Flug durch die Zitatenfülle

Hervé Le Tellier trifft in „Die Anomalie“ fast jeden Geschmack

Was ist die­ses Buch? Ein Sci­ence-Fic­tion-Ro­man, der die Erd­be­völ­ke­rung als Ho­lo­gramm ent­larvt? Ein Best­sel­ler, der mit ge­nia­lem Gen­re­mix den Main­stream­ge­schmack trifft? Oder ein Werk der Grup­pe OuLi­Po, de­ren Au­toren sich ex­pe­ri­men­tel­ler Li­te­ra­tur wid­men und bei­spiels­wei­se Ro­ma­ne oh­ne E ver­fas­sen? Viel­leicht ist „Die An­oma­lie“ al­les zu­sam­men. Der neue Ro­man von Her­vé Le Tel­lier wur­de 2020 mit dem Prix Gon­court aus­ge­zeich­net und seit sei­ner Über­set­zung durch Ro­my und Jür­gen Rit­te in Li­te­ra­tur­sen­dun­gen wie im Feuil­le­ton eher rauf als run­ter diskutiert.

Der In­halt lässt sich an sei­ner Kon­struk­ti­on kurz um­rei­ßen. In Teil Eins stellt Le Tel­lier die Fi­gu­ren vor, die ne­ben zahl­rei­chen wei­te­ren die Haupt­rol­len in sei­nem Ro­man spie­len. Die un­ter­schied­li­chen Cha­rak­te­re sind in­so­fern in­ter­es­sant, als sie un­ter­schied­li­che Le­ser­vor­lie­ben er­fül­len. Das Ge­schäft ei­nes kalt­blü­ti­gen Auf­trags­kil­lers reiht sich an ei­nen Auf­stieg durch Bil­dung und na­tür­lich darf auch die Lie­be nicht feh­len. Die­se tritt in üb­li­chen Va­ria­tio­nen auf. Die jun­ge, schö­ne, selbst­be­wuss­te, aber in schwie­ri­gen Um­stän­den le­ben­de Frau mit dem al­ten, we­ni­ger schö­nen, da­für wohl­ha­ben­den Mann gibt es eben­so wie die bei­den ver­kopf­ten Wis­sen­schaft­ler, die ih­re Ge­füh­le, vor al­lem die für­ein­an­der, noch ent­de­cken müs­sen. Al­le Prot­ago­nis­ten sind als Pas­sa­gie­re ei­nes Flug­zeugs oder als Wis­sen­schaft­ler von der An­oma­lie be­trof­fen, die sich als Wen­de­punkt ih­res Le­bens er­wei­sen wird. Ein elek­tro­ma­gne­ti­scher Wir­bel­sturm trifft im März 2021 ei­ne Boe­ing auf ih­rem Weg von Pa­ris nach New York. Das Flug­zeug über­steht die Tur­bu­lenz und lan­det un­be­scha­det. Doch drei Mo­na­te spä­ter, im Ju­ni 2021, ist das­sel­be Flug­zeug mit den­sel­ben Pas­sa­gie­ren auf der­sel­ben Rou­te un­ter­wegs, ei­ne höchst un­wahr­schein­li­che Kon­se­quenz. Die Ma­schi­ne mit­samt Men­schen hat sich ver­dop­pelt. Wie der Staat, die Si­cher­heits­be­hör­den und Me­di­en zu­nächst da­mit um­ge­hen, zeigt Le Tel­lier im zwei­ten Teil. Er schil­dert die po­li­ti­schen, phi­lo­so­phi­schen und psy­cho­lo­gi­schen Maß­nah­men der USA. Das FBI wird eben­so auf­ge­fah­ren, wie Wis­sen­schaft­ler, die ver­meint­lich plan­voll und den­noch kopf­los nach der Ur­sa­che su­chen. Der Prä­si­dent spielt als „ein fet­ter Barsch mit blon­der Pe­rü­cke“ zum Amü­se­ment der Le­se­rin­nen sei­ne ge­wohnt tum­be Rol­le. Im ab­schlie­ßen­den drit­ten Roman­teil tref­fen die prag­ma­tisch als Marchs und Ju­nes ka­te­go­ri­sier­ten Dop­pel­gän­ger auf­ein­an­der. Die­se Men­schen, die auch vor der An­oma­lie kein li­nea­res Le­ben führ­ten, son­dern durch ver­schie­de­ne Ebe­nen tau­mel­ten, ste­hen plötz­lich vor der Ma­ni­fes­ta­ti­on ih­res Al­ter Egos.

Die­ser stark kon­stru­ier­te Ro­man ist vol­ler Zi­ta­te, ein Prin­zip, das die OuLiPo’sche Selbst-Vor­ga­be des Au­tors sein mag. So ver­weist der Ti­tel des zwei­te Roman­teils, „Das Le­ben ist ein Traum, heißt es“ an das Haupt­werk des spa­ni­schen Dich­ters Pe­dro Cal­derón de la Bar­ca. Der Ro­man scheint mit dop­pel­bö­di­gen Dop­pel­gän­gern an­ge­füllt. Li­te­ra­tur- und Film­kun­di­ge wer­den noch wei­te­re schö­ne Blü­ten auf die­ser Wie­se pflü­cken. „Al­le ru­hi­gen Flü­ge sind ein­an­der ähn­lich. Je­der tur­bu­len­te Flug ist es auf sei­ne Wei­se“ er­kennt je­der als Ver­weis auf An­na Ka­re­ni­na, die Ken­ner Le Tel­liers den­ken auch an des­sen Ro­man „All‘ die glück­li­chen Fa­mi­li­en“. Noch knal­li­ger zi­tiert er be­rühm­te OuLi­Poe­ten wie Italo Cal­vi­no mit „Wenn 243 Rei­sen­de in ei­ner Win­ter­nacht“.

Das kann zur Le­se­freu­de bei­tra­gen. Bei mir ließ die­se im Ver­lauf des Ro­mans merk­lich nach. Dem wie ein Epi­so­den­ro­man an­ge­leg­te Be­ginn mit sei­nen un­ter­schied­li­chen Er­zähl­per­spek­ti­ven folg­te ich ger­ne. Die Schil­de­run­gen des Um­gangs mit dem au­ßer­ge­wöhn­li­chen Vor­komm­nis, die Or­ga­ni­sa­ti­ons­pro­ble­me und tech­no-phi­lo­so­phi­schen Theo­rien ver­lang­ten al­ler­dings län­ge­ren Atem. Im letz­ten Teil lös­te der Ro­man mei­ne Er­war­tun­gen über­haupt nicht mehr ein. Die in­ter­es­san­te Fra­ge, wie ge­hen Men­schen mit ih­rer Ver­dop­pe­lung um, bleibt an der Ober­flä­che. Le Tel­lier er­zählt von Dop­pel­gän­gern, nicht von ei­nem du­pli­zier­ten Ich mit iden­ti­schen Träu­men, Ge­füh­len, Wün­schen und Un­zu­läng­lich­kei­ten. Die zeit­li­che Dif­fe­renz von drei Mo­na­ten führt zu rein „bio­lo­gi­schen“ Un­ter­schie­den — ge­schwän­gert, ge­stor­ben und „auf­er­stan­den“. Der Sohn der Al­lein­er­zie­hen­den ist plötz­lich mit zwei Müt­tern ge­seg­net. Der Schrift­stel­ler, der sich zwi­schen März und Ju­ni tö­tet, fühlt sich le­ben­dig wie nie. Der Kil­ler löst das Pro­blem mit ge­wohn­ten Mit­teln. Das mag auf man­chen amü­sant wir­ken, mir er­scheint es als Kli­schee. Wie es im In­ne­ren sei­ner Fi­gu­ren aus­sieht, lässt Tel­lier of­fen. So wir­ken die Ver­dop­pel­ten lei­der nur wie zwei Schau­spie­ler, die die glei­che Rol­le spielen.

Hervé Le Tellier, Die Anomalie, übers. V. Romy u. Jürgen Ritte, Rowohlt 2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert