Von der Macht der Geräusche — Bd. 3,1
Der in Madame de Guermantes verliebte junge Erzähler erinnert sich an Saint-Loups freundschaftliche Zuneigung. Als ihr Neffe könnte er ihm das Tor zu ihrer Welt öffnen. Marcel beschließt Saint-Loup in seiner Garnison zu besuchen. Diese liegt in Doncières, einem Festungsstädtchen nicht allzuweit von Paris entfernt. Es wäre dem Erzähler leicht möglich, am Abend wieder nach Hause zurück zu kehren, um nicht in einem fremden Bett schlafen zu müssen. Trotzdem plant er einen Hotelaufenthalt und beschwört so sein in Combray geprägtes Gute-Nacht-Drama herauf.
Robert de Saint-Loup ist freudig überrascht, als Marcel ihn in der Kavalleriekaserne aufsucht. Sein Dienst erlaubt es ihm jedoch nicht, Marcel bei seinem ersten Abend im Hotel Gesellschaft zu leisten wie dieser es sich erhofft hat. Dem empathischen Saint-Loup ist der Zustand seines Freundes bewusst. Es reicht nicht dessen „Gehörshyperästhesie“ durch ein stilles Hotel mit gediegener Einrichtung zu beruhigen, auch die Empfehlung einer fesselnden Lektüre würde die Nachtängste nicht bändigen. Doch so wie Saint-Loup einen sich aufbäumenden Gaul durch beherztes Eingreifen zu beruhigen weiß, findet er auch eine Lösung für den von Verlassenheitsängsten gequälten Freund. Er möge einfach bei ihm in der Kaserne bleiben. Dem Erzähler wird Roberts große Freundschaft bewusst und er schämt sich seiner eigennützigen Motive.
Da Saint-Loup noch eine Unterredung mit dem Rittmeister führen muss, bittet er den Freund schon einmal auf die Stube zu gehen. Dort wartet Marcel eine Weile und überlässt sich den Sinnesreizen des Raumes. Noch vor dem Eintreten gaukelt das Kaminfeuer die Anwesenheit einer Person vor, es gibt „wie unerzogene Leute unaufhörlich irgendwelche Geräusche von sich“. Die geschmackvolle Stoffbespannung der Wände bewahrt den Raum vor dem Kasernenmief, einem „gärigen Geruch wie von Graubrot“. Bücher suggerieren die Gegenwart Saint-Loups und eine Photografie von Madame de Guermantes vertreibt das letzte Unwohlsein. Selbst das Feuer wird zahm und hat sich „wie ein Tier in brennender, schweigender und treuer Erwartung hingekauert“. Genarrt durch das Ticken einer Uhr, die er nach einer Weile im Raum entdeckt, schließt der Erzähler, daß erst das Zusammenspiel von Sehen und Hören dem Geräusch einen bestimmten Ort zuweist. Es folgen Betrachtungen über die Auswirkung von künstlicher und echter Taubheit auf die Wahrnehmung der anderen Sinne.
Prousts starke Geräuschempfindlichkeit, seine „Gehörshyperästhesie“, fließt in diese später eingefügte Textpassage ein. Nach Umzug in die Rue Laurent-Pichet litt der Schriftsteller unter dem Lärm der Nachbarn und erwog verschiedene Gegenmaßnahmen von der Isolation der Wände mit Kork bis zum Verstopfen des Gehörgangs mit Elfenbeinkügelchen, den Boules Quiès. Er appellierte nicht an die Geräuschverursacher, sondern handelte defensiv, indem er seinen Körper schützte.
Solcherart die Aufmerksamkeiten auf sich zu richten, sei auch förderlich in der Liebe, „indem man ihnen als zu bezwingendes Objekt nicht das äußere Wesen, das man liebt, zuweist, sondern die eigene Fähigkeit, durch dieses Wesen zu leiden“. Es folgen einige Tipps wie die künstliche Ruhe herbeigeführt werden kann. So angenehm eine künstlich inszenierte Taubheit sein könne, zwinge jedoch die echte Taubheit zu Verhaltensänderungen, die den Grad dieser Behinderung aufzeigen. Proust führt die Funktion eines Milchkochers zur Verdeutlichung seines Gedankens an und schafft so eine der wohl schönsten Beschreibungen von überkochender Milch.
„Wer völlig taub geworden ist, kann nicht einmal neben sich Milch in einem Kocher erhitzen, ohne mit den Augen, bei geöffnetem Deckel, dem weißen, hyperboreischen, schneesturmähnlichen Reflex aufzulauern, jenem Warnsignal, dem man klüglich dadurch Rechnung trägt, daß man ‑wie der Herr der Wogen gebietet-den Stecker herauszieht; denn das aufsteigende spastische Ei der kochenden Milch ist schon dabei, mittels einiger steiler Wölbungen seinen Höchststand zu erreichen, schwillt an, bläht ein paar halb gekenterte Segel, die der Rahm faltig aufgeworfen hatte, entsendet in den Sturm noch eines aus Perlmutt, das der Stromunterbruch zusammen mit allen anderen, wenn das elektrische Unwetter rechtzeitig beschwört wird, um sich selbst kreisen und, in lose Magnolienblüten verwandelt, endgültig abdriften lassen wird.“ (Bd. 3,1,102)
In die Zeichnung seiner Figur Saint-Loup ließ Proust Züge von Comte Bertrand de Salignac-Fénelon (1878–1914) einfließen. In diesen blonden, blauäugigen, jungen Mann, der schon mal über die Tische eines Restaurants steigt um Prousts Mantel zu holen, verliebte sich Proust 1901. (Ronald Hayman)