In „Die Spielerin“ erzählt Isabelle Lehn von einer Frau, die sich zurücknimmt, um nach vorne zu gelangen
„Man umschreibt sie als Frau mittleren Alters. In diese Rolle fügt sie sich ein, ihr bezeichnendes Merkmal ist ihre Durchschnittlichkeit. Man könnte sie für die Gerichtsprotokollantin halten, die lediglich den falschen Platz gewählt hat, und würde man ihr auf der Straße begegnen, dann könnte man sie leicht übersehen.
Jetzt aber sind alle Augen auf sie gerichtet. A. wirft die Blicke zurück, sie verweigert die Aussage, nun, da man ihr zuhören würde. Lieber will sie die Leerstelle bleiben, der blinde Fleck im System, den sie jahrelang dargestellt hat, und solange sie schweigt, verflüchtigt sie sich zu den Geschichten, die andere von ihr erzählen, um die Leerstelle A. zu umstellen. Es könnte kein besseres Versteck für A. geben.“
Ebenso geschickt wie die Hauptfigur in Isabelle Lehns Roman „Die Spielerin“ sich hinter ihrer Unauffälligkeit zu verstecken weiß, inszeniert die Autorin diese Camouflage. Sie erstreckt sich über den ganzen Roman und enthüllt sich noch nicht einmal auf den zweiten Blick, denn ihr Potential entwickelt diese intelligente Frau im Verborgenen. Zu Beginn des Romans der 1979 geborenen Rhetorikerin und Schriftstellerin Isabelle Lehn steht das Ende der Geschichte, das mit dem Ende des Erfolgs ihrer Figur zusammenfällt. Doch auch in dieser Situation als Angeklagte vor Gericht verhält sie sich geschickt bedeckt.
Lediglich einem Unbekannten hat sie vor ihrer Festnahme die Wahrheit offenbart. „Er soll der Einzige bleiben, der weiß, wie sie alles erzählen würde.“ Sie verbringt mit ihm eine Nacht in einem Hotel in Florenz, lussuoso e lussurioso. Ihre Identität lüftet sie durch die Kreditkarte, der steten Flucht und des ewigen Versteckens leid.
Außer dem jungen Stricher, dem niemand glauben wird, kommt im Verlauf des Romans nur noch der Journalist Jacobi durch seine Recherchen der Wahrheit nahe. Eine Figur, die zugleich als Hommage an die Quelle der authentischen Geschichte gelesen werden kann, auf die Lehn, wie sie in den Anmerkungen eröffnet, durch einen Artikel des Journalisten Sandro Mattioli stieß.
Der junge Jacobi weiß als Praktikant bei der Nachrichtenagentur, in der A. unauffällig mafiöse Strippen zieht, ebenso wie A. die Freiräume als vernachlässigter Nobody zu nutzen. Ein Verhalten, daß sie während ihrer Anfangszeit in der Sales-Abteilung der Deutschen Bank in Zürich lernt. Sie ist sich der Schwierigkeiten bewußt, die sie als junge Frau in der eitlen Welt der sich selbst überschätzenden Geschäftsmänner erwartet. Trotzdem zieht sie das skrupellose System der Banker dem grundsoliden Leben vor, das sie in ihrem niedersächsischen Heimatstädtchen erwartet. Von den nicht immer lupenreinen Geschäften der Bank in Zürich zieht es sie erst nach Moskau dann nach Shanghai zu den garantiert unsauberen der Mafia.
Das Motiv für diese Karriere liegt weniger an A.s krimineller Energie, sondern an den Barrieren, die Männerbünde gegen weibliche Konkurrenz errichten. „Tancredis Rechnung war aufgegangen: dass sie sich irgendwann an ihn wenden würde, wenn sie es nicht länger ertrug, andere an sich vorbeiziehen zu sehen.“
Wie A., nur einmal fällt der Name Angela, zur gewieften Spielerin wurde, erzählt Lehn in drei Romanteilen, ergänzt von einem Prolog und Anmerkungen. Dabei geht sie, wie die Datierungen zeigen, nicht chronologisch vor. Zudem lässt sie verschiedene personale Erzähler auftreten, darunter der Journalist Jacobi, ihr Vater, die Sales-Kollegen in Zürich sowie mehrere Beschäftigte der DNA, der Deutschen Nachrichten Agentur, die sie in den Ruin treiben wird. Auf diese Weise eröffnet Lehn unterschiedliche Sichtweisen auf ihre Protagonistin. Es gibt den entfernten Kollegen Aichinger, der A. kaum kennt und dadurch in einen beobachtenden Blick auf die Ereignisse einnimmt, den Berater Oldenbrink, dem sie wie zufällig in der Wohnanlage begegnet, woraus eine Plauderbekanntschaft beim Feierabendbier entsteht, bei der A. ihn unmerklich manipuliert. Auch das höchste Tier der DNA sowie der von A. installierte Investor kommen zu Wort. Gemeinsam ist diesen Männern nicht nur der Bezug zur Agentur, sondern ihr problematisches aus Kindheits- wie Beziehungserfahrungen kreiertes Frauenbild. Und dann gibt es auch noch ein „Wir“, dessen Bedeutung als Stimme der mächtigen Famiglia erst allmählich aus dem Verborgenen tritt.
Ziemlich zu Beginn fällt ein Satz, der die Situation beim Lesen dieses komplexen Romans erfasst: „Man muss die losen Fäden gut festhalten, um auch den Rest des Knäuels zu entwirren. Mehr als das Ende hat man nicht in der Hand (…)“. Doch gerade dies macht „Die Spielerin“ zu einer spannenden Lektüre, die noch dazu lehrreich ist, ob dies nun die Finessen des Investmentbankings angeht oder die der Patriarchalen Strukturen und des immer noch herrschenden Sexismus.
Nicht nur die organisierte Kriminalität und ihre Verflechtung mit dem Bankenwesen thematisiert Isabelle Lehn in ihrem Roman. Im Vordergrund steht die Selbstermächtigung einer Frau, die machistische Machtstrukturen mit deren ureigenen Waffen, wenn auch nicht schlägt, so doch erfolgreich unterwandert. A. verkörpert die grandiose Schauspielerin, die jeden Mann täuscht, indem sie seine Vorurteile erfüllt, so daß dieser, selbst wenn er sie beim Gegenteil erwischt, sicher ist, sich getäuscht zu haben.
„(…) nun war sie es, die einen Anruf erhielt. Sie griff in ihre Handtasche und blickte auf das Display, ohne ihr altes Nokia herauszuholen. „Da muss ich kurz rangehen“, sagte sie und rutschte vom Barhocker. „Kein Problem!“, rief Oldenbrink ihr hinterher, während A. zum Telefonieren vor die Tür ging. Auch das wunderte ihn nicht im Geringsten. Denn wie alle Menschen, die nur selten einen Anruf mit dem Handy erhalten, würde auch A. sich immer noch dafür schämen, in der Gegenwart Dritter zu sprechen. Er sah nach draußen, wo sie rauchte und entschieden den Kopf schüttelte. Wer rief eine Hilfskraft um diese Zeit an? Vermutlich Familie, dachte Oldenbrink, während ihre Blicke sich trafen. A. wirkte verärgert, sie drehte sich weg, und hätte er es nicht besser gewusst, er hätte schwören können, dass auch sie ein Blackberry in der Hand hielt. Bei diesem Gedanken musste er lachen.“
Isabelle Lehn, Die Spielerin, S. Fischer Verlag 2024