Frauenliebe – Apfeltriebe

Literaturkreis 07/2010 — Spielarten des Vergessens in Katharina Hagenas Der Geschmack von Apfelkernen

Er­in­nern und Ver­ges­sen sind die Haupt­mo­ti­ve die­ser Fa­mi­li­en­ge­schich­te, die in dem idyl­li­schen, aber fik­ti­ven Ort Boots­ha­ven, in ei­nem al­ten ver­win­kel­ten Bau­ern­haus, un­ter Ap­fel­bäu­men und an ei­nem schwar­zen See spielt.

Am An­fang steht der Tod, der ak­tu­el­le der Groß­mutter Ber­tha, den die Prot­ago­nis­tin Iris in den Hei­mat­ort ih­rer Vor­fah­ren führt, der zu frü­he Tod von Bert­has Schwes­ter An­na und der erst zwölf Jah­re zu­rück­lie­gen­de ih­rer Cou­si­ne, des­sen Ur­sa­che sich dem Le­ser erst am En­de des Ro­mans erschließt.

Die Tes­ta­ments­er­öff­nung of­fen­bart Iris über­ra­schen­der­wei­se die Erb­schaft des Haus. Spon­tan be­schließt sie ei­ni­ge Ta­ge im Ort zu blei­ben. Sie quar­tiert sich not­dürf­tig in das seit ei­ni­gen Jah­ren leer ste­hen­de Haus ein und er­in­nert sich. An ih­re dor­ti­gen Fe­ri­en­auf­ent­hal­te als Kind, an die Spie­le mit ih­ren Cou­si­nen, an den Gar­ten, an des­sen Früch­te und Ge­heim­nis­se, an die vie­len Tü­ren des Hau­ses und die vie­len Ball­klei­der ih­rer Tan­ten. Als sie jetzt wie­der in die­se leicht an­ge­staub­te Pracht hin­ein­schlüpft er­wa­chen in ihr die Er­in­ne­run­gen. Zu den stärks­ten zäh­len für mich die an die letz­ten Le­bens­jah­re ih­rer Groß­mutter Ber­tha. De­ren all­mäh­li­ches Ab­glei­ten in das Ver­ges­sen und den Ver­lust ih­rer Iden­ti­tät in der De­menz be­schreibt Ha­ge­na eindrucksvoll.

Das Per­so­nal des Ro­mans ist bunt und ex­zen­trisch, über­wie­gend weib­lich, und nah am Kli­schee. Nur Iris Mut­ter Chris­ta, die Lieb­lings­toch­ter des Va­ters, führt ein an­schei­nend ru­hi­ges bür­ger­li­ches Le­ben, in das sie di­rekt nach der Be­er­di­gung zu­rück­kehrt. Ih­re bei­den Schwes­tern sind schil­lern­der ge­zeich­net. Har­riet, die der Tod ih­rer Toch­ter in den Ashram nach Poo­na treibt, und In­ga, die schön aber ihr Le­ben lang un­nah­bar bleibt. Die­se Dif­fe­renz setzt sich auch in der her­an­wach­sen­den Frau­en­ge­nera­ti­on fort. Iris, die jüngs­te, ah­nungs­los und vol­ler Be­wun­de­rung für ih­re ein Jahr äl­te­re Cou­si­ne Ros­ma­rie und de­ren Freun­din Mi­ra, die sich schwarz ge­klei­det und mit star­kem Ka­jal­strich ge­gen das Er­wach­sen­wer­den wehrt. Im glei­chen Al­ter be­fand sich auch An­na, die Schwes­ter Bert­has, als sie an Lun­gen­ent­zün­dung und ge­bro­che­nem Her­zen starb und de­ren Schick­sal mit ei­ner der drei im Ro­man ver­wo­be­nen Lie­bes­ge­schich­ten ver­bun­den ist. Zwei sind er­in­ner­te Ge­schich­te, die drit­te darf der Le­ser bis zum vor­her­seh­ba­ren Hap­py­end miterleben.

Der Ro­man ist prall vol­ler Ge­schich­ten, an die sich mal mehr mal we­ni­ger aus­führ­lich er­in­nert wird. Durch ste­te Zeit­sprün­ge, die die­ser Vor­gang nun ein­mal mit sich birgt, ent­steht ei­ne an­spruchs­vol­le Struk­tur, die Span­nung und Fi­nes­se er­zeugt, al­ler­dings hin und wie­der auch Ver­wir­rung stif­tet. Sprach­lich auf­fal­lend sind die zahl­rei­chen Auf­zäh­lun­gen, ob es sich um die Wä­sche­stü­cke, Gar­ten­blu­men oder Na­sche­rei­en han­delt. Man­che Bil­der schei­nen krumm, Spin­nen, die ih­re Net­ze auf­hän­gen, oder über­flüs­sig, der ge­scher­te Sprung über die nied­ri­ge Gartentür.

Stö­rend emp­fand ich die vie­len Kli­schees, wie beim Nackt­ba­den über­rascht zu wer­den oder vom ers­ten Sex schwan­ger zu wer­den, um nur zwei zu nennen.

Mys­te­ri­ös je­doch, und auch un­frei­wil­lig ko­misch, die Aus­wir­kun­gen von Sex auf die Blü­ten- und Frucht­bil­dung an Ap­fel­bäu­men. Ist dies ma­gi­scher Rea­lis­mus oder ein The­ma, wel­ches es für den bio­lo­gisch-dy­na­mi­schen Obst­bau noch zu ent­de­cken gilt?

Ein kunst­voll ar­ran­gier­tes Kon­strukt von Er­in­ner­tem und Er­leb­tem vol­ler Frau­en und Äpfel.

Wer mehr über die Be­zü­ge des Ro­mans er­fah­ren möch­te, dem sei das In­ter­view auf der Home­page der Au­torin empfohlen.

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