Bachmannpreis 2012 –TDDL –Nawrat, Senkel

Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt – Dritter Tag, Vormittag, 7.7.2012

Nach ei­ner sehr bier­phi­lo­so­phi­schen Film­vor­stel­lung er­öff­ne­te Mat­thi­as Nawrat den Vor­mit­tag des drit­ten Wett­be­werb­ta­ges. Der Kan­di­dat von Hil­de­gard Eli­sa­beth Kel­ler las den Text „Un­ter­neh­mer“. Ich-Er­zäh­le­rin ist die pu­ber­tie­ren­de Toch­ter ei­nes Elek­tro­schrott­aus­schlach­tungs­fa­mi­li­en­un­ter­neh­mens im süd­li­chen Schwarz­wald. Zu­nächst schil­dert Nawrat die pre­kä­ren, le­bens­ge­fähr­li­chen Zu­stän­de die­ser Ar­beit mit vie­len me­tall­ur­gi­schen De­tails, dann kon­zen­triert sich der Text auf die früh­sexu­el­len Kör­per­er­fah­run­gen sei­ner Figur.

Stri­gl in­ter­pre­tiert die­se merk­wür­di­ge Fa­mi­lie, die ein Klein­un­ter­neh­men der spe­zi­el­len Art be­trei­be, als Par­odie auf das Fa­mi­li­en­idyll. Ele­men­te des Schel­men­ro­mans ent­de­cke sie, wenn selbst exis­ten­ti­el­le Nie­der­la­gen glo­ri­fi­ziert wer­den. Gleich­zei­tig sei es ei­ne Pu­ber­täts­ge­schich­te. Sie wür­dig­te die be­son­de­re Spra­che die­ses süß­schmerz­haf­ten Tex­tes, der ihr gefalle.

Auch Jandl wer­tet den Text po­si­tiv. Die Spra­che sei zart, der Text ori­gi­nell, er kön­ne ans Herz gehen.

Al­len bis­he­ri­gen po­si­ti­ven Ur­tei­len kann Spin­nen fol­gen. Er fragt nach, ob es sich um ei­nen ab­ge­schlos­se­nen Text han­de­le. Denn die Dar­stel­lung der schlich­ten selt­sam be­hü­te­ten Welt von ka­put­ten Din­gen schwen­ke un­ver­mit­telt in ei­ne sehr schlich­te Pubertätsgeschichte.

Win­kels be­stä­tig­te die­sen Ein­druck. Er emp­fand Un­ein­heit­lich­keit, der Text sei ver­rutscht und zu disparat.

Kel­ler er­greift das Wort um ih­ren bei­den Kol­le­gen auf die Sprün­ge zu hel­fen. (Pu­bli­kums­ap­plaus) Es gin­ge um die Rol­le des Mäd­chens in­ner­halb der Fa­mi­lie, die für die­ses Un­ter­neh­men als Fir­men­spre­che­rin fun­gie­re. Sie iden­ti­fi­zie­re sich so stark mit die­ser Auf­ga­be, daß sie auch die tech­ni­sier­te Spra­che über­neh­me. Die­se Kin­der­per­spek­ti­ve wer­de fast bis zum En­de durch­ge­hal­ten. Erst die Lie­be öff­ne ihr ein Fens­ter aus der Trost­lo­sig­keit. Ver­gleich mit John Stein­beck, Von Mäu­sen und Men­schen.

Schwie­rig­kei­ten, die Ebe­nen aus­zu­lo­ten, hat Co­rin­na Ca­duff. Sie be­kennt che­mi­sche Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, die sie durch Goog­le zu be­he­ben such­te. Toll fand sie die af­fir­ma­ti­ve Er­zähl­per­spek­ti­ve der Toch­ter. Sprach­lich sei der Text sehr in­ter­es­sant, nicht zu­letzt, weil der Au­tor ei­nen Lehr­gang in Biel be­legt ha­be. Sie be­grü­ße je­den Au­tor, der sich ei­ner li­te­ra­ri­schen Aus­bil­dung unterziehe.

Mei­ke Feß­mann hat in dem Text ei­ne mo­der­ne Va­ri­an­te von Hän­sel und Gre­tel ent­deckt. Sie wi­der­spricht der Par­odie­inter­pre­ta­ti­on Stri­gls. Als li­te­ra­ri­sche Par­al­le­le sieht sie ei­ne ins mär­chen­haft ge­wan­del­te Ago­ta Kristof.

Stri­gl weist dar­auf hin, daß die­se Fa­mi­lie, die ei­ne Ge­sund­heits­ge­fähr­dung ih­rer Mit­glie­der hin­nimmt, kei­nes­falls rea­lis­tisch ge­meint sein kön­ne. Ihr ge­fal­le die­ser Humor.

Paul Jandl kri­ti­siert Feß­manns Kris­tof-Ver­gleich. Auch Kel­lers In­ter­pre­ta­tio­nen miss­fal­len ihm.

Spin­nen kri­ti­siert zum En­de der Dis­kus­si­on noch ein mal, daß die Ge­schich­te der Fa­ve­la-Fa­mi­lie mit Kem­pow­ski-Sprü­chen nicht wei­ter ge­führt wird, son­dern in ei­ne Pu­ber­täts­ge­schich­te übergeht.

Mat­thi­as Sen­kel stell­te mit „Auf­zeich­nun­gen aus der Kur­an­stalt“ die noch feh­len­de Li­te­ra­tur­be­triebs­sa­ti­re die­ses Wett­be­werbs zur Dis­kus­si­on. No­mi­niert wur­de er von Paul Jandl.

Hu­bert Win­kels ge­fällt die klu­ge und wit­zi­ge Ge­schich­te. Die Li­te­ra­tur­be­trieb-Sa­ti­re der klas­si­schen Art sei wie ein Mö­bi­us­band kon­stru­iert. Al­les, was Au­ßen­welt sein könn­te, könn­te auch in der An­stalt ge­schrie­ben wor­den sein. So ent­ste­he die End­los­schlei­fe, in der Rea­li­tät und Phan­ta­sie ab­wech­seln. Der Pro­to­koll­stil je­doch hat Win­kels auf Dau­er ein we­nig ver­dros­sen. Er räumt al­ler­dings ein, daß die star­re Spra­che der Preis sei, da­mit die Sa­ti­re funktioniere.

Dies sei die ty­pi­sche Kla­gen­furt-Schreib­ge­schich­te, so Feß­mann. Sie ver­mis­se al­ler­dings den gu­ten Sprach­stil. Da der Sprach­witz feh­le, sei die Ge­schich­te langweilig.

Hin­ge­gen hät­te Ca­duff ger­ne mehr von Sen­kel ge­hört, aber in ei­nem 200-sei­ti­gen Ro­man. In der Idee lie­ge ganz viel Potential.

Jandl er­klärt, daß der Pro­to­koll­stil Mit­tel der Sa­ti­re sei. Dies ma­che den Witz erst deut­lich. Ge­schil­det wer­de ein pa­ra­nor­ma­ler Literaturbetrieb.

Mei­ke Feß­mann glaubt, Rein­hard Lettau hät­te ei­ne sol­che Ge­schich­te bes­ser geschrieben.

Jandl ver­wehrt sich über Rein­hard Lettau zu spre­chen. Der Stil ha­be sei­ne Be­rech­ti­gung, sei eben nur sehr subtil.

Feß­mann wirft ein, er sei sprach­lich arm. Ca­duff un­ter­stützt sie, Jandl ha­be ei­ne ganz an­de­re Lesart.

Stri­gl be­en­det den Dis­put mit der Fra­ge, war­um sie im­mer mehr von den Au­toren woll­ten als de­ren Tex­te be­inhal­ten. Die­ser sei sehr raf­fi­niert ge­macht. Die Spra­che kön­ne man dem Text nicht vor­wer­fen. Sie räumt ein, daß die Ge­schich­te al­ler­dings et­was an Fahrt verliere.

Der Text schenkt Kel­ler vie­le Aha-Ef­fek­te, ihr ge­fällt, daß er im­mer wie­der ei­ne neue Rich­tung einschlug.

In­ten­ti­on der Ge­schich­te sei es, die Künst­lich­keit von Li­te­ra­tur sicht­bar zu ma­chen und ein Nach­den­ken über die­se aus­zu­lö­sen, so Jandl.

Spin­nen hob zum Schluss­wort an, in­dem er sich wie­der ein­mal mit al­len Äu­ße­run­gen ein­ver­stan­den er­klär­te. Er lie­be zwar Tex­te über Schaf­fens­nö­te nicht, da sie sei­ne ei­ge­ne Si­tua­ti­on wie­der­spie­geln, le­se sie aber aus Be­rufs­in­ter­es­se den­noch. Es folgt ein lan­ger Ver­gleich mit ei­ner Zir­kus­vor­stel­lung, den Jandl mit der Aus­sa­ge „Ihr In­ter­es­se an In­tel­li­genz ist mir ge­läu­fig“ beendete.

Bis mor­gen die Preis­trä­ger ge­kürt wer­den, lohnt sich ein Blick auf die Au­to­ma­ti­sche Li­te­ra­tur­kri­tik der Rie­sen­ma­schi­ne.

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