­pi und den Kin­dern aus Bul­ler­bü, um mit mei­nen Kin­dern noch tie­fer in den Lind­gren-Kos­mos ein­zu­tau­chen. Als Karls­son-Vor­le­se­rin amü­sier­te ich mich min­des­tens so sehr wie mei­ne Zuhörer.

An­der­sen nutzt die­se Bin­dung der Le­ser an As­trid Lind­gren. Im ers­ten Ka­pi­tel Fan­post steigt er mit dem Brief­wech­sel zwi­schen ei­ner jun­gen Le­se­rin und der Au­torin wie ne­ben­bei in die Le­bens­phi­lo­so­phie Lind­grens ein. Dann be­rich­tet er in drei Ka­pi­teln über ih­re Ju­gend und die frü­hen Er­wach­se­nen­jah­re, be­vor der Bio­graph zu ih­rer Kin­der­buch­kar­rie­re kommt.

Auf­ge­wach­sen in der Pro­vinz, im Fle­cken Näs na­he der Klein­stadt Vim­mer­by, war As­trid mit 17 ganz up-to-date als Flap­per mit Bob und Män­ner­ho­sen un­ter­wegs. Ihr Sprach­ta­lent ver­an­lass­te ih­ren Leh­rer die her­aus­ra­gen­de Schü­le­rin dem Re­dak­teur der Vim­mer­by Tid­ning zu emp­feh­len. Der nahm dies al­ler­dings zu wört­lich. Die at­trak­ti­ve und in­tel­li­gen­te Frau wur­de Vo­lon­tä­rin der Zei­tung und bald auch Ge­lieb­te des 30 Jah­re äl­te­ren, ver­hei­ra­te­ten Re­dak­teurs Blom­berg. Zwei Jah­re spä­ter er­war­tet sie ein Kind und ver­lor ih­re Stellung.

So in­ter­es­sant die­se Le­bens­pha­se Lind­grens für den Le­ser auch ist, An­der­sen tut sich mit der Schil­de­rung schwer. „Was Mut­ter sa­gen wird“ oder „Mys­te­ri­en der Fort­pflan­zung“ sind ku­ri­os klin­gen­de Über­schrif­ten, In­for­ma­tio­nen wer­den zum Teil wort­gleich wie­der­holt und Re­de­wen­dun­gen wie „Per­len an der Schnur“ oder „die Trä­nen kom­men“ tre­ten ge­häuft auf.

Die­se De­fi­zi­te stö­ren auch im psy­cho­lo­gisch ein­fühl­sam ge­schil­der­ten Ab­schnitt über die ers­ten Jah­re der al­lein­ste­hen­den Mut­ter, die vom Zer­ris­sen­sein zwi­schen ih­rem kar­gen Le­ben in Stock­holm und den Fahr­ten nach Ko­pen­ha­gen ge­prägt sind. In der dä­ni­schen Haupt­stadt lebt ihr Sohn Las­se in ei­ner Pfle­ge­fa­mi­lie bis As­trid, die da­mals noch ih­ren Mäd­chen­na­men Erics­son trägt, ihn 1930 end­lich zu sich nach Schwe­den holt. Un­ter­stüt­zung fin­det sie bei ih­ren El­tern in Näs. In der Ge­bor­gen­heit die­ser Groß­fa­mi­lie ver­bringt der En­kel 16 Monate.

Als As­trid, mitt­ler­wei­le Ste­no­ty­pis­tin im K.A.K. Au­to­mo­bil­club, 1931 den Re­dak­teur Stu­re Lind­gren hei­ra­tet, kommt das Fa­mi­li­en­le­ben in ge­re­gel­te Bah­nen und ih­re schrift­stel­le­ri­sche Kar­rie­re lang­sam in Fahrt. Sie ver­fasst Rei­se­rou­ten für das Tou­ren­buch des Clubs, aber auch Mär­chen und Ge­schich­ten für die Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten Stock­holms-Tid­nin­gen, Lands­byg­dens Jul (Weih­nach­ten auf dem Land) und Mors hyl­ling (Lob der Mutter).

An­ge­regt von ih­ren Kind­heits­er­in­ne­run­gen und den Schrif­ten A.S. Neills und Bert­rand Rus­sells lie­fert ihr der Kon­takt zu an­de­ren Müt­tern und Kin­dern, de­nen sie mit Las­se und der 1934 ge­bo­re­nen Ka­rin im Vas­a­park be­geg­net, Stoff für ih­re Ge­schich­ten. Die Ideen no­tiert sie zu­nächst in ih­rem Haus­halts­buch, wo sie auch die Ent­wick­lung der Kin­der und die ori­gi­nel­len Sprü­che Las­ses fest­hält. Ihr ei­ge­nes Mot­to im Um­gang mit Kin­der lau­tet „Lass die Kin­der in Ru­he, aber sei in Reich­wei­te, wenn sie dich brauchen“.

Seit 1941 ent­ste­hen auf ih­ren No­tiz­blö­cken die Ge­schich­ten von Pip­pi Lang­strumpf. In sie flie­ßen Lind­grens Ein­drü­cke von den Grau­sam­kei­ten des Krie­ges ein, den die Au­torin in den Nach­rich­ten ver­folgt. Den Fol­gen der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Be­dro­hung ist sie als Brief-Spio­nin des schwe­di­schen Ge­heim­diens­tes auch mit­tel­bar aus­ge­setzt. In ih­ren ab 1939 ge­führ­ten Ta­ge­bü­chern be­zeich­net sie die Tä­tig­keit als „Drecks­ar­beit“, die so ge­won­nen Ein­bli­cke las­sen sie den­noch nicht los. Be­sorgt und be­schäf­tigt wie As­trid Lind­gren war, wun­dert es al­so nicht, daß Pip­pi erst drei Jah­re spä­ter voll­endet wur­de. Ge­le­gen­heit da­zu gibt ein ver­stauch­ter Fuß, der ihr die Mu­ße ver­schafft, die Ta­ten des stärks­ten Mäd­chens der Welt zu no­tie­ren. In Ste­no­gra­phie und mit Blei­stift auf ih­rem Block, das ging auch im Lie­gen und soll­te Lind­grens be­vor­zug­te Krea­tiv­hal­tung wer­den. Mit Pip­pi wehrt sie sich ge­gen Kriegs­ge­walt und Hit­ler­angst, in­dem sie ih­re Hel­din über den bru­ta­len Schlä­ger­ben­no und den ty­ran­ni­schen Zir­kus­di­rek­tor tri­um­phie­ren lässt. In­spi­riert hat sie auch die po­pu­lä­re Co­mic­fi­gur Su­per­man, wor­auf An­der­sens Ar­chiv­ent­de­ckun­gen hinweisen.

Pünkt­lich zum 10. Ge­burts­tag ih­rer Toch­ter Ka­rin hat Lind­gren die Ur-Pip­pi fer­tig ge­stellt. Ge­druckt wird sie erst ein Jahr spä­ter. Zu­vor er­scheint Britt-Ma­ri er­leich­tert ihr Herz, ein heu­te we­nig be­kann­tes Mäd­chen­buch, das je­doch ih­re Kar­rie­re ins Rol­len bringt. Die auf dem schwe­di­schen Kin­der­buch­sek­tor ein­fluss­rei­che El­sa Oleni­us wird zur För­de­rin und Freun­din der Au­torin. Trotz die­ser Un­ter­stüt­zung lehnt das füh­ren­de schwe­di­sche Ver­lags­haus Bon­niers das Buch ab. Aus­ge­rech­net der Ver­lags­lei­ter fin­det es zu an­spruchs­voll. So wird Pip­pi wie schon Britt-Ma­ri un­ter ho­hem fi­nan­zi­el­len Ri­si­ko bei Ravén&Sjögren ver­öf­fent­licht. Zu­dem bie­tet ihr der Ver­lag nach Oleni­us’ Für­spra­che ei­ne Stel­lung als Lek­to­rin an, die die vor kur­zem ge­schie­de­ne Lind­gren ger­ne an­nimmt. Vor­mit­tags ar­bei­tet sie nun an ih­ren ei­ge­nen Tex­ten, nach­mit­tags an de­nen der Kollegen.

Die Wer­ke Lind­grens schil­dert An­der­sen ne­ben Pri­va­tem bei­na­he bei­läu­fig. Dies wun­dert nicht bei der enor­men Pro­duk­ti­ons­dich­te, al­lei­ne in den Fünf­zi­gern er­scheint jähr­lich ein neu­er Ti­tel. Ein­zel­ne Wer­ke stellt der Bio­graph al­ler­dings her­aus und öff­net durch sie Ein­bli­cke in die „Bul­ler­bü-Kind­heit“ der Au­torin oder be­tont ih­re li­te­ra­ri­sche Ent­wick­lung. An­der­sen stellt stets den Be­zug zum Le­ben As­trid Lind­grens her. In Mio, mein Mio schreibt die Au­torin über das Leid des ein­sa­men Kin­des und ver­ar­bei­tet so, laut An­der­sen, den Tren­nungs­schmerz, den die ers­ten Le­bens­jah­re Las­ses in ihm und in ihr hin­ter­las­sen ha­ben. Ei­ne Er­fah­rung, die auch spä­ter bei ihr Me­lan­cho­lie und Angst er­zeugt. Ihr Mit­tel da­ge­gen ist das Schreiben.

Ne­ben ei­ge­nen Bü­chern lie­fert sie ih­rem Ver­lag auch Tex­te für Fo­to­bän­de und Bil­der­bü­cher. Er­wäh­nens­wert ist Tom­te Tum­me­tott, Ha­rald Wi­bergs zeich­ne­ri­sche Ge­stal­tung des in Schwe­den sehr be­kann­ten Ge­dichts Tom­ten von Vik­tor Ryd­berg. Auf Ver­le­ger­wunsch soll das Bil­der­buch ei­ne Pro­sa­fas­sung des Ge­dichts er­hal­ten, die Lind­gren über­nimmt. Ih­ren Na­me fin­det man als al­lei­ni­ge Au­toren­an­ga­be, Wi­berg er­scheint le­dig­lich klein­ge­druckt und auf den Na­men Ryd­berg wird voll­kom­men ver­zich­tet. Das mag der ver­kaufs­för­dern­den Be­rühmt­heit Lind­grens ge­schul­det sein, ver­blüfft aber an­ge­sichts ih­res Ge­rech­tig­keits­ide­als. Man muss es ihr nach­se­hen im Hin­blick dar­auf, wel­che Rol­le ihr Werk bei der Auf­klä­rung und Durch­set­zung der Be­dürf­nis­se und der Rech­te von Kin­dern einnimmt.

Trotz kri­ti­scher Stim­men, die Pip­pi krank­haf­tes Ver­hal­ten at­tes­tier­ten, die Scher­ze ge­schmack­los fan­den oder das Schick­sal der Brü­der Lö­wen­herz für Kin­der un­zu­mut­bar, er­hielt Lind­gren von vie­len Kin­der­psy­cho­lo­gen Bei­fall. Ih­rer Kunst blieb sie stets treu, po­li­ti­sche Kor­rekt­heit lag ihr fern, sie leis­te­te mit ih­rer Li­te­ra­tur Wi­der­stand ge­gen Ver­hält­nis­se, die ihr nicht gefielen.

So auch mit Pom­pe­ri­pos­sa in Mo­nis­ma­ni­en, ein „Mär­chen“ mit dem sie als es 1976 kurz vor den schwe­di­schen Par­la­ments­wah­len im Ex­pres­sen er­scheint in die po­li­ti­sche De­bat­te ein­greift. Mit ge­wich­ti­ger Stim­me wehrt sich die 69-jäh­ri­ge Au­torin ge­gen die Fi­nanz­po­li­tik der so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Re­gie­rung. Ihr Motiv:

Ich ha­be Angst vor Geld, ich will kein Geld, ich will nicht ei­ne Men­ge Din­ge und Ei­gen­tum, ich will nicht die Macht, die Geld ver­lei­hen kann, denn sie ver­dirbt bei­na­he eben­so sehr wie po­li­ti­sche Macht. Aber ich fin­de, dass nie­mand, wer auch im­mer es sein mag, ge­zwun­gen sein soll­te zu steh­len, um das Geld für die Steu­er zusammenzukratzen.“

 Selbst­be­wusst und un­beug­sam zeigt sie sich auch bei der Ver­lei­hung des Frie­dens­prei­ses des Deut­schen Buch­han­dels im Jahr 1978. Nach­dem das Ko­mi­tee auf ih­re ein­ge­sand­te Dan­kes­re­de ant­wor­tet, sie mö­ge sich nur „kurz und gut“ be­dan­ken, droht sie nicht zu er­schei­nen und ei­nen Bot­schafts­mit­ar­bei­ter zu sen­den, der sich „kurz und gut“ be­dan­ke. Die Her­ren len­ken ein und As­trid Lind­grens Re­de Nie­mals Ge­walt! wird ein gro­ßer Erfolg.

Ih­re letz­ten ak­ti­ven Jah­re ver­bringt die Au­torin oft auf der Schä­ren­in­sel Fu­ru­sund. Sie liebt die Ru­he in der Na­tur und schätzt wie Tho­reau die Ein­sam­keit, des­sen Wal­den ent­lehnt sie fol­gen­den Ge­dan­ken. „Ich bin un­end­lich gern al­lein. Noch nie fand ich ei­nen Ge­sell­schaf­ter, der so ge­sel­lig war wie die Ein­sam­keit. Wir sind meist ein­sa­mer, wenn wir un­ter Men­schen ge­hen, statt in un­se­rem Zim­mer zu blei­ben. Der den­ken­de und ar­bei­ten­de Mensch ist im­mer al­lein, sei er, wo er wolle.“

Jens An­der­sen er­in­nert ein­fühl­sam und zi­ta­ten­reich an die be­rühm­te Au­torin. Der Bio­gra­phie sind zahl­rei­che Ab­bil­dung und ne­ben Werk- und Quel­len­ver­zeich­nis ein Per­so­nen­re­gis­ter zugefügt.

Jens Andersen, Astrid Lindgren. Ihr Leben, Deutsche Verlags-Anstalt, 1. Aufl. 2015

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