In „Die Elefanten meines Bruders” erzählt Helmut Pöll von besonderen Abenteuern
Quicklebendige, aufgeweckte Kinder sind fester Bestandteil der Kinderbuchliteratur. Sie hüpfen neugierig durchs Leben und legen mit ihren Fragen bei Erwachsenen Wissenslücken und Nerven bloß. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga. Zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts hatte man allerdings nicht nur im fernen Schweden sondern nirgendwo nichts von ADHS gehört. Es gab für Michel keine Pillen und er ging auch nicht zu einem Therapeuten, sondern wie allseits bekannt in den Schuppen. Heute, in Zeiten des All-Over-Protecting würde es Michel mit Sicherheit ganz anders ergehen.
Vielleicht so wie dem fast 12-jährigen Billy, dem Ich-Erzähler in Helmut Pölls neuem Roman „Die Elefanten meines Bruders“. Bevor dieser jedoch mit seinen Macken rausrückt, schildert er das traumatische Erlebnis seiner frühen Kindheit. Sein Bruder Phillipp starb bei einem Verkehrsunfall. Der für jenen Abend geplante Zirkusbesuch fand nie statt. Phillipp würde den Auftritt seiner Lieblingstiere, der Elefanten, nie mehr erleben können. Seinem kleinen Bruder Billy bleiben als fassbare Erinnerung einzig die Eintrittskarten, die er wie ein Schatz hütet.
Ob dieses Erlebnis Billys Verhalten ausgelöst hat, lässt der Autor zunächst offen. Vielleicht ist dieses Anderssein einfach nur Billys besondere Individualität? Er nimmt Medikamente, die allerdings wenig helfen, wenn Billy seine Gedanken nicht mehr bändigen kann. Dann dreht er durch, läuft x‑mal um die Betonsäule bei der Tiefgarage oder mit dem Todesstern durch die Wohnung. Billy ist zudem ein Kind, das genau beobachtet, und mit Phantasie aus dem Gesehenen Geschichten formt. Diese reichert er mit einem für sein Alter erstaunlichen Filmwissen an. Seine Filmdatenbank im Kopf hält scheinbar für jede Situation die passende Szene bereit. So wundert es nicht, daß Billy eines Tages einen Mann in der U‑Bahn zunächst als Spion verdächtigt und nach zweifelsfreier Identifizierung die Polizei verständigt. Erwartungsgemäß führt dies zu Unterredungen mit den Eltern, den Polizisten und Herrn Serrano, dem enttarnten Spion. Logisch, daß diese Erwachsenen, die wenn nicht Spione, vielleicht Replikanten und auf jeden Fall vollkommen phantasielos sind, mit ihrer Fragerei Billys Überlastungs-Schalter auslösen. Dann schreit er den Rainman-Schrei, fällt in Ohnmacht oder springt über die Betten. Seine Eltern sehen das als Problem und schicken ihn zur Psychologin, dem Iguanodon. Wichtige Gespräche führt Billy allerdings lieber mit seiner Freundin Mona. Bei ihr, ihrer Mutter und dem Chamäleon Otto verbringt Billy viel Zeit. Was auch an Monas Mutter liegen mag, die trotz oder vielleicht gerade wegen Monas schwierigem pubertären Bruder Carl sichtlich entspannt auf Billys Eigenheiten reagiert. Mona und Billy sammeln die schlechten Lügen ihrer Eltern und rätseln über das seltsame Verhalten der Erwachsenen. Was sie später einmal werden wollen, wissen wie noch nicht, vielleicht Berufs-Spaziergänger oder Film-Anseher.
Pöll gelingt es gut die Eigenart des jungen Ich-Erzählers darzustellen, Billys Erlebnisse entwickeln einen gehörigen Drive. Der Erzählton ist stets humorvoll und erfüllt Unterhaltungsansprüche von Kindern wie Erwachsenen. Lediglich einige grammatikalische Unstimmigkeiten bedürfen einer nochmaligen Überarbeitung.
Die ADHS-Thematik wird zwar nicht überproblematisiert, aber für mich hätte die Geschichte auch sehr gut ohne sie funktioniert.
Ob Billy den Lego-Todesstern zu Weihnachten bekommt? Und ob Billys Eltern vor dem Zusammenbauen ein paar von Billys Pillen brauchen? Diese Fragen kann wohl nur eine Fortsetzung beantworten.