Über die Schwierigkeit Auschwitz mitzuteilen — Monika Helds neuer Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“
„Wie die Welt wohl aussähe, wenn man Erfahrungen als Infusion übertragen könnte“, diese Frage stellt sich Lena, die seit über einem Vierteljahrhundert mit Heiner, einem Auschwitzüberlebenden, verheiratet ist. Kennengelernt haben sie sich in den sechziger Jahren in Frankfurt. Heiner, der als Zeuge im Auschwitz-Prozess auftritt, bricht im Flur des Gerichtsgebäudes zusammen, Lena fängt ihn auf. Sie ist auch in Zukunft für ihn da, sie bleiben zusammen. Ein Paar, das nicht nur zehn Jahre Altersunterschied trennt, sondern auch die fundamentale Erfahrung des Lagers. Lena, die Polnisch-Übersetzerin und Dolmetscherin, ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Sie lebt in Frankfurt, aufgewachsen ist sie in Zürich, nachdem die Familie in den dreißiger Jahren aus Danzig geflohen war. Zurück blieb ihre Kinderfrau Olga, die Sehnsucht nach ihr weckte in Lena den Wunsch Polnisch zu lernen. Die erste Weiche zu ihrem Beruf, zur Teilnahme am Prozess und zur Begegnung mit Heiner, legte die nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Diese bedingt folglich auf fatale Weise den Beginn ihrer Beziehung. Zugleich wird sie auch zur Kernfrage des Paars, zum Drehpunkt ihrer Verständigung und Abgrenzung.
Vor der Begegnung mit Lena lesen wir, wie Heiner im Gerichtssaal die Konfrontation mit den Tätern erlebt. Er erträgt es kaum ihnen gegenüber zu stehen oder ihre Blicke im Rücken zu spüren. Alle Erinnerungen, die er seit Auschwitz nie mehr vergessen kann, potenzieren sich. Damals hatte er sich vorgenommen Zeuge zu sein, alle Beobachtungen in seinem Gedächtnis festzuhalten, um später vor Gericht gegen die Mörder und Folterer auszusagen. Dies war sein Überlebenselixier. Seit seiner Jugend ist Heiner Kommunist, er geriet schnell ins Visier der Wiener Gestapo, und nachdem er an der Front verletzt wurde, kommt er als politischer Gefangener ins Lager. R.U. Rückkehr unerwünscht zeigt der Eintrag in seinem Ausweis. Doch ein Bekannter erlöst ihn vom todbringenden Straßenbautrupp und verschafft ihm eine Arbeit an der Schreibmaschine. Er tippt im Akkord Todesanzeigen, die oftmals dem Ereignis voraus, aber nie überflüssig waren.
Im Lager beobachtet er als Teilnehmer oder versteckt auf dem verbotenen Dachboden die Taten der Peiniger. Abgespeichert in seinem inneren Archiv werden sie zu Begleitern seines weiteren Lebens. Auch nach der Befreiung und trotz Therapien verlassen sie ihn ebenso wenig wie sein Senfglas voller Sand und Knochen, Auschwitz-Souvenir und Memento mori zugleich.
Wie es sich anfühlt nach dem Überleben dieser Erfahrungen weiter zu leben, davon handelt dieses Buch. Aber auch davon, wie man mit einem Überlebenden leben kann. Lassen sich die Erlebnisse in der Lagerhaft, die Gräueltaten und Morde erfahrbar machen und teilen? Monika Held zeigt, wie ihre Figur Lena damit umgeht. Wie tief geht Anteilnahme? Kann eine Person, die nie Opfer in einem Vernichtungslager war, sich je in eine solche Situation hineinversetzen? Den Richtern im Prozess spricht Heiner diese Fähigkeit ab. Und auch Lena, die sich bemüht, erkennt, daß alle Erzählungen Heiners, sein Sandglas, die Begegnungen mit seinen Freunden aus dem Lager dies nicht vermögen. Bisweilen hat sie das Gefühl sich zu verlieren, immer kleiner zu werden unter dem Ballast der Erinnerung, die sie als Teil von Heiners Persönlichkeit annehmen muss.
Der Roman stellt weitere wichtige Fragen. Wie erging es den Familien, die erst Jahrzehnte nach dem Ende der Nazidiktatur von den Taten ihrer Ehemänner und Väter erfuhren? Ist derartiges wiederholbar? Können aus Kindern je wieder Menschen werden, die aus Pflichtbewusstsein quälen und morden? Darf man Opfer kritisieren, wenn sie politisch fragwürdige Positionen vertreten? Diese Fragestellungen erinnern nicht nur an die Schriften Hannah Arendts, sie beweisen angesichts der realen politische Weltlage ihre Aktualität. Leider.
Im Roman lernen Heiner und Lena mit Auschwitz und ihren Schuldgefühlen umzugehen. Heiner durch Erzählen und Erinnern, Lena durch die Akzeptanz des Schweren neben dem Banalen. Als sie beide 1981 mit einem LKW voller Hilfsgüter nach Polen fahren, begegnen sie seinen ehemaligen Kameraden aus dem Lager, die nun einer weiteren Diktatur ausgeliefert sind. Die Lagerfreunde verbindet die Liebe der Überlebenden und ihr nie versiegender Erzählstoff Auschwitz, über den sie als einzige Witze machen können. Schließlich erreichen Lena und Heiner Oswiecim/Auschwitz, wohnen im Lagerhotel, gehen auf den nun nicht mehr hochnotpeinlich gesäuberten Wegen und stellen fest, „der Schrecken verliert sich vor Ort“.
Monika Held gelingt es, die Diskrepanz zwischen traumatischen Erfahrungen und ihrer Mitteilbarkeit zum Gegenstand zwischen zwei Liebenden zu machen. Der Leser befindet sich in der Regel in der gleichen Situation wie Lena, er teilt nicht Heiners Erfahrung, folgt aber mit Grauen dessen Erinnerungen. Sie sind schwer zu ertragen, der Erzähler verschweigt nichts, es entstehen Bilder, vor denen ich lieber die Augen verschlossen hätte. Und doch bin ich Heiner und Lena mit Spannung und Interesse bis zu dem Ort gefolgt, an dem heute keine Gräueltaten mehr stattfinden, der aber stellvertretend an viele andere Schreckensorte der Welt mahnt.
Monika Held, die für ihre Arbeiten über das Kriegsrecht in Polen und die Hilfstransporte zu den Überlebenden von Auschwitz ausgezeichnet wurde, macht diese Erfahrungen zum Gegenstand ihres Romans. Die Schilderungen von Folter und Mord in Auschwitz resultieren aus Gesprächen mit den Überlebenden.
Das Nachwort schrieb die vor einem Jahr verstorbene Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Sie verfasste zusammen mit Alexander Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern“, eine psychologische Abhandlung über die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Im Roman werden weitere bekannte Psychologen aufgeführt. Viktor Frankl, selbst Auschwitzopfer, in der Geschichte begleitet er Heiner als Therapeut, Sigmund Freud, C. G. Jung, Erich Fromm, Melanie Klein, Sandor Ferenczi.
Folgende literarische und wissenschaftliche Werke werden neben zahlreichen anderen Klassikern genannt.
Elias Canetti, Masse und Macht, 1960
Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 — 1945, 1989
Sandor Ferenczi, Identifikation mit dem Agressor als Methode
Karl Krauss, Die Fackel, 1899–1912
Seneca, De vita beata /Vom glücklichen Leben
Theodor Storm, Der Schimmelreiter, 1888
Monika Held, Der Schrecken verliert sich vor Ort, Eichborn Verlag, 1. Aufl. 2013
Eine sehr gelungene Rezension, die spannende Fragen aufwirft und mir das Buch noch ein Stück näher bringt. Ich beschäftige mich ja relativ viel mit der literarischen Verarbeitung der Auschwitz-Erfahrung, vor allem der Standpunkt der nachfolgenden Generationen interessiert mich dabei, und genau das scheint ja auch der Kern dieses Romans zu sein: Wie kann man diese Erfahrung teilen, sie erfahrbar machen auch für diejenigen, die keinen direkten Bezug zu ihr haben? Wie kann man von ihr erzählen, sie darstellen? Ist sie überhaupt darstellbar? Fragen, denen auch der beeindruckendste Roman, den ich jemals gelesen habe, nachgeht, David Grossmans Stichwort: Liebe. Interessant, dass auch heute, fast 70 Jahre nach Kriegsende, noch immer keine abschließenden Antworten gefunden sind und dass noch immer eine Fülle an Büchern erscheint, die sich diesem Thema auf immer wieder überraschende Weise widmen. Ein Thema, das nie auserzählt sein wird.
Das Thema kann nie beantwortet werden, da es universelle Fragen aufwirft, und nicht nur ein historisches Ereignis betreffen. Der Roman zitiert „Homo homini lupus”. Wieso sind Menschen zu derartigen Taten fähig und was macht sie zu Tätern? Sadismus, Fanatismus, Angst oder einfach Pflichterfüllung?
Ausserdem stellt Monika Held die verschiedenen Formen der Schuld dar, die der Täter, der Nachfolgegenerationen, aber auch die der Opfer, die so empfinden, weil sie überlebt haben.
Sie legt auch die Überlegung nahe, inwiefern die Täter und ihre Familien als Opfer betrachtet werden können. Und den meines Erachtens sehr wichtigen Aspekt, daß der Opferstatus niemals sakrosankt machen darf.
Ich habe am Freitagabend beim obligatorischen Ausflug in den Buchladen der Nachbarstadt vor Monika Helds Roman gestanden, konnte mich aber angesichts des Themas nicht so recht entschließen, es mitzunehmen. Die Schwere des Themas zeichnest Du nun ganz deutlich in Deiner Besprechung nach. Und die Fragen, die Du auflistet, und die die Romanhandlung wohl beleuchtet, sind ja nun wirklich auch ganz wichtige gegenwärtige Fragen. Da ich mit Elliot Perlmans „Tonspuren” einen Roman hier liegen habe, der sich auch um das Thema dreht, habe ich mich am Freitag erst einmal gegen Monika Held entschieden. Aber mit ein bisschen Abstand und zwei, drei „leichteren, lockereren und luftigeren” Romanen, hast Du mich schon sehr neugierig gemacht, auf Helds Blick auf die Geschichte.
Monika Held will, so glaube ich, nicht die Vergangenheit erzählen, mit viel Schmuck und Beiwerk, so wie es Perlmans 700 Seiten vermuten lassen. Sie stellt Fragen und gibt auf ihren rund 250 Seiten die unerlässlichen Einblicke in das Leiden der Lagerhäftlinge. Dies aber ohne Ausschweifungen und Sentimentalitäten. Man merkt dem Buch an, daß Held viele Gespräche mit Betroffene geführt hat, und das nimmt mich auch besonders für es ein.
Ich bin gespannt, wie Du den Perlman bewerten wirst.